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Studien zur äe$cbicbte
d«
nien$cblicbeu 6e$cblecbt$leben$.
III.
Das Geschlechtsleben in England
Mit besonderer Beziehung auf London.
Von
Dr. Eugen Dühren
(Verfasser von „Der Marquis de Sade und seine Zeit“).
Zweiter Ceil.
Der Einfluss äusserer Tuktoren auf das DescMecbts
leben in England.
Berlin NW. 7.
M. Lilienthal Verlag.
1903.
Das Geschlechtsleben
in England
Mit besonderer Beziehung auf
London.
- Von
Dr. Eugen Dühren
(Verfasser von „Der Marquis de Sade und seine Zeit“).
„England, with all thy faults, J love
vir thee still.“ Cowper.
II.
Der €influ$$ äu$$erer Taktoren auf da$
Ge$cb]ecbt$kbcn in England.
Berliu NW. 7.
M. Lilientlial Verlag.
1903.
TP. H-(
Alle Rechte Vorbehalten.
Vorrede.
Auch der zweite Band meines Werkes über das „Ge¬
schlechtsleben in England“, den ich hiermit der Öffent¬
lichkeit übergebe, beruht durchgängig auf eingehenden
Quellenstudien durchaus origineller Natur und liefert
demgemäss ein vollkommen getreues Bild der wirklichen
englischen Zustände in der Vergangenheit und der Gegen¬
wart, so weit letztere berührt worden ist. Wenn einige
Kritiker mir Übertreibung, Willkür und Einseitigkeit in
der Behandlung des Themas vorgeworfen haben, so muss
ich diesen Vorwurf sowohl für den ersten Band als auch
für den zweiten und den Anfang 1903 nachfolgenden
Schlussband entschieden zurückweisen. Denn das ganze
Werk ist eine Frucht ernster, ehrlicher Arbeit,
allseitiger und kritischer Benutzung des Quellen¬
materials. Ich habe niemals mich auf einen Autor ver¬
lassen, sondern stets mehrere für die Feststellung einer
bestimmten Thatsache herangezogen und, wo es anging,
persönlich reden lassen. Auch wird der Leser bald er¬
kennen, dass ich die englischen Autoren als Quellen
für die Darstellung stets in den Vordergrund gestellt
habe, um dem Werke die Objectivität möglichst zu sichern.
Aber auch Männer wie v. Archenholtz, Adrian,
V. Schütz, J. C. Hüttner u. A., die selbst von der
englischen Kritik als unbefangene Beobachter des Landes
und Volkes anerkannt werden, können nicht einfach als
Anekdotensammler bezeichnet werden. Ein längerer
Aufenthalt in London hat mir keine Veranlassung gegeben^
etwas Wesentliches im Inhalte des ersten Bandes zu
corrigiren. Wie ein Autor gar noch mit dem Vorwurfe
kommen kann, mein Werk sei eine „pikante Lektüre für
Lebemänner“, ist mir völlig unerfindlich. Diesem etwas
vorschnellen Kecensenten mache ich an dieser Stelle be¬
greiflich, dass ein ernstes, kulturgeschichtliches Werk,
in dem ehrliche Arbeit, eine sittliche und wissenschaftliche
Tendenz steckt, niemals ein Lebemannsgericht sein kann.
In welchem Buche finden sich so ausführliche Darstellungen
der verschiedenen Arten, Methoden und Eaffinements des
Beischlafes wie im 16. Kapitel „Das Weib im Geschlechts¬
verkehr“ des berühmten Werkes von Floss (weiland Arzt
in Leipzig) und Bartels (Geheimer Sanitätsrat in Berlin)
„Das Weib in der Natur- und Völkerkunde“? Und
doch wird Niemand, obgleich dieses eine Kapitel die
sämmtlichen drei Bände meines „Geschlechtsleben in
England“ in Beziehung auf „Pikanterie“ aufwiegt, jenes
epochemachende und oft aufgelegte Werk als geistige
Nahrung f ür Lebemänner bezeichnen . Oder sollte etwa dafür
der Grund geltend gemacht werden, dass es von Lebemännern
— gekauft wird? Was kaufen und lesen die nicht?
Sogar auch meine Pseudonymität hat man mir vor¬
geworfen, obgleich ich niemals bestrebt war, dieselbe
streng zu wahren und Jedermann sich leicht davon über¬
zeugen kann, wer der mysteriöse Autor des „Marquis de
Sade‘‘ ist. Wenn ich ein Pseudonym wählte, so wollte
ich damit nur ausdrücken, dass ich als Arzt ein dem
rein medicinischen fremdes Gebiet betreten habe, das
kulturgeschichtliche, ebenso wie der Jurist seine
nichtjuristisclien Schriften, Kinder seiner freien Müsse,
unter anderem Namen herausgiebt, wie sich auch aus
allen anderen Berufsarten Beispiele dafür in grosser Zahl
anführen lassen.
Solche unwürdigen Angriffe, meistens Ausflüsse sehr
unedler Kegungen, werden mich nicht einen Augenblick
in der Unabhängigkeit und Freiheit meines literarischen
Schaffens stören.
Berlin W., den 30. Oktober 1902.
Der Verfasser.
Inhaltsübersicht.
Zweites Buch.
Der €inflH$$ äu$$erer l^aktoren
auf da$
6e$cl)lecl)t$kben in England.
Drittes Kapitel.
Die vornebme 6e$e1l$cbdft
(Das „Rigft Cife“) .....
1. Die Restauration .
Anteil Englands an der Bildung der modernen vor¬
nehmen Gesellschaft; Der Begriff des „High Life“; Der
Begriff des „Gentleman“; Der Sport; Entstehung der modernen
englischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert; Charakter
der Restaurationsepoche; Ausprägung desselben in der
Philosophie; Der Hof Karls II.; Grammont’s Me¬
moiren; Ihre Stellung in der geschichtlichen Litteratur;
Ihr Verfasser Anthony von Hamilton; Die Person-
Seite :
1—210
3-87
II
lichkeit des Königs; Die Damen am Hofe Karls II.;
Ihre schamlose Prostitution; Lady Castlemaine; Die
Herzogin von Portsmouth; Nell Gwynn; Miss
Steward; Miss Hamilton; Die übrigen Schönheiten;
Die Cavaliere; Der Chevalier de Grammont; Der
Herzog von York; Der Earl of Kochester; Der Herzog
von Buckingham; Henry Sidney, Jermyn u. A.;
Schilderung der Galanterien und Vergnügungen ; Corruption
des Volkes.
2. Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. . .
Zustand der Gesellschaft um 1700; Die Francophilie;
Die Franzosen in England und die Engländer in Frank¬
reich; Horace Walpole; Die Sentimentalität; Sterne
und Richardson; Die Sentimentalität in der Garten¬
kunst; William Kent; Die grossen Parks; Englisches
Landleben; Die Bäder; Bath und Tunbridge Wells
als Plätze der Galanterie; Brighton; Charakter der
Lebe'welt im 18. Jahrhundert; Die „Demi-reps‘‘'; Hof-
hordelle; Die Maskenbälle; Ben Jo nson ’s „Masken¬
spiele“; Verhalten des Pöbels bei den aristokratischen
Bällen; Die Bälle in „Almack’s“; Madame Cornelys’
berühmte Maskeraden; Das Pharao-Spiel in der vornehmen
Demimonde; Berühmte Couitisanen; Miss Bellamy;
Ihre Memoiren ; Ihr Verhältnis mit Fox; Kitty Fisher
und Fanny Murray, Lucy Cooper u. A.; MissRay’s
Ermordung durch den Prediger Ha ckm an ; Die Theater¬
welt; Sexuelle Freiheit der Theaterdamen im 18. Jahr¬
hundert; Beispiele; Mrs. Bi Hing ton; Mrs. Abington;
Mrs. Curtis’ Vorlesungen in Dr. Grab am ’s [Tempel;
Mrs. Harlowe’s Liebe zu Greisen; Harriet Wilson
und ihre Memoiren; Mrs. Siddons; Conditoreien als
Orte der Reridez-vous; Die Abendgesellschaften (Routs);
Der britische Don Juanismus; Der Typus des
,,Lovelace“; Leben der Junggesellen; Häufigkeit der
Selbstmorde unter den vornehmen Wüstlingen ; Berühmte
Don Juans; George Selwyn; Charakter und Verkehr;
Seine „Mie-Mie“; „Old Q“; Sein Haus in Piccadilly;
Seite
3—87
87—193
III
Thackeray über ilni; Seine Galanterien; Spielt eine
grosse Rolle in den erotischen Novellen; Die adlige und
die bürgerliche Gruppe der Don Juans; Lord Pembroke;
Der „britische Don Juan“ (Edward Wortley Montague);
Lord Baltimore; Charles Fox; Selwyn und Samuel
Foote im Bordell der Hayes; S. Foote, Tracey,
Derrick, G. A. Stevens; Lord Byron; Geschichte
seiner Ehe; Har riet Beecher-Stowe als Verleumderin
Byron’s; Seine angeblichen sexuellen Ausschweifungen;
Ein ihm zugeschriebenes obscönes Gedicht; Gegenwärtiger
Zustand der englischen Gesellschaft.
» •
3. Lady Emma Hamilton .
Der verkörperte Typus der englischen Schönheit;
Ihre Jugend; Ihre Erscheinung; Emma in Dr. Graham’ s
,, Tempel der Gesundheit“; Ihre Beziehungen zum Maler
Romney; Zu Sir Charles Greville; Zu Sir William
Hamilton; Emma am Hofe in Neapel; Ihr Verhältnis
zur Königin Karoline von Neapel; Zu Nelson; Letzte
Jahre; Erfinderin der „plastischen Attitüden“; Zur Ge¬
schichte der mimisch-plastischen Darstellungen.
Viertes Kapitel.
Die moae .
Allgemeines über die Beziehungen der Mode zum
Sexualleben; Besonderheiten der englischen Mode in älterer
Zeit; Französische Einflüsse; Seidene Kleider im 13.
Jahrhundert; Die „Kleiderschwänze“; Luxus zur Zeit
Richards 11. ; Effemination der Männer; Die „Scham¬
kapsel“ der Männer; Luxus der elisabethanischen Periode;
Seltenheit der Hemden, Kostüme der Tudor- und Stuart¬
epoche; Die 27 Anzüge des Herzogs von Buckingham;
Nuditäten unter Karl 11. ; Schriften gegen die Freiheit
der weiblichen Kleidung; Tragen von Muffen durch Männer;
Künstlichkeit und häufiger Wechsel der Moden im 18.
Jahrhundert; Die Modebazare; Old und New Bondstreet
mit ihren Modeläden ; Das „shopping“ ; Läden von Oakley
und P r i c h a r d ; Ladenmädchen und Ladendiener;
Seite
87-193
193—210
211—260
IV
Galanterie der Modistinnen ; Luxus ; Mrs. Abington
erteilt Rat in Modesachen; Corrumpirender Einfluss des
Luxus; Haartracht; Bei den angelsächsischen Frauen;
Im 18. Jahrhundert; Die „Head - Dresses“ ; Die Perrücke;
Der Chignonhändler in Bishopgatestreet; Englische Damen¬
hüte des 18. Jahrhunderts; Der „Ranelagh Mob“; Die
künstlichen Busen; Die „falschen Bäuche“; Die Krinoline;
Die „hooped petticoats“ ; Die „fashion of nakedness“;
Frauenschuhe mit Maschinen; Tragsessel; Der Fächer;
Lascive Bilder auf demselben; Reiten und Fahren der
englischen Damen; Das Dandythum; Eine englische
Erfindung; Geschichte des englischen Stutzerthums; Die
Beaux; Die „Maccaronis“ oder „Jessamies“; Die
Männerkleidung im 18. Jahrhundert; Effemination der
Männer; Die „pretty fellows“; Fleischfarbene Tricots der
Männer; Frisieren der Männerköpfe; Die „Guineapigs“ ;
Tragen von Brillen ; Brillantbrillen der Stutzer; Galanterie
der englischen Theologen und Ärzte; Künstliche Waden
der Männer; Der „Klub der schmutzigen Hemden“;
Georg IV. und G. Brummeil als Typen des Dandy¬
tums; Barbey d’Aur e villy’s Schrift über Br um mell
und den Dandyismus; Brummell’s Toilette; Sein
Verhalten in der Gesellschaft; Sein trauriges Ende;
V. Pückler -Muskau über die Dandies; Selbständigkeit
Englands in der Mode am Beginn des 19. Jahrhunderts;
Der Frack; Rolle des früheren Prinzen von Wales
(E duard VIL); Besonderheiten der weiblichen Kleidung;
Die Busenringe.
Fünftes Kapitel.
JTpbrodi$iaca. Ho$metic4, Jlbortiv^
und Gebeimmittel .
Allgemeine Bedeutung dieser Mittel; Beziehung der¬
selben zum Kurpfuschertum; Einfluss von Speise und
Trank auf die Vita sexualis; ünmässigkeit; Praevalenz von
Fleisch- und Alkoholgenuss in England; Gastronomische
Excesse; J. J. Becher u. A. über das Fleischessen der
Engländer; Zustände um 1700; Pope’s Vorliebe für
Seite
211—260
261-335
V
Branntwein; Das Diner in Swift ’s „modischer Unter¬
haltung“; Obscöne Tischgespräche; Gastronomische und
alkoholische Excesse in der zweiten Hälfte des 18. Jahr¬
hunderts; Johnson ’s Gefrässigkeit ; Ueherhandnahme
des Branntweingenusses; Trinkergesellschaften; Das Essen
und Trinken in Bordellen und Tavernen; Der Nachttopf
bei Tische; Fleischkonsum im 19. Jahrhundert; Die Gicht
eine spezifische englische Krankheit; Trunksucht in der
Gegenwart; Grosse Beteiligung des weiblichen Geschlechts
an derselben; Fehlen des Typus der „Kellnerin“; Tem-
perance Societies“; Geringe Entwickelung des modernen
Kestaurantwesens ; Aphrodisische Nahrungsmittel; Georg’s
IV. Vorliebe für Trüffeln; Ingwer als Aphrodisiacum;
Liebestränke im englischen Mittelalter; Die Canthariden
in den Bordellen; Der Pinero-Balsam ; Verkaufsorte der
Aphrodisiaca; Die Dildoes; Geschichtliches über den God-
miche; Das Dildoe- Geschäft der Mrs. Philipps; Vertrieb
der Dildoes im 19. Jahrhundert; Der Truthahn als God-
miche; Dildoe-Schriften ; Kosmetica; Reinlichkeit der
Engländer; Entstehung der Bäder; Die orientalischen Bäder
in Brighton ; Kosmetica bei den Angelsachsen ; Abfälliges
Urteil von Thomas Morus und Addison über Kosmetica;
Blütezeit der Kosmetik im 18. Jahrhundert; Schminke
und Puder; Pudersteuer; Bedfords Puderszene; Hand¬
pflege; Ein Missgeschick der Bellamy; Spezialisten im
Nägelschneiden; Parfümiren der Handschuhe; Parfüme;
Praeventiv^ und Abortivmittel; Dr. Conton und
seine Erfindung; Häufigkeit der künstlichen Aborte in
London ; Innere Abortivmittel ; Pessare und Abort; Heim¬
liche Entbindungen; Erste wissenschaftliche Schrift über
das „Versehen“; „Lucina sine Concubitu“; Die venerischen
Krankheiten; Erstes Auftreten der Syphilis in England;
John Hunter’s berühmte Versuche; Grosse Verbreitung^
venerischer Leiden um 1750; Vorsichtsmassregeln der
Bördellbesitzer ; Verbreitung im 19. Jahrhundert; Hospitäler
für venerische Kranke; Rolle Englands in derVerschleppuojg
der venerischen Kranldieiten ; Abnahme derselben in der
neuesten Zeit; Berühmte Kurpfuscher; Ihr Haupt-
VI
gebiet das Sexuelle; Gescbiclitliclies über Kurpfuscherei in
England; Ausserordentliche Entwicklung im 18. Jahr¬
hundert; James Graham, der englische Ca gl io stro;
Sein „Tempel der Gesundheit“ und „sein himmlisches
Bett“; Vestina; Seine ,, Erdbäder“; Seine Vorlesungen
über Makrobiolik; Sexueller Mesmerismus; Loutherbourg;
Mainaduc’s „Wunderschule“; Die Eosenkreuzer; Ein Vor¬
läufer von Leopold Schenk; Von Schäfer Ast; Deut¬
sche Kurpfuscher in London; van Butscheil; Kurpfuscher
des 19. Jahrhunderts; St. John Long; Douglas und
Matthews; Der siebente Sohn des siebenten Sohnes;
Katterfelto; Morison und seine Pillen; Kurpfuscher
der Gegenwart; Wahrsager und Wahrsagerinnen; Schöne
Wahrsager; Mrs. Williams; die Zauberin von St. Giles;
Zuleika.
Sechstes Kapitel.
DU Tlaacllonicinie .
Ein den Engländern eigentümliches Laster; Begrün¬
dung dieser These; Ursprung von den Angelsachsen;
Verbreitung der Flagellomanie in allen Ständen und Lebens¬
altern; Allgemeine Ursachen derselben.
Allgemeines über die sexuelle Flagellation ; Litteratur
derselben; Existenz der erotischen Flagellation im Alter¬
tum; Einführung des religiösen Elementes im Mittelalter;
Flagellantismus und Disziplin sind mittelalterlichen Ur¬
sprungs; Ausbildung des Flagellationssystems durch die
christlich-germanischen Völker; Vorkommen der sexuellen
Flagellation bei Tieren.
Allgemeines über erotische Flagellation beim Menschen;
Physiologische Erklärung derselben (Bloch); Motive der¬
selben; Aesthetische Keize; Aesthetische Iledeutung des
Gesässes; Plastische Keize; Exhibitionismus der Nates;
Die „posture girls“; Coloristische Keize; Biologische Be¬
deutung derselben; Bewegungen des flagellirten Teiles als
Keiz; Die „kallipygischen Spiele“ der Alten; Das sadisti¬
sche Element bei der Flagellation; Menschen flagelliren
Tiere; Anblick des Blutes; .Unterschied zwischen antiker
Seite
261-335
336—481
VII
und cliristlicher Flagellation ; Das masochistische Element
bei der Flagellation ; Rolle des Wortzaubers; Magnetismus;
Rein religiöse Ursachen der Flagellation; Die Flagellation
als Präparativmittel; Therapeutisch-medizinische Ver¬
wendung; Als Mittel gegen Impotenz; Schilderungen von
Doppet und de Renneville; Roubaud’s Flagellations¬
maschine gegen Inpotenz; Flagellation bei Sterilität und
anderen Leiden; Als Kosmeticum; Bedeutung der Gewohn¬
heit; Einteilung der Prügel nach einem deutschen Ge¬
lehrten; Flagellationsinstrumente; Verschiedene Arten der
Ruten; Ruten in den Bordellen; Die Urtication; Linaria
Cymbalaria; Flagellation mit Blumen; Mit Asbest; Mit
Bürsten; Flagellationsmaschinen in alter und neuer Zeit;
Die elektrische Flagellation.
Die Flagellation ein Berufszweig der
Prostitution in England; Die „Governess“ ;
Die Flagellation als „Kunst“ ; Delikatesse und Raffinement
bei derselben; Prädilektionsstellen derselben; Die „obere“
und „untere“ Disciplin; Der „Cut up“ (Flagellation der
Genitalien); Merkwürdige Excentricitäten bei der Flagel¬
lation; Rolle der Kleidung; G. A. Sala darüber; Die
„Dame in Weiss“; Das Bouquet bei der Flagellation;
Als Erkennungszeichen in der flagellantistischen Prostitution;
Die „Voyeurs“; Weibliche Voyeurs; Die Flagellation meist
zwischen Mann und Weib ; Zwischen Homosexuellen ;
Beziehungen zur Päderastie; Flagellation zwischen Tribaden.
Specielle Geschichte der Flagellomanie
in England; Die grosse Neigung der englischen Frauen
zur Flagellation ; de S a d e und M i c h e 1 e t über die
Grausamkeit des Weibes; Typus der kalten englischen
Frau nach Dickens; Die Vorliebe der englischen Frauen
für die aktive Flagellation; Die „Prügel-Wittwe“; Flagel¬
lomanie der angelsächsischen Frauen; Erwähnung dieser
Neigung in Butler’ s „Hudibras“; Flagellantinnenklubs
des 18. Jahrhunderts; Der „Klub der Balgerinnen“;
Der Flagellantinnenklub in Jermyn Street; Der Fall
Brownrigg; Ein Verteidiger der Brownrigg;
Mrs. Jenkins; Die Flagellationsbordelle
VIII
des 18. und 19. Jahrhunderts; Besitzerinne n
derselben: Mrs. Collett, Mitchell, James, Emma
Lee, Philipps, Shepherd, Chalmers, Noyeau,
Jones, Betsy Burgess, Pryce; Mrs. Theresa
Berkley, die Königin ihres Berufes; Ihr Bordell und
dessen Einrichtung ; Das „Berkley Horse“; Ihre „Memoiren“;
Mary Wilson über sie ; Merkwürdiger Brief eines
Flagellomanen an die Berkley; Mrs. Sarah Potter;
Ihre Specialität; Flagellationsbordelle der letzten Zeit;
Die „Auspeitscherin“; Die modernen Massageinstitute;
Eine Einladungskarte an die „Gentlemen Flagellants“ ;
Die männlichen Flagellomanen; Drei Klassen
männlicher Liebhaber der Kute; Marlowe’s Epigramm;
„Whipping Tom“; Die „flogging cullies“; Eine Gesellschaft
aristokratischer Flagellanten; Flagellation in den
englischen Schulen; Von den meisten Schriftstellern
erwähnt; Lord Byron’s Verse darüber; Die Flagellation
in Westminster School; Dr. Busby und Dr. Vincent;
Der Dichter Shadwell über Westminster School;
Dr. K e a t e in Eton ; Flagellation an den Universitäten ;
Der Prügelbock des Dichters Steele; Flagellation
in weiblichen Boarding Schools und Pensionaten;
In den von Knaben und Mädchen gemeinsam besuchten
Schulen; „Schulmeisters kleines Diner“; Der Fall Eyre
Coote; Gegenwärtige Verbreitung der Flagellomanie in
den Londoner Schulen; In den Klöstern; Die Bute im
Haus; Zwischen Mann und Frau; Mutter und Kindern;
Stiefeltern und Stiefkindern; Herren und Diener (Page);
Die Bute im Zuchthause; Das Auspeitschen derProstituirten;
Flagellation in Armee und Marine; Im Theater; Auf Jahr¬
märkten; Bei Spielen; Die Flagellation ein beliebtes Thema
englischer Zeitschriften ; Flagellantistische Zeitungs¬
annoncen ; SamuelJohnson’s Lob der Bute ; Anthologie
der Bute; Die „Kutiade“ von George Coleman.
Zweites Buch.
Der Einfluss äusserer E aktoreu
auf das
Geschlechtsleben in England.
Dü h reu, Das Geschlechtsleben in England.**
1
Drittes Kapitel.
Die vornehme Gesellschaft
(Das „High Life^).
1. Die Restauration.
Unter den Faktoren, welche dem Gesellschaftsleben
eines Volkes zu den verschiedenen Zeiten ein bestimmtes
Gepräge geben oder jedenfalls dasselbe in einem beachtens¬
werten Masse beinflussen, ist die sogenannte „vornehme
Gesellschaft“, die „Gesellschaft“ schlechthin, in erster
Linie zu nennen. Diese Gesellschaft setzte sich in früheren
Zeiten fast nur aus den Aristokraten der Geburt zu¬
sammen und war in dieser Periode fast ganz auf das
höfische Leben beschränkt. Seit dem siebzehnten Jahr¬
hundert hat sich gewissermassen eine Demokratisierung
dieser vornehmen Gesellschaft vollzogen durch die Auf¬
nahme der Aristokraten des Reichtums und der
1*
4
Aristokraten des Geistes. Aus diesen drei Elementen
setzt sich das zusammen, was man heute mit dem Worte-
„High Life“ bezeichnet und damit schon den Ursprung
der Sache selbst andeutet.
Es war die vornehme Gesellschaft, welche zu allen
Zeiten die „Lehrerin der Sitten des Volkes“ gewesen ist,,
wie Dufour sich ausdrückt. Sie diente als Vorbild für
das Gute wie für das Böse. Ihr Beispiel corrumpiert&
oder reinigte die öffentliche Moral. Der gewöhnliche
Bürger hatte stets das Treiben der Grossen vor Augen
und ahmte sie in allen Dingen nach, um nur einen
Abglanz dieser Vornehmheit auf sich fallen zu lassen.
So hat mit Notwendigkeit zu allen Zeiten die Sitten-
losigkeit der Höfe und der Vornehmen auch die Depravation
des Volkes zur Folge gehabt. Dufour hat diese That-
sache, soweit sie Frankreich betrifft, einer wiederholten
Untersuchung gewürdigt.
Wer die Eigentümlichkeiten des Sexuallebens eine&
Volkes zu erforschen strebt, darf diesen Einfluss der
vornehmen Gesellschaft nicht übersehen. Es ist sicher
dass z. B. manche sexuelle Moden und Perversitäten
erst dnrch jene eingeführt werden. So beschuldigt
Dufour mit dem grössten Rechte die Katharina von
Medici und ihren Hof, „alle Praktiken, alle Instrumente
und alle Stimulantien der italienischen Wollust“ in
Frankreich eingeführt und popularisiert zu haben. Die¬
jenigen, welche gleich mit der Annahme einer „Perversität
aus krankhafter Anlage“ bei der Hand sind, unterschätzen
den gewaltigen Einfluss, welchen im menschlichen Ge-
*) Vgl. P. Dufour „Histoire de la Prostitution“ Bd. V
S. 179, 223, 250, 251, Bd. VI S. 174, Bd. VII S. 262.
2j ibidem Bd. V S. 251.
0
sclilechtslebeii das Beispiel und die V e r f ü h r u n g
ausüben. Wenn wir hören, dass mit Katharin a von
Medici zahlreiche italienische Künstler nach Frankreich
kamen, welche das Land mit einer Fülle der obsconsten
Bilder und Sculpturen überschwemmten, die die wider¬
natürlichsten Laster in der verführerischesten Weise dar-
■stellten, wenn wir erfahren, dass diese ausschweifende
Fürstin von einem Hofstaat umgeben war, der fast aus-
'schliesslich der homosexuellen Liebe huldigte, so werden
wir es begreiflich finden, dass die Paederastie und Tribadie
in Frankreich eine erschreckliche Verbreitung gewannen.
Wichtig ist, festzuhalten, dass diese Laster durch
V e r f ü h r u n g und Nachahmung verbreitet
werden können. Das schliesst nicht aus, dass man
unter besonderen Umständen bei den einzelnen Individuen
<lie krankhafte Natur einer sexuellen Perversität annehmen
kann. Die neueren wissenschaftlichen medicinischen
Schriften über die „sexualen Psychopathien“ haben leider
nicht nur bei Laien, sondern auch bei Ärzten den Glauben
•erweckt, als ob es sich bei ihnen fast immer um eine
Krankheit handle, und nur selten um die Befriedigung
«eines Lasters. Ich glaube, dass das Gegenteil richtiger
sein würde.
Mit grösserer Bestimmtheit lässt sich dieser verderbliche
Einfluss der vornehmen Gesellschaft in jenen Perioden
nachweisen, wo dieselbe dem Volke als ein kleines und
fremdartiges Ganze gegenüberstand. Heute, wo sich die
vornehme Gesellschaft aus breiteren Schichten des Volkes
•.zusammensetzt und gleichsam nur die Spitze desselben,
nicht mehr einen Gegensatz zu ihm bildet, entzieht sich
«dieser Einfluss als ein mehr verschwommener einer
genaueren Untersuchung. Aber vorhanden ist er noch.
6
Es giebt noch immer fashionable Moden und Amüsements^
welche in den Kreisen der „oberen Zehntausend“ ihren
Ursprung haben und mit Begierde von dem profanum
vulgus auf- und angenommen werden. Kein Zweifel, dass
auch der Einfluss der heutigen „Gesellschaft“ auf die Art
und Gestaltung des Geschlechtslebens ein gewaltiger ist.
Da aber das High Life einen mehr internationalen
Charakter angenommen hat, so ergiebt sich daraus eine¬
weitere Schwierigkeit, seine gegenseitigen Beziehungen
zum Sexualleben eines bestimmten Volkes genau festzustellen.
An der Bildung der modernen vornehmen Gesellschaft
hat England den Hauptanteil. Zu gleicher Zeit, im
17. Jahrhundert, entwickelte sich zwar auch in Frankreich
/
dieses moderne „Weltleben“, aber Frankreichs Einfluss¬
ist ein vorübergehender gewesen. Die dauernden
Charakterzüge hat England der modernen Gesellschaft
gegeben. Von vornherein haben dieselben die Tendenz,
einer Demokratisierung der Gesellschaft gehabt.
Der Begriff des „High Life“ umfasst nicht nur den
Geburtsadel, sondern auch den Geld- und Geistesadel, über¬
haupt jeden durch Tüchtigkeit und Verdienst über die
grosse Masse hervorragenden Mann. Nirgends hat sich eine
geringere Stabilität der Geburtsaristokratie als in England
gezeigt, wo dieselbe einem fortwährenden Wechsel unter¬
worfen ist und sich in einem ganz anderen Umfange aus
dem Volke ergänzt als dies z. B. in Deutschland der
Fall ist. Diese Demokratisierung der vornehmen Gesellschaft
führe ich besonders auf zwei Faktoren zurück, die al&
spezifisch englische anzusehen sind. Das sind: der
Begriff des Gentleman und der Sport.
Mag auch die englische Gesellschaft von der Ver¬
wirklichung jenes Prinzipes, das jeden wahren „Gentleman“-
7
als ihr natürliches Mitglied betrachtet, noch weit entfernt
sein — wenn auch lange nicht mehr so weit wie andere
Völker — das Prinzip hat sie wenigstens zuerst auf¬
gestellt und damit sich weit über die Engherzigkeit, den
Kastengeist und bornierten Stolz der alten Aristokratie
erhoben und alle diejenigen für würdig erklärt ihr an¬
zugehören, die auf die Bezeichnung eines „Gentleman“
Anspruch machen können.
Was ein Gentleman ist, hat Thackeray am Schlüsse
der „vier George“ deutlich ausgesprochen. Er vergleicht
hier Georg lY. mit Washington und wirft die Frage
auf, welcher von diesen beiden der wirkliche Gentleman sei.
„Was heisst es überhaupt „ein Gentleman“ zu sein? Heisst
es, erhabene Aufgaben zu lösen, ein reines Leben zu
führen, die Ehre unverletzt zu bewahren, die Achtung
seiner Mitbürger zu gemessen und die Liebe der eignen
Familie, das Glück mit Bescheidenheit, das Missgeschick
mit starkem Mut zu ertragen, und durch gute und schlechte
Zeit stets die Wahrheit hoch zu halten? Zeigen Sie mir
einen Mann mit diesen Eigenschaften, und ihn wollen
wir als „Gentleman“ begrüssen, welchem Stande er immer
angehöre.“ Max Schlesinger, der in seinen „Wan¬
derungen durch London“ das englische Wesen auf das
reinste widerspiegelt, nennt den Gentleman im wahren
und edlen Sinne des Wortes eine „Pflanze von langsamem
Wuchs, wie die Eiche seines Geburtslandes, ein Produkt
der höchsten Kultur, wie der Weinstock auf den Ufer¬
terrassen des Rheins, dazu gereift durch die Reisesonne
von Deutschland, Frankreich und Italien. Natur, Kunst
und glückliche Zufälle müssen tüchtig zusammen arbeiten,
1) W. M. Thackeray, „die vier George.“ Deutsch von
J. Augsburg Leipzig (Reklam) S. 153.
8
um einen Gentleman zu stände zu bringen, und es zeugt
von dem glücklichen Stern Englands, dass es seit Jahr¬
hunderten noch immer eine so stattliche Musterung dieser
ehrenwerten Spezies aufzuweisen hat .... Der englische
Gentleman stellt die Blüte der deutschen und französischen
Männerwelt in Schatten. Seine Gemütlichkeit hält ein
feinblickender Takt in Mass und Schranken, seiner Artig¬
keit giebt ein fester, herziger Ton Gewicht und Ballast.
Sein Stolz ist gewinnend, und seine Höflichkeit ungezwungen.
Sein ganzes Wesen trägt ein so ernstes natürliches Ge¬
präge, dass es gleich angenehm wird, ihm Dank zu
schulden wie aufzuerlegen. Mit den Jahren scheint er
immer jünger und jünger zu werden, und wie der klare
goldsonnige Oktober auf den Südküsten Englands, pflegt
sein Spätherbst den Lenz und Sommer zu beschämen . . . .
Im Himmel ist, wie ein alter Dichter sagt, über neun¬
hundert neun und neunzig bekehrte Sünder nicht so grosse
Freude, als über einen echten englischen Gentleman.“^)
— Ich möchte das Wesen des Gentleman mit dem Worte
„gediegen“ bezeichnen. Es ist die innere und äussere
Gediegenheit, welche den Gentleman vor Anderen aus¬
zeichnen. Ist diese Gediegenheit vorhanden, dann wird
man die Zugehörigkeit zur „guten Gesellschaft“ nicht
mehr von kleinen Äusserlichkeiten abhängig machen. Es
ist dies, wie erwähnt, ein zuerst in England aufgestelltes
Prinzip für die Eegelung des höheren geselligen Lebens,
welches aber immer noch weit davon entfernt ist, ganz
verwirklicht zu sein.^)
1) Max Schlesinger, „Wanderungen durch London.“
Berlin 1852 Bd. I S. 376—378.
2) Daniel Defoe unterscheidet sehr richtig den „born“
Gentleman von dem „bred“ Gentleman in seinem berühmten
Werke „The Compleat English Gentleman“, welches erst im
9
Heute ist dank diesem Prinzip nach, dem Urteil eines
erfahrenen Kenners der modernen Gesellschaft die englische
die „feinste“ Europas und das aus dem Grunde, weil sie
der „allgemeine Besitz derer ist, welche in dieselbe auf¬
genommen sind.“ „Sie ist weder eine Phrase, noch eine
blosse Idee, sie ist in der That vorhanden und ihre Ge¬
treuen werden durch ein gemeinsames Interesse belebt.“^)
Das grösste gemeinsame Interesse nun, welches diese
moderne Gesellschaft besitzt, ist ohne Zweifel der Sport.
Auch er ist ein spezifisch englisches Produkt, welches von
England aus in die festländische Gesellschaft eingeführt
worden ist und heute deren wesentliches Merkmal aus¬
macht. In der That, die gesamte vornehme Gesellschaft
Europas wäre heute ohne den Sport ganz undenkbar.
Er macht eben einen Teil und zwar den grössten Teil
ihres Wesens aus. Der oben erwähnte Autor bemerkt:
„Welches sind nun die Bindemittel und die gemeinsamen
Grundsätze, welche die verschiedenen Teile der Londoner
Gesellschaft vereinigen und Zusammenhalten? Weder die
Gleichheit der Interessen noch die des Geschmacks,
nicht einmal das Band politischer Sympathie hat die Kraft
sie zu vereinigen, am wenigsten ist es die Rücksicht auf
ulte Familientraditionen. Ich behaupte und wohl nicht
mit Unrecht, dass keine gesellschaftlichen Bande
so stark und weitreichend sind, als die des
Jahre 1890 nach dem im Britischen Museum aufbewahrten
Manuscript von Karl Bülbring herausgegeben wurde und
sich ausführlich über das AVesen und die Eigeuschaften eines
Gentleman nach den xAnschauungen im Anfänge des 18. Jalir-
hunderts verbreitet. A^gl. Daniel Defoe „The Compleat
English Gentleman“ London 1890 S. 3. — Bekannt ist John-
son’s witzige Definition; „A gentleman is he who pays his
tailor’s bill.“
9 „Aus der Londoner Gesellschaft, a'oii einem Heimisch¬
gewordenen.“ Lei])zig 1885. S. 51; S. 53.
10
Sports in seinen verschiedenen Arten: als
Schiessen, Jagen, Kartenspielen und vor allem das Wett¬
rennen. Ein in England üblicher Ausspruch sagt: auf
dem turf und unter dem turf sind alle Menschen gleich.“ i)
Das gilt auch heute von der übrigen europäischen Ge¬
sellschaft.
Der Sport ist im grossen und ganzen — wenn man von
seinen schädlichen Auswüchsen und Übertreibungen ab¬
sieht — die wertvollste Bereicherung, welche das moderne-
Gesellschaftsleben England zu verdanken hat. Er kräftigt
nicht nur den Körper, sondern übt auch unverkennbare
psychische Wirkungen aus, steigert die Thatkraft, den
Scharfsinn, den Mut und das Selbstbewusstsein.^)
Die Anfänge des eigentlichen Sportlebens fallen eben¬
falls in die Zeit der Restauration. Pferderennen,
diese „grossen Versammlungspunkte der Londoner Gesell¬
schaft“, gab es zwar schon zur Zeit König Heinrich’s IE,
aber die eigentliche Blütezeit derselben beginnt nach der
Thronbesteigung Karl’s 11. , der diesen Sport in hohem
Masse begünstigte und häufig die Wettrennen mit seiner
Gegenwart beehrte, sowie besonders in Datchet mead und
Newmarket solche Rennen veranstaltete. Eine poetische
Reisebeschreibung aus dem Ende des 17. Jahrhunderts,
deren Verfasser wahrscheinlich Mathe w Thomas Bas-
kervile ist, schildert ein Rennen in Burford Downs, dem
auch König Karl II. beiwohnte, worüber bemerkt wird:
P „Aus der Londoner Gesellschaft“ S. 124.
2) Uber diese psycbologischenWirkungen des Sports bandelt
ein Aufsatz von Baron Pierre de Coubertin „La Psycho¬
logie du Sport“, Revue des Deux Mondes, Juli 1900 S. 167 — 179,
wo es heisst : Aujourd’hui, le sport et entre dans les moeurs
de toute une jeunesse qui ne se fait point „blanchir ä Londres“,.
et ne s’avise ineme pas qu’en pratic[uant des exercises favoris,
eile puisse accomplir un acte quelconque d’angloinanie ou de
snobisme.“ Vgl. auch 11. France, „L’arine'e de John Bulhh
Paris 1887. S. 268 ff.
11
Next for tlie giory of tlie place,
Here has been rode many a race, —
King Charles the Second I saw liere;
But Tve forgotten in what year!
The Duke of Monmouth here also,
Made his horse to swete and blow ;
Lovelace, Pembrook, and other gallants
Have been ventring here their talents.
And Nicholas Bainton on black Sloven,
Got silver plate by labor and drudgingP)
Seit jener Zeit sind die grossen Pferderennen, das
Derbyrennen, die Rennen in Epsom, Ascot u. s. w. gleich¬
sam die jährlichen Generalversammlungen der englischen
Gesellschaft. „Auf diesen Rennbahnen findet man die
Blüte der englischen Gesellschaft lückenloser vertreten,
als selbst zu den Empfängen bei Hofe.“‘'^) Und nicht
blos diese, auch die feinere Demimonde, sowie das Loretten-
tum in Gestalt der sogenannten „horse-breakers“, ist
vollzählig bei einem solchen fashionablen Rennen vertreten,
das sich immer mehr zu einem grossen Volksfeste gestaltet
hat. Louis Blanc hat eine sehr lebensvolle Schilderung
von einem solchen Rennen entworfen, dem er im Jahre 1861
in Epsom beiwohnte.
,, Unter den Personen, denen ich im Vorübergehen
die Hand drücken konnte, nenne ich Thackeray, den
berühmten Verfasser von „Vanity Fair“. Was wollte der
grosse Satiriker in diesem Tohu-wabohu? Beobachten?
In diesem Falle würde der Stoff* ihm nicht gefehlt haben;
P Josepli Strutt „The Sports and Pastimes of the People
of England“. A New Edition by William Hone, London 1830.
S. 40; S. 46. — „Döings in London“ S. 278 — 279.
Gustaf F. Steffen „In der Fünfinillionen - Stadt“
Leipzig 1895 S. 220.
12
denn alle Varietäten unserer Art befanden sich dort vor
dem Blicke versammelt und durcheinander gemischt, vom
jungen wegen seines Gespannes bewunderten Lord bis zu
dem wegen seiner Körperkräfte angestaunten Jongleur;
von der grossen Dame, welche ihre Spitzen zur Schau
stellt bis zur Bohemienne mit zerrissenen Kleidern; vom
Berufswetter, der vor Wut zittert, dass er nicht als Millionär
zu Bette gehen kann, bis zum Bettler, der glücklich über
die Einnahme von einigen Pence ist; von der galanten
Frau mit geschminkten Wangen bis zum imitierten Neger i
Und auch für schmerzliche Reflexionen, wenn dies der
Augenblick zum Philosophieren gewesen wäre, würde der
Stoff nicht gemangelt haben. So sehr zeigten sich dort
gleichsam im Relief alle peinlichen Kontraste, welche die
moderne Zivilisation darbietet.“ i)
Karl II., der sich stets für Schiffahrt interessiert
hatte, führte die holländische „Yacht“ in England ein
und erweckte in der vornehmen Welt ein grosses Ver¬
gnügen am Segelsport. Im Jahre 1665 veranstalteten
Karl und sein Bruder, der Herzog von York, eine Wett¬
fahrt zwischen ihren von den Gebrüdern Pett erbauten
Yachten.
Auch das Cricket spiel stammt aus der Zeit der
Restauration. Der Name ,, Cricket“ kommt zuerst in einem
Liede von D’ Urfey vor (Vgl. „Pills to purge Melancholy“
4. Auflage, London 1719 Bd. II S. 172):
Her was the prettiest fellow
At foot-ball or at cricket,
9 Louis Blaue „Lettres sur rAugleterre“, Paris 1865.
Bd. I S. 61.
2) 11. D. Traill „Social England“ London 1895 Bd. IV
5. 602.
13
At Imnting chase, or nimble race,
How featly her could prick it.
Besonders beliebt war unter den Stuarts das Pall
Mall -Spiel, bei dem mit einem an einem langen Stabe
befestigten hölzernen Hammer (mall, mailet) eine Kugel
durch einen hohen eisernen Bogen geschleudert wurde.
Karl IL pflegte dieses amüsante Spiel besonders im St.
James’s Park zu betreiben, wonach die an diese Stelle
des Parkes anstossende schöne Strasse den Namen ,,Pall
Mall“ erhielt.
Tennis- und Fuss ball spiel, seit alten Zeiten be¬
kannt^), wurden ebenfalls unter derKestauration fashionabel,
und auch die alten Hahnenkämpfe fuhren fort, die
vornehme Welt höchlich zu ergötzen.
In „ G r a m m 0 n t ’ s Memoiren“ wird uns diese
Prävalenz des Sportes in der Gesellschaft der Kestaurations-
zeit vor Augen geführt.
„Erholungen aller Art ergötzten den Hof an Orten,
wo man alles ergreift, um die Langeweile zu töten. Das
Kugelwerfen, in Frankreich nur ein Spiel für Handwerker
L J. Strutt a. a. 0. S. 103.
ibidem.
0 Döings in London S. 42.
4) Das Tennisspiel wird schon unter Heinrich VII. er¬
wähnt. Schon früh wurde es von Frauen gespielt. Das Fussball-
spiel ist noch älter, und wurde unter Eduard HI populär,
der schon 1349 ein Verbot gegen dasselbe erliess. Vgl. Strutt
a. a. 0. S. 93 — 94; S. 10i>.
0 Die Hahnenkämpfe beweisen auch auf dem Gebiete
des Sports die Vorliebe der Engländer für das Merkwürdige,
Unerhörte, Monstruöse, die sich besonders in dem Getälhm an
seltsamen Tieren äussert. Shakespeare lässt Trinculo im
„Sturm“ (Akt II Scene 2l sagen: „Wenn ich nun in England
wäre und hätte den Fisch nur gemalt, jeder Pfingstnarr gäbe
mir dort ein Stück Silber. Da wäre ich mit dem Ungeheuer
ein gemachter Mann; jedes fremde Tier macht dort seinen
Mann“.
14
und Bediente, ist in England ganz im Gegenteil ein
Zeitvertreib für Leute von Stande. Es gehört dazu Kunst
und Gewandlieit, man übt es nur bei guter Jahreszeit
und auf den herrlichsten Spazierplätzen, Bowlinggreens
genannt. Es sind dies kleine viereckige Flächen, . deren
Rasen so glatt ist wie Billardtuch. Nach des Tages
Hitze versammelt sich dort Alles. Man spielt hoch, und
die Zuschauer wetten so viel sie wollen. — Längst in
die englischen Sports und Übungen eingeweiht hatte der
Chevalier Grammont einen Pferdewettlauf angestellt,
den er allerdings nicht gewann, aber der ihm die Über¬
zeugung verschaffte, dass ein Traber zwanzig englische
Meilen auf der Landstrasse in weniger als einer Stunde
machen kann. Die Hahnenkämpfe waren ihm günstiger,
und bei allen Wetten auf dem Bowlinggreen hatte er
Glück. Bei diesen Partieen befindet sich gewöhnlich ein
Wirtszelt, das Rasenpavillon, Festsaal oder auch Erfrischungs¬
ort genannt wird. Dort verkauft man allerhand englische
Getränke, wie z. B. Cyder oder Apfelwein, Spirituosen,
Ginger-Bier und spanischen Sekt. Es versammeln sich
da Abends die sogenannten Matadore oder Rooks, um zu
rauchen, zu trinken und sich zu überlisten d. h. sich
gegenseitig den Gewinn des Tages abzunehmen. Diese
Rooks sind , was man in Frankreich Fachspieler oder
Piqueurs nennt, Leute, die stets Geld bei sich führen, um
es gelegentlich den im Spiel Verlierenden gegen eine
Entschädigung vorzuschiessen, welche für die Spieler nichts
bedeutet und am folgenden Tage mit doppelten Prozenten
bezahlt wird.“ ü
Diese Arten des Zeitvertreibes wiederholten sich zu
L „Memoiren des Grafen Grammont“ von Anthony Graf
Hamilton, Jena 1853 S. 264 — 265.
15
jener Zeit mit einer ermüdenden Regelmässigkeit. Jeden
Tag begab sich König Karl II nach dem Mittagessen
zu den Pferderennen, danach zu einem Hahnenkampfe,
danach zu einem Spiele, und nach dem Abendessen
zu — seiner jeweiligen Maitresse.
Das Zeitalter der Restauration bezeichnet den Höhe¬
punkt der Unsittlichkeit im englischen Geschlechtsleben.
Niemals vorher und nachher ist den Sinnen in so orgiastischer
Weise gedient worden. Nie hat in England die rohe,
gemeine Sinnlichkeit, die brutale Wollust sich so breit
gemacht wie unter Karl H.
Es kann diese Zeit nur verstanden werden, wenn
man sie als eine Reaktion gegen den ihr vorhergehenden
extremen Puritanismus auffasst. Schon vor Macaulay
und Taine hat dies Anthonv Hamilton erkannt.
Er sagt von Cromwell’s hartem Regimente: „Das
unter allen Nationen Europa’s unlenksamste Volk ertrug
mit Geduld ein Joch, welches ihm nicht einmal den
Schatten von einer sonst so eifersüchtig gewahrten Freiheit
liess. Unter dem Titel Protektor, Herr der Republik,
im Innern gefürchtet, von Aussen mit noch grösserer
Besorgnis betrachtet, war Crom well, als der Chevalier
Grammont ihn sah, auf dem Gipfel seines Ruhmes.
Doch es umgab ihn keine Spur von einem Hofstaat. Der
Adel war teils verbannt, teils von den Geschäften fern
gehalten ; statt des Luxus und der Pracht der Höfe zeigte
sich in den Sitten eine puritanische Strenge; so bot die
schönste Stadt der Welt einen ernsten traurigen Anblick
dar.“ Ganz anders sieht Grammont England nach
der Thronbesteigung Karls ’s H: ,, Noch leuchtete überall
die Freude über die Wiederherstellung des Königtums;
1) H. D. Traill a. a. 0. Bd. IV S. 479-480.
16
nach neuem Lehen begierig, genoss das Volk den Keiz:
einer natürlichen Leitung und schien nach langer Unter¬
drückung wieder aufzuatmen. Es ist ein Naturgesetz,
dass allzu grosse Strenge den Charakter des Menschen
höchst ungünstig beeinflusst und die Versagung auch der
unschuldigsten Freuden des Lebens nur zur Folge hat,
dass man heimlich weniger unschuldige sucht, und später
des Zwanges ledig, sich mit Begierde in den Strudel
sinnlicher Vergnügungen stürzt. Der Puritanismus hat
nach Tai ne die Orgie herbeigeführt, die Fanatiker hatten
die Tugenden in Verruf gebracht. Die Wiedereinsetzung
des Königs brachte Erlösung. „Gleich einem abgedämmten,
angeschwollenen Strom stürzte sich der Volksgeist mit
furchtbarer Naturgewalt brausend und schäumend in da&
Bett, das man ihm lange verschlossen hatte, und die
Macht der tosenden Flut riss alle Dämme ein. Die
leidenschaftliche Rückkehr zur Sinnlichkeit ertränkte die
Moral. Tugend galt für puritanisch ; sittlicher Ernst und
Fanatismus wurden vermengt und fielen gemeinschaftlich
der Verachtung anheim. Durch diese gewaltige Gegen¬
strömung wurden Frömmigkeit und Sittlichkeit zugleich
hinweg gespült, zurück blieb nur Verwüstung und Schlamm;
die edleren Anlagen der menschlichen Natur verschwanden,
es blieb nur das Tierische im Menschen, zügel- und
führerlos, sich in seinen Begierden über Gerechtigkeit
und Scham hinwegsetzend. Die Nation wurde von
Ekel gegen alle ,, gottseligen Reden“ ergriffen und blickte
mit Wohlgefallen auf die „sanften und fröhlichen Laster“
( M a c a u 1 a y).
M „Grammont’s Memoiren“ S. 73 — 74.
2) II. Ta ine „Geschichte der englischen Litteratur“
deutsch von G. Gerth, Leipzig 1878 Bd. II S. 8.
17
Die Stimmung der Zeit prägt sich in der Philo¬
sophie aus. Es ist Thomas Hobbes, der mit seiner
materialistischen Weltanschauung und naturalistischen
Begründung der sittlichen Welt das Feld beherrscht.
Er gehörte, 'wie Tai n e sagt, zu jenen ,, mächtigen, klaren,
bestimmten Geistern“, die man positive nennt und so
häufig in England trifit. Er antizi])ierte die Methode der
französischen Sensualisten des 18. Jahrhunderts, indem er
die sinnliche Wahrnehmung als die ursprüngliche Quelle
der menschlichen Empfindungen bezeichnete. „Mit der
scharfen Sense unerbittlicher Logik mähte er mit der
Kühnheit und starren Unbewegtheit eines Automaten alle
Vorurteile nieder.“ Er säuberte die Wissenschaft von den
scholastischen Phrasen und Theorien, beseitigte die P^nter-
schiede des Sinnlichen und Intelligiblen, verwarf den
Autoritätsglauben, leugnete die Authentizität der Bücher
Moses u. a., verneinte die Göttlichkeit der heiligen Schrift.
Für ihn "war der Mensch nur ein Körper, die Seele eine
Funktion, Gott unbekannt. Alle realen Vorgänge beruhen
auf Bewegung. Die Empfindung ist eine Folge der inneren
BeAvegung, die durch äusseren Anstoss bewirkt wird.
Die Lust ist innere BeAvegung, die auf ein äusseres Objekt
gerichtet ist. Aus Empfindung und Lust bestehen alle
Leidenschaften und rechtlichen Institutionen der Mensch¬
heit. Hobbes setzt die Materie auf den Thron. „Des
Puritanismus überdrüssig beschränkten die Höflinge das
menschliche Leben auf tierisch-sinnliche AusscliAveifung;
des Puritanismus überdrüssig beschränkte Hobbes die
menschliche Natur auf ihre sinnliche Seite. Die Höflinge
Avaren Atheisten und Sinnesmenschen in der Praxis, er
Avar Atheist und Sinnesmensch im Keicli der Spekulation.
Durch sie AA^ar Naturtrieb und Egoismus Mode geAA^orden,
Düliren, Das Geschlechtsleben in England.**
18
er slii'ieb die Philosophie des Egoismus, des Naturtriebes;
sie hatten in ihrem Herzen alle edleren und feineren Gefülile
ertötet, er ertötete alle edleren nnd feineren Gefühle im
Herzen. Er brachte ihre Sitten in ein System, er lieferte das
Handbuch ihrer Lebensweise und sclirieb im Voraus die
Maximen nieder, die sie dann praktisch bethätigen sollten. “i)
Diese utilitaristisch - sensualistische Philosophie ent¬
sprach der Stimmung der Zeit. Sie ward Modesache.
Hobbes ist für die englische Kestauration das, was die
französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts für die
Gesellschaft Ludwig’ s XV. gewesen sind. Der Hohbis-
mus, sagt Macaulay, ward bald ein fast wesentlicher
Teil des Charakters eines vollendeten Gentleman.^)
Indessen war trotz aller Bemühungen, französische
Manieren nachzuahmen, der Hof Karl’s IL und die
Gesellschaft jener Zeit weit von der Eleganz, der Feinheit
und dem Geiste entfernt, welche die französische Korrup¬
tion in einem so verführerischen Lichte erscheinen lassen.
Darüber darf man sich bei der Lektüre der diese Zustände
immerhin noch idealisierenden „Memoiren Grammont’s“
von Hamilton keiner Täuschung hingeben. Wenn
H a m i 1 1 0 n sagt : „Es atmete am Hofe Alles Freude,
Genuss und jene Pracht und Verfeinerung, wie sie nur
die Neigungen eines zärtlich gestimmten, galanten Fürsten
hervorrufen können. Die kSchönheiten wollten bezaubern
und die Männer strebten nur zu gefallen, jeder endlich
machte seine Gaben geltend, wie es anging. Einige
M H. Tai ne a. a. (>. Bd. II S. 24—28.
‘h Tli. B. jMacaiilay, „Geschichte von England“. Deutsch
von W. Beseler, Braunschweig 1852. Bd. I S. 195. Ganz
vortrelflicli ist die Philosophie dos Hobbes im Verhältnis zu
ihrer Zeit dargestellt von K u n o F is ch er „Francis Bacon und
seine Nachfolger“ 2. Autl. Leipzig 1875 .8. 517 — 544.
19
^zeichneten sich durch Grazie im Tanz aus, andre durch
Aufwand in der Erscheinung und andere durch Geist,
die meisten durch Verliebtheit und sehr wenige durch
Treue,“ so ist da mit taciteischer Kürze ein glänzendes
Bild der Leichtfertigkeit und des Cynismus jener Gesell¬
schaft gezeichnet. Aber es wird ein wesentliches Element
verschwiegen, tvelches auch jenen „fröhlichen, gedanken¬
losen Tagen Karl’s 11. (tiie merry thoughtless days of
■Charles the Second) den spezifisch englischen Charakter
aufprägt. Das ist die grenzenlose K o h e i t und Brutalität
hei den Ausschweifungen. Nicht ,, Grammont“ muss man
lesen, um diese kennen zu lernen, sondern das Tagebuch
des guten Pepys, die Poesien eines Roche st er, die
Komödien eines Ether ege’, Wycherley, Vanbrugh,
Farqhar u. a.^) Vor allem wohl aus ihnen hat Tai ne
sein durchaus richtiges Urteil über die Immoralität der
Restaurationszeit entnommen. Er zieht eine interessante
Vergleichung zwischen der französischen und englischen
Korruption jener Periode. „Der französische Firniss täuscht
und blendet uns. Bei einem Franzosen ist die Aus¬
schweifung nur zur Hälfte anstössig; wenn bei ihm das
Bestialische im Menschen entfesselt wird, so geschieht es
nicht in schrankenlosem Excess; er ist im Grunde nicht
•eigentlich roh und gewaltig, wie der Engländer. Man
kann die schimmernde über ihn gebreitete Eisdecke
durchbrechen, ohne die reissende, trübschlammige Flut
zu entfesseln, die untei' seinem Nachbar braust und tost . . . .
Ganz das Gegenteil in England. Kratzt man die Tünche
der Moral weg, so kommt das Tierische im Menschen
in seiner ganzen leidenschaftlichen Roheit und Hässlich-
9 „Graminoiit’s ^lemoireii“ S. 143.
9 Ausführlich gehe ich auf diese litterari-schen Dokumente,
die auch das bürgerliche Leben jener Zeit schildern, ini zehnten
Kapitel ein.
2ü
keit zum Vorsclieiii. Ein englischer Staatsmann tliat den
Ansspruch, dass in Frankreich die Wut des entfesselten
Pöbels durch einen Appell an die Menschlichkeit und
Ehre besänftigt werden könnte, während man ihm in
England zu seiner Beschwichtigung rohes Fleisch vor¬
werfen müsste. Schändung, Blut, Orgie, das ist das-
Element, in dem sich dieser vornehme Pöbel wohl fühlte,
alles was einen Carneval entschuldigt, fehlt hier, vor
allem der Geist.“
Ich glaube, dass selbst die Lektüre von „Grammont’s
Memoiren“ Jeden davon überzeugen wird, dass niemals
die Liebe roher und gemeiner war als in der englischen
Gesellschaft der Restauration. Niemals haben Männer die-
Frauen so brutal, gewissenlos behandelt und entwürdigt.
Niemals ist der Cult der rein sinnlichen Anbetung des-
Weibes in einer ekelerregenderen Weise betrieben worden.
Treffend bemerkt Macaulay: „Ausschweifende Zügel¬
losigkeit, die natürliche Folge naturwidriger Strenge, war
damals Mode, und die Sittenlosigkeit entbehrte nicht ihres-
gewöhnlichen Erfolgs, der sittlichen und geistigen
Erniedrigung des weiblichen Geschlechts. Es-
gehörte zum guten Ton, der körperlichen Schönheit der
Frauen eine rohe und unverschämte Huldigung zu bringen
aber die Bewunderung und das Verlangen, welche sie
eintlösste, war selten verbunden mit Achtung, mit wahrer
Zuneigung oder mit irgend einem ritterlichen Gefühle,,
und die Eigenschaften, welche sie befähigten, Lebens¬
gefährten, Ratgeber, zuverlässige Freunde zu sein, stiessen
die Wüstlinge von Whitehall zurück, anstatt sie zu fesseln.
An jenem Hofe hatte eine Hofdame, welche sich in solcher
Weise kleidete, dass ihrem weissen Busen vollkommene
Gerechtigkeit widerfuhr, welche mit verständlichem Aus-
’) H. Taine a. a. 0. Bd. II. S. 8: S. 11.
21
druck liebäugelte, welche wollüstig tanzte, welche durch
schnelle und kecke Antworten sich auszeichnete, welche
sich nicht schämte, mit Kammerherren und Garde-Haupt¬
leuten zu ringen, zweideutige Verse mit zweideutigem Aus¬
druck zu singen, oder die Kleidung eines Pagen zur Aus¬
führung irgend eines lustigen Streiches anzuziehen, mehr
Aussicht, von einem Schwarm von Bewunderern umgeben
zu sein, durch königliche Aufmerksamkeiten geehrt zu
werden, einen reichen und vornehmen Ehemann zu ge¬
winnen, als Johanna Grey oder Lucy Hutchinson
gehabt haben würde.“
Wer sich unmittelbar in diese Zeit versetzen und ein
Bild von ihr gewinnen will, das sich in seiner wunder¬
vollen Plasticität für immer dem Gedächtnisse einprägt,
der muss die berühmten „Memoires du Comte de
G r a m m o n t“ von Antoine Hamilton^) lesen, das
französisch geschriebene Buch eines Engländers, ein Werk,
von dem der Abbe Voisenon sagte, dass es an der
Sjdtze derjenigen Bücher sich befinde, die man jedes
Jahr regelmässig wieder lesen müsse. Ich stehe nicht
an, Hamilton mit Tacitus zu vergleichen. Auch er
steht wie der grosse römische Geschichtschreiber über
den Ereignissen, auch er versteht es, durch gedrungene
1) Macauhiy a. a. 0. Bd. H S. 19G — 197.
-) Erste Ausgabe: „Memoires de la vie du comte de
Grammont, contenant particulierement rinstoire amoureuse de
Ja cour d’Angleterre, sous le regne de Charles H.‘' Köln 1713. —
<Tute Ausgaben (mit Anmerkungen und Judex) von G. Brun et
(Paris 1859) und H. Motheau (Paris 1876). — Von mir be¬
nutzte französische Ausgabe „iMemoires du comte de Grammont
})ar A. Hamilton“ Nouv. e'dition (mit dem Essay von St.
lleuve) Paris, Garnier Ereres o. J. — Vortrefi'liche deutsche
Eebersetzung von A. Heller, .lena 1853.
^1 C. A. Sainte-Beuve „Causeries du Eundi“, Paris
(Garnier freres) o. J. Bd. I S. 102.
22
Kürze die Lebendigkeit und den Eindruck seiner Schil¬
derungen zu erhöben und den Leser so mitdenken zu
lassen. Dabei ist sein Buch frei von der Dunkelheit und
Melancholie des taciteischen Stiles. Ich zweifle nicht
daran, dass Hamilton den Tacitus zum Vorbilde ge¬
habt hat. Ich kann auch nicht Sainte-Beuve bei¬
stimmen, der in seinem berühmten Essay über die
„Memoires de Grammont‘‘^) Hamilton als einen echt
französischen Schriftsteller bezeichnet. Gewiss ist da&
richtig, sobald man seinen Stil in formaler Beziehung
betrachtet, der alle Vorzüge der französischen Memoiren¬
werke, ihre Klarheit, ihre glänzenden pointirten Schil¬
derungen, ihren Reichtum an feinen Beobachtungen und
geistvollen Bemerkungen aufweist. Aber was den Inhalt
an sich betrifft, so verleugnet Hamilton nicht den
Engländer. Es ist kein Wort und kein Satz der blossen
Form wegen gesagt, wie man dies so oft in französischen
Schriften findet, sondern mit jedem Satze schreiten auch
Schilderung der Begebenheiten und Handlung der Per¬
sonen fort. Vor den Augen des Lesers lebt jene grosse
Epoche wieder auf. Es ist ihm, als wenn er sich
mitten in ihr befinde und den lebendigsten Anteil an all
den nichtigen und amüsanten Ereignissen nehme. Ich
rechne Hamiltons Schrift zu den im besten Sinne des
Wortes humoristischen Schriften. Überall blickt der
Humor durch, mit welchem der Verfasser dieses ganze
leichtfertige und oberflächliche Treiben betrachtet. Kein
herbes Urteil entschlüpft seinem Munde. Gelassen und
leise lächelnd registriert er die Laster und die tollen
Streiche dieser ausschweifenden Gesellschaft. Sainte-
Beuve sagt von „Grammont’s Memoiren“: „Le fond en
Sainte-Beuve a. a. 0. Bd. I S. 92 — 107.
23
est mince, non pas precist^ment frivole, comme on l'a dit;
il n’est pas plus frivole (pour etre si leger) qiie tont ce
qui a pour matiere la comedie liumaine. . . . Eien n’egale
cette fa9on, de dire et de conter, facile, lieureuse, unissant
le familier au rare, d’une raillerie perpetuelle et presque
insensible, d’une Ironie qui glisse et n’insiste pas, d’une
medisance aclievee.“^) Er meint, dass das 18. Jahrhundert
mit Hamilton anfängt. Dieser habe schon die „phrase
courte“ von Voltaire. Die Eichtigkeit dieser letzteren
Vergleichung erhellt auch aus Byron’s Bemerkung über
Grammont’s Memoiren in den Gesprächen mit Medwiii:
,, Nichts ist, für mich wenigstens, unterhaltender als ein
Werk dieser Art, als eine Selbstbiographie, wie Hamil¬
tons Memoiren zum Beispiel, die Voltaires Styl ge¬
bildet hatten. Frau von Stael pflegt zu sagen: „de
Grammont“ ist ein Buch, das bei wenig Stoff mehr An¬
ziehendes enthält, als irgend eins, das ich kenne.“^)
Voltaire bildete also seinen Stil an demjenigen Ha¬
milton’ s, dessen unvergleichliche Leichtigkeit und Eein-
heit Gibbon so sehr gepriesen hatte, ein Urteil, welches
Voltaire und nach ihm Horace Wal pole zu dem
ihrigen machten.^) Auch heute noch wären unter den
,, stilbilden den“ Schriften diese Memoiren an erster Stelle
zu nennen.
Anthony, Graf von Hamilton, stammt aus einer
iiisch-schottischen Herzogsfamilie, und wurde 164() in
Irland geboren. Nach der Hinrichtung Karls 1. wanderte
er mit seiner Familie nach Frankreich aus und nahm
1) ibidem S. 98, S. 99.
2) Thomas iNiedwiii „Gespräche mit Lord Byron“ deutscli
von A. V. d. Linden 2. Aull. Lei|)z, 1898 ('Verlag von II. Bars¬
dorf) S. 130.
2) ,,Granimont’s Memoiren“ (Lrläiiterungen) S. 293.
24
später Dienste in der Armee Ludwig’ s XIV, kehrte
dann nach England zurück, wo er am Hofe Karl’s 11.
lebte und erhielt von Jakob 11. eine Stelle als Oberst¬
lieutenant in Irland. Nacli der Eevolution von 1688
folgte er diesem Könige nach Frankreich und lebte an
dessen Hofe zu Saint-Germain, wo er im Verkehr mit
schönen und geistvollen Frauen in Müsse seinen litte-
rarischen Neigungen folgen konnte. Er machte, besonders
ermuntert von seiner jungen Freundin Henriette
Bulkely, Couplets nach Art von Co ul an ge s, schrieb
an seine Freunde Briefe in Prosa, untermischt mit Versen
wie sie Chaulieu machte. Mit diesem war er befreundet,
ebenso mit der Gesellschaft des Tempi e, und war ein
sehr gesuchter Gast in Sceaux, wo die Herzogin von
Maine Hof hielt. Auch verfasste er Erzählungen, die
aber ebenso wie seine Verse vergessen sind. Erst im
Jahre 1704 ging er, um seinen mehr als achtzigjährigen
Schwager Grammont zu erfreuen und zu unterhalten,
daran, die Jugendabenteuer desselben zu schildern.^)
Hamilton starb am 21. April 1720 als gläubiger Ka¬
tholik, in diesem Punkte, wie Sainte-Beuve bemerkt,
wieder ein Mensch des 17. Jahrhunderts. Merkwürdiger¬
weise erschien dieser witzige Geist im persönlichen Ver¬
kehr ernst und zurückhaltend. Voisenon erzählt, dass der
Graf Ca3Gus, der Hamilton oft bei seiner Mutter sah,
ihm öfter gesagt habe, dass er nicht liebenswürdig sei.
Saint-Simon fand bei Hamilton und dessen Brüdern
einen „coiu de singularite.‘‘^) Hamilton selbst klagt
b Er machte, nachdem er das JMaterial gesammelt hatte,
zuerst Boileau den Vorschlag, diese Memoiren zu yerfassen.
Aber da dieser selbst fürchtete, dass seine Satire dem Grafen
G r a in m o n t verletzen könnte, entschloss sich Hamilton
selbst zur Bearbeitung des interessanten Stoffes.
b Sainte-Beuve a. a. 0. Bd. I. S. 106.
darüber, dass ihm die Fähigkeit des raschen, mündlichen
Ausdrucks fehle. Seine innerste Natur aber war eine
ruhige Heiterkeit, jene Gemütsart, die seinem Werke
■einen unvergänglichen, klassischen Charakter verliehen
hat, nach Dante ’s Worten;
Nur aus der Heiterkeit, die nimmer trübe.
Kommt Licht; — all’ andres ist nur Dunkelheit,
Ist Schatten oder Gift der Fleischestriebe.
So können, wie Heller mit Recht sich ausdrückt,
die ,,Memoires de Grammont^' als einzig in ihrer Art be¬
trachtet werden. Keine Sprache weist Ähnliches auf, und
der lockere Stoff befleckt nicht denjenigen, der ihn als
Äleister beherrschte.^)
Schon Sainte-Beuve hat bemerkt, dass es un¬
möglich ist, die „Memoires de Grammont^‘ zu analysiren.
Man muss dieselben im Zusammenhänge lesen, um ein
richtiges und eindrucksvolles Bild der Restaurationszeit zu
gewinnen. Ich werde bei der Schilderung dieser Epoche
auch andere Quellen zu Hülfe nehmen, damit die Charak¬
teristik der Zeit und der Persönlichkeiten möglichst
deutlich gegeben werde.
Die Gesellschaft der Restauration ist einzig und allein
«ine Schöpfung des Königs KarlH. Sie steht und fällt
mit ihm. Niemals hat ein König, selbst nicht Ludwig
XV., seiner näheren und. weiteren Umgebung so sehr den
Stempel seiner Persönlichkeit aufgeprägt wie Karl H.
Man sage nicht, dass es immer die energischen Charaktere
sind, welche auf ihre Zeitgenossen den grössten Einfluss
ausüben. Auch die Energielosigkeit kann gewissermassen
inficierend wirken, zumal wenn sie sich bei einem solchen
Virtuosen des Vergnügens findet wie König Karl es war.
C „Grammont’s Memoiren“ (Erläuterungen) S. 293— 2D4.
26
Hinzu kommt noch die allgemeine Stimmung des Volkes,
die in dem aus der Verbannung lieimkehrenden König
den Befreier aus den drückenden Fesseln des Puritanismus
sah und den Beginn einer neuen, heiteren Lebensrichtung
von seiner Rückkehr datirte. Nie war ein König in
England so populär wie Karl 11. Macaulay entwickelt
vortrefflich die Ursachen dieser Volkstümlichkeit.
,,üie Unglücksfälle seines Hauses, der heldenmütige
Tod seines Vaters, seine eigenen langen Leiden und
romantischen Abenteuer machten ihn zum Gegenstand
einer zarten Teilnahme. Seine Rückkehr hatte das Vater¬
land von einer unerträglichen Knechtschaft befreit; ge¬
rufen durch die Stimme beider streitenden Fractionen,
befand er sich in einer Lage, welche ihn in den Stand
setzte, zwischen sie als Schiedsrichter zu treten, und in
einigen Rücksichten war er einer solchen Aufgabe ge¬
wachsen. Er hatte von der Natur vortreffliche Anlagen
und ein glückliches Temperament erhalten. ‘‘ Seine Leut¬
seligkeit und Jovialität machten sich nicht blos in der
engeren Hofgesellschaft, sondern in weiten Kreisen des
Volkes geltend, da der König jedem Gentleman den Zutritt
zu seinem Palaste gestattete. ,,I)er König hielt täglich
und bis in die Nacht hinein für die gute Gesellschaft
von London offenes Haus, nur die extremen Whigs durften
nicht kommen. Kaum ein Gentleman üind Schwierig¬
keiten, in die Nähe des Königs zu gelangen. Das Lever
war genau das, was das Wort bezeichnet; einige IMänner
von Auszeichnung kamen jeden Morgen, bildeten einen
Kreis um ihren Herrn, plauderten mit ihm, während seine
Perrücke gekämmt und sein Halstuch gebunden ward, und
begleiteten ihn auf seinen Morgenspaziergängen durch den
Park. Alle in gehöriger Weise eingeführte Personen
27
durften ohne besondere Einladung kommen, um zu sehen,
wie er zu Mittag und zu Abend ass, tanzte und Hazard
spielte, konnten das Vergnügen haben, ihn Geschichten
erzählen zu hören, und diese erzählte er in der That
ausgezeichnet gut . . . Zuhörer, welche seine Majestät
erkannten, wurden oft gerufen, um ein freundliches Wort
zu liören. Auf diese Weise machte er wirksamer seinen
königlichen Beruf geltend, als sein Vater oder Grossvater
es jemals vermocht hatten. Es war nicht leicht für den
strengsten Republikaner aus der Schule des Marvel, dem
Zauber von so viel guter Laune und Leutseligkeit zu
widerstehen, und mancher alte Cavalier, an dessen Herzen
die Erinnerung un vergoltener Opfer und Dienste zwanzig
Jahre hindurch genagt hatte, ward in einem Augenblicke
für Wunden und verlorene Güter entschädigt, wenn sein
Souverän ihm freundlich zunickte mit den Worten : „Gott
segne Euch, mein alter Freund.“^) Diese Leutseligkeit
des Monarchen paarte sich mit einem weichen, milden,
zärtlichen, lässigen Wesen. Wenn Trägheit aller Laster
Anfang ist, so trift't dies besonders bei Karl 11. zu. In
einer alten Ausgabe der Werke von R o c h e s t e r und 1) o r s e t
findet sich eine merkwürdige Charakteristik des Königs,
die, wie es scheint, wenig beachtet worden ist, nach
meiner Ansicht aber einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis
der Persönliclikeit desselben liefert. Dort wird gesagt,
dass Karl mehr nachlässig als wollüstig gewesen sei.
Und wie viele weibliche Libertinen jener Zeit hätte er
sich mehr zu Ausschweifungen verleiten lassen um andere
glücklich zu machen, als selbst mit Absicht und Wahl
solche zu seinem eigenen Vergnügen gesucht. Besonders
in den letzten Zeiten seines Lebens wäre mehr Trägheit
.Macaulay a. a. O.
Bd. 1 S. 181: Bd. II S. 95— 9G.
•28
als Liebe in allen jenen Stunden gewesen, die er unter
seinen Maitressen verbraclit habe. Letztere hätten eigent¬
lich nur dazu gedient, sein Serail zu füllen. Sein eigent¬
liches Vergnügen sei die Unterhaltung und die Tändelei
gewesen.!) Bei der Psjxhologie des Wüstlingtums darf
man nicht übersehen, dass es nicht immer die Wollust ist,
welche den Müssiggang erzeugt. Oft genug besteht der
umgekehrte Circulus vitiosus. Trägheit ist die LTrsache
des Lasters. So war auch Karl 11. ein „Liebhaber des
Müssiggangs und leichtfertiger Vergnügungen, unfähig,
sich selbst zu beherrschen und sich anzustrengen, ohne
Glauben an menschliche Tugend und menschliche Zu¬
neigung, ohne Begierde nach Ruhm und ohne Emi)findung
für Tadel . . . Seine leichtsinnige Schwäche war von
einer Art, wie sie niemals ein Mann von gleichem Ver¬
stände besessen hat; er war ein Sklave, ohne ein Be¬
trogener zu sein; . . dabei über alles Mass dem Sinnes¬
genuss ergeben.““)
Treffend ist Hamilton’s kurze Schilderung Karl ’s:
„Der König stand an Gestalt, an Haltung und Tracht
keinem nach. Sein Geist war gewandt, sein Charakter
mild und freundlich. Allen Eindrücken offen war seine
Seele mitleidsvoll für das Unglück gestimmt, unbeugsam
gegen Verbrechen, und sein Herz war bis zum Obermaass
zärtlicher Natur. Bei dringenden Gelegenheiten jeder
Anstrengung fähig, vermochte er bei gewöhnlichem Gange
der Dinge sich mit nichts ernst zu beschäftigen. Oft war
er das getäuschte Opfer, öfter noch der Sklave seiner
Neigungen.“
h ,.A Short Cliarncter of King Charles H“ in: The Works
of the Earls of Rochester, Roscommon, Dorset etc.“ London
1714, 1)(1. 1, S. LH bis LX.
Macaiilay a. a. (4. S. 181 — 182; S. 183.
'h ,,Crainmoüt’s Memoiren“ S. 75.
•29
Wenn dieser König ohne Grundsätze, ohne Charakter
und Energie auch eine sehr sinnliche Natur war und sich
einen wahren Harem von Maitresseu einrichtete, so war
ihm doch die Liebe mehr Zeitvertreib als tiefe Leiden¬
schaft. Die Liebe galt der Gesellschaft jener Zeit als
eine verwertbare Münze. Mrs. Manley sagt in ihrer
,,Atalantis“: „Dass man heut zu Tage nicht mehr also zu
lieben pflege, sondern unter dieser Passion seinen Nutzen
und Glücke hauptsächlich intendiren müsse.“ i) Es lag
im Interesse der Frauen, alle Welt in sich verliebt zu
machen, und die Indifferenz eines Cavaliers wurde schon
als eine Beleidigung empfunden. Der König befestigte
durch sein Beispiel diese Anschauung. Schon damals
tauchten auch die „vapeurs“, die ,, Dünste“, unsere heutige
Hysterie auf, um Veränderungen in der Liebe eiii-
zuleiten und betrogene Ehemänner zu täuschen und zu
trösten. „Es war damals Mode, allen dergleichen Kranck-
heiten, deren Ursache man nicht wüste, den Nahmen der
Dünste beyzulegen. Wann etwan eine Dame kein Geld
hatte, hasset te zu spielen, und ihr Mann wollte ihr
keines geben, so kamen ihr alsobald die Dünste zu Hülffe,
und sie unterliesse ja nicht, von denenselben beschwehret
zu werden. Dessgleichen, wann man ihr die Freyheit
benahm, eine kleine Lust-Gesellschafft mit andern anzu¬
stellen, so verfügte sie sich incognito in einer Mieth-
Kutsche zu ihrer Schneiderin, unter den Voiuvand, sich
ein Kleid machen zu lassen; ihr Amant aber kam auch
darzu, und durch diese artige Erfindung war der Mann
betrogen ; doch was wolte er machen ; wiedersetzte er sich
y „Die Atalantis der ^Madame Manley oder eine ge-
lieime Nachricht von denen vornehmsten Personen in Engelland“
Haag 1714, S. 631.
■’) ibidem S. 488.
30
dem Willen der Dame, so muste er gewärtig seyii, dass
die Dünste ihr liefftig ziisetzten. Mit einem Wort, die
Dünste waren so starck Mode, dass man wohl sagen
konte, dass diese ünpässliclikeit zum Vorwand, und offt
gar zur Artzney vor allerley Krankheiten diente.“^)
Nach diesen Vorhemerkiingen über den äusseren
Charakter des Hofes KarPs 11. suchen wir uns die her¬
vorragendsten Persönlichkeiten dieses Hofes zu vergegen¬
wärtigen. Zunächst die Damen.
Es ist eine erlesene Gallerie wunderbarer Schönheiten,
welche uns da entgegentritt. Ich habe schon im ersten
Hände dieses Werkes über die aussergewöhnliche Schönheit
der englischen Frauen berichtet. Ich verweise an dieser
Stelle noch auf das interessante Kapitel ,,La beaute ang-
laise“ in einem Buche von Felix Kemo. Die Eng¬
länderin hat nach Eemo etwas von den Jungfrauen des
Murillo. Sie fiel eines Tages aus dem Aetlier wie eine
graciöse Feuerkugel (bolide) und hat in ihren leuchtenden
Augen noch zwei Überbleibsel dieser Sternennatur bewahrt.
Diese Augen sind zärtlich und tief, verschleiert, zugleich
sanft und voll Leuchten. Das schelmische Auge ist nicht
englisch, sondern französisch. Ohr und Nase der Eng¬
länderin sind klein, das Gesicht ist von einem graciösen
Oval, der Teint durchsichtig, ein wenig blass, von einem
tlüchtigen Kot durchleuchtet. Der Mund ist ausser¬
ordentlich zierlich, so dass man „ihn kaum küssen kann“,
dabei von einer feinen, reizenden Wölbung. Der ganze
Körper ist wie von Seide. Und ,,rjen n’est plus gracieux
b ibidem S. 484.
2) S. 35—62.
b F. Kemo ,,La Vie Galante en Angleterre“ Paris 1887.
S. 121-133.
31
que les courbes delicates et provocantes dont est fait
riiiterienr des jambes, dans leiir ligne ascendante.“ Was
den feinen, sanften, harmonischen Gesichtern der Eng¬
länderinnen am meisten fehlt, ist der Ausdruck, die
sprecliende Physiognomie, welche die Schönheit der Frauen
des Continents ausmacht. „On dirait qu’elles ne pensent
pas, quelles ne sentent rien. L’enthousiasme ne les
deride jamais; les grandes sensations, les emouvantes
admirations n’illuminent pas ces jolis traits, voues ä une
Sorte d’indifference. Elles ne montrent jamais, meines
dans les chaudes expansions d’amour, ces eclairs passionnes
des filles lascives de POrient. Le sourire est la seule
cause de mobilite; aussi savent-elles en jouer, et d’une
maniere tres ensorcelante.“i) Die Engländerin ist mehr
aetherischer Natur, die Französin sinnlicher und zur
Sinnlichkeit mehr reizend. Es sind die reinen und keuschen
Züge, welche die Schönheit der Engländerinnen so an¬
ziehend und ergreifend erscheinen lassen. Diese feine
Transparenz des Teints wirkt gleichsam als ein Symbol
der Unschuld. Diese Schönheit des englischen Weibes
tritt auch in Hamiltons Schilderung der Hofdamen
Karl ’s H. deutlich hervor. Wir finden in „GrammonP^
dieses „raout de beautes anglaises les plus fines et les plus
aristocratiques du monde, et dont le peintre a rendu avec
distinction les moindres delicatesses“ (Sainte-Beuve).
Einen anderen Eindruck machten die berühmten Bilder
von Le ly, die Tai ne mit denjenigen Yan Dyk ’s ver¬
gleicht, indem er sagt, dass man einen Palast verlassen
habe, um in ein Bordell zu fallen. Ich • setze Tai ne s
Urteil hierher, ohne freilicli dasselbe völlig zu teilen.
h ibi'leiii S. 125.
,,An Stelle jenes stolzen, ruhig vornehmen Lords, cler^
obgleich Holmann ge^yorden, doch den Edelmann nicht
verleugnen kann; an Stelle jener edlen, feinen und doch
so einfachen Damen, die Fürstenhoheit und Jungfräulich¬
keit in sich vereinen; an Stelle jener grossherzig-heroischen
elegant geschmückten Gesellschaft, die, noch umsti’ahlt
vom Glanze der Eenaissance, doch schon die Verfeinerung
der modernen Zeit durchblicken lässt — trifft man auf
gefährliche, zudringlich herausfordernde Buhlerinnen mit
gemeinen, widrigderben Zügen, jeglichen Schamgefühls,
jeglicher Reue bar. Ihre lleischigen, vollen, weichen
Hände tändeln mit ihren Grübchenfingern; eine schwere
Lockenfülle walJt über ihre vollentblössten Schultern;
sinnliche Augen schmachten in verlockender Glut, ein
mattes Lächeln umgiebt ihre wollustatmenden Lippen.
Die eine bindet die Wellen üppigen Haares auf, das un-
gefesselt auf den rosigen, fein gewölbten Busen herab¬
wallt; die andre öffnet in schmachtender Selbstvergessenheit
und nachlässiger Haltung einen Ärmel, dessen weiche,
tiefe Falten uns einen schneeweissen Arm enthüllen. Fast
alle sind nur halb angekleidet, manche scheinen eben erst
das Bett verlassen zu haben; das zerknitterte Nachtgewand
umschliesst eng den Hals und scheint zerstört und be¬
schmutzt durch eine wilde nächtliche Orgie; der zer¬
drückte Unterrock gleitet über die Hüften, und ihre
Füsschen zerknittern die schillernde, glänzende Seide.
Obgleich ihr Busen schamlos entblösst, so schmücken sie
sich doch frech wie die Dirnen mit reichlicli überladener
Pracht; Diamantengürtel, bauschige Spitzen, glänzende
Goldspangen, rauschende, mit schweren Stickereien besetzte
Stoffe, ein ungeheurer Haarschmuck, dessen üppig flutende
Lockenfülle durch die frech zur Schau gestellte Pracht
33
den pjlick lieransfordernd auf sich zieht. Kunstreich ge¬
faltete Vorhänge fallen herab in Form einer Nische, und
die Augen tauchen sinnend durch einen Ausblick in die
stillen Baumalleen eines weiten Parkes, dessen Ab¬
geschiedenheit ihren sinnlichen Lüsten gelegen sein wird.‘‘
Zu auffällig kontrastieren mit diesem Urteile die
Schilderungen Hamilton’s und anderer Zeitgenossen
der ,,Hampton Court Beauties“, als dass man nicht hier
eine Übertreibung annehmen sollte.
Unter den zahlreichen Maitressen KarUs 11. sind die
drei berühmtesten ohne Zweifel die Lady C a s 1 1 e m a i n e ,
die Herzogin von Portsmouth und Nelly Gwynn.
Barbara Villiers, Gräfin von Castlemaine
und später Herzogin von Cleveland, wurde 1641 als
Tochter von William Villiers, zweiten Viscount
Gran di so n in Westminster geboren. Schon seit 1656
war sie von einem Kreise zahlreicher Verehrer um¬
geben, sie verheiratete sich am 14. April 1659 mit
Poger Palmer, späteren Earl of Castlemaine. Er
scheint jedoch nicht der Vater von irgend einem ihrer
vielen Kinder gewesen zu sein. Hie Intimität zwischen
Karl 11. und Mrs. Palmer begann am 28. Mai 1660,
dem Tage der Kückkehr des Königs nach Whitehall. Am
25. Eebruar 1661 gebar sie ihr erstes Kind, Anna, das
der König als seine Tochter anerkannte, obgleich man
es dem Earl of Chesterfield zusprach, mit dem es
eine frappante Ähnlichkeit hatte. Als am 13. Mai 1662
Katharina von Braganza, die Karl IL zu seiner Ge¬
mahlin erwählt hatte, ankam, war der König, Avie Pepys
b II. Taine a. a. 0. Bd. H 8.3—4. Taine bezieht diese
Schilderung besonders auf die Porträts der Lady AloorelancI,
der Lady \\Glliams, der Gräfin Ossory, der TIerzogin von
Cleveland und der Lady Pryce.
Dühreü, Das Geschlechtsleben in England.**’
8
34
in seinem Tagebncli erzählt, ebenfalls bei der Lady
Castlemaine. Vor ihrem Hause aber sei kein Licht
gewesen, was grosses Aufsehen erregte. Der König und
seine Geliebte hätten nach einer Wage geschickt, um
sich zu wiegen; die Lady, welche guter Hoffnung war,
sei der schwerste Teil gewesen. Überhaupt that sich die
Castlemaine durch ein sehr arrogantes Benehmen gegen
die neue Königin hervor. Pepys erzählt: ,, Die Königin
sagte inmitten ihrer Frauen zu Lady Castlemaine, sie
fürchte, der König werde sich erkälten, wenn er bei ihr
tief bis in die Nacht bleibe. Diese antwortete laut: er
bleibe nicht bei ihr so s])ät, denn er verlasse sie immer
frühzeitig — (obgleich er selten vor 2 — 3 Uhr Morgens
fortgehf); — er müsse also wohl die Nacht wo anders
zubringen. — Hier trat der König gerade ein und wie
er die freche Äusserung hörte, flüsterte er ihr ins Ohr,
nannte sie ein keckes, impertinentes Weib und befahl
ihr, den Hof zu verlassen. Sie that das sogleich, zog
nach einer Mietswohnung in Pall Mall und blieb dort
2 — 3 Tage. Dann liess sie den Fürsten fragen, ob sie
ihre Sachen holen lassen könne. Er liess antworten, sie
solle erst kommen, sie zu sehen. So kam sie denn, der
König ging zu ihr und sie wurden wieder gute Freunde.“
Solche vorübergehenden Trennungen waren häufig, wobei
dieses energische Weib den schwächlichen König immer
derartig zu behandeln wusste, dass er demütig zu Kreuze
kroch. So Pepys ein ander Mal: ,, Wenn auch der König
und Ladv C a s 1 1 e m a i n e wieder versöhnt sind, so wohnt
sie doch nicht in Wliitehall, sondern bei Sir D. Harris,
wo der Fürst sie besucht. Er sagt, sie verlange, er solle
sie auf den Knieen um Vergebung bitten und ihr ver¬
sprechen, sie nie wieder so zu beleidigen. Sie drohte
35
'^virklich, ihm seine natürlichen Kinder vor die Thüre zu
■schicken, und so hat sie ihn fast um den Verstand ge¬
bracht. In ihrer Wut rief sie, sie wolle quitt mit dem König
sein und alle seine Briefe an sie drucken lassen.“ Trotz
■des Widerstrehens der Königin wurde Lady Castle mai ne
dem Hofstaat derselben zugeteilt. Im Juni 1662 gebar
■sie dem Könige ein zweites Kind, ihren Sohn Charles.
Sie fing nunmehr an, zahlreiche andere Liebschaften zu
unterhalten. Trotzdem besuchte sie der König noch
immer an vier Abenden in der Woche, indem er „durch
den Privatgarten ganz allein und heimlich zurückkehrte,
so dass die Schild wachen sogar es bemerken und davon
sprechen, was ein schlimmes Ding für einen Fürsten ist.“
(Pepys). Am 20. September 1663 kam das dritte Kind
der Castlemaine, Henrjq zur Welt. Der König er¬
kannte dieses Kind nicht als das seinige an. Trotzdem
überhäufte er sie bei dieser Gelegenheit mit kostbaren
Geschenken. Zwei weitere Kinder folgten am 5. Sep¬
tember 1664 und am 28. December 1665. Im Jahre
1666 bezog die Castlemaine ihre sehr luxuriös aus¬
gestatteten Zimmer in Hampton Court. Damals führte
ihre Liebschaft mit dem nichtigen Sir Harry Jermyn^)
zu häufigen Streitigkeiten mit dem Könige. — Im März
b „Um zu den Herzen der Frauen Zugang zu finden,
bedarf man nur eines günstigen Vorurteils in ihren Köpfen.
Jermyn fand sie für sich so bequem gestimmt, dass er nur
.anzuklopfen brauchte. Es half auch nichts, dass man entdeckte,
ein so schwacli begründeter Ruf wird noch schwächer be-
thätigt. Die Rezauberung steckte an. Die Gräfin Castlemaine,
lebhaft und doch sonst als Kennerin geltend, folgte dem
täuschenden Licht, und wenn sie auch bald über einen Schein
aufgeklärt ward, der so viel versprach und so wenig gewährte,
-SO wollte sie doch ihren eigenen Fehlgriff nicht anerkennen.
Sie hielt das V erhältnis bis auf die Gefahr eines Bruchs mit
fiem Könige hin aufrecht; so seltsam hatte sie zum ersten
Male ihre ä’reue angebracht.“ GrammonUs IMemoiren S. 79.
3*
36
1668, als viele Bordelle in der City aufgehoben wurden,,
erschien ein ingeniöses Pamphlet ,,Der armen Huren
Petition an die höchst glänzende, illustre, durchlauchtige-
und hervorragende Lustdame, die Gräfin von Castle maine“,,
unterzeichnet Madame C r e s w e 1 P) ; etwas später folgte
eine burleske Antwort ,,given at our closset in King Street,,
die Veneris, 24. April 1668.“ — Seit 1674 wurde die
Castlemaine aus dem Herzen des Königs verdrängt
durch die Herzogin von Portsmouth, tröstete sich aber
mit zahlreichen neuen Anbetern, wie z. B. John Ellis,
Besonderes Aufsehen erregte ihre Liaison mit dem Seil--
tänzer Jacob Hall und mit John Churchill, dem
später so berühmten Herzog von Marlbo rough. Über
den Ersteren berichtet Hamilton in seiner kurzen, aber
vielsagenden Art: „Jakob Hall, ein berühmter Seiltänzer,,
war zu jener Zeit in London Mode und entzückte durch
Kraft und Gewandtheit bei öffentlichen Vorstellungen;,
man wünschte sich privatim von seinen Eigenschaften zu
überzeugen; denn er wies in seiner Künstlertracht eine-
athletische Gestalt und ganz andre Beine auf, als der
sieggewohnte Jermyn. Der Springer täuschte die Er¬
wartungen der Lady Castlemaine nicht; so wenigstens
behauptete manches Gerücht im Publikum und so ver¬
kündeten es zahlreiche Spottgedichte, allerdings mehr zu
Ehren des Tänzers als der Gräfin. Sie aber setzte sich
über alles Geschwätz hinweg und ihre Schönheit leuchtete
desto glänzender.“-) Mary Manley hat in ihrer
„Atalantis“ das Verhältnis zwischen Marlbor ough und
Lady Castlemaine sehr ausführlich geschildert. Die-
b Eine berüchtigte Kupplerin zur Zeit Karl’s II. VgL
über dieselbe Bd. I dieses Merkes S. 340 — 341.
2) „Graininont’s ]\Ieinoiren.‘' S. 89.
37
Oastlemaine wird hier treffend als „Duchesse de Fln-
constant“, die „Herzogin von Unbestand“ bezeichnet;
„Fortiinatus“ ist John Churchill, der spätere Herzog
von Marlborough. Eine seiner Basen ,,war Auffseherin
in dem Hause der Hertzogin von ünbestand und Favoritin
des Kaysers Sigismund des andern und diese war von
der gantzen Familie die vornehmste. Der junge Fortunatus
besuchte sie fleissig, und als ihn die Hertzogin einmal
'ohngefehr bey derselben antraffe, so warf sie alsobald, wie
sie ohnedem von Natur leicht zu bewegen war, eine Liebe
auf denselben und befahl ihm, dass, wann der König sich
zu Bette begeben, er sich zu ihr verfügen solte. Die
schlaue Hofmeisterin, welche den Sinn ihrer Frauen wohl
wüste, konnte schon errathen, wozu dieselbe ihren Vetter
gebrauchen wolte; und weil sie sich über dieses gute
Glücke sehr erfreute, so brachte si den gantzen Tag zu,
ihn einzusalben und zu parfümiren, damit er desto ge¬
schickter seyn möchte, den Liebes-Triumph zu erhalten.
Nachdeme sie ihme nun alle nöthige Erinnerungen ge¬
geben, so führt sie diesen jungen Adonis vor das Bette
seiner verliebten Venus. Die Hertzogin war hierüber vor
Vergnügen fast entzücket; dann sie stundt in denen Ge-
dancken, dass sie die allererste Funcken dieses jungen
Hertzens fange, und ihm die ersten Seuffzer verursache.
Die flestürtziing, welche aus seinem Gesichte hervorsahe,
und ihn dergestalt eingenommen hatte, dass er selbst
nicht wüste wie ihm geschähe; und dann die wenige Er¬
fahrung, welche er an Tag gäbe; alles dieses waren neue
Liebes-Reitzungen vor dieselbe. Sie war auch sehr vergnügt
über seine erste Probe; und er wüste sich gleichfals dieses
“) Damit ist Karl II. gemeint.
38
guten Glückes trefflich zu gebrauchen.“^) Biachof Burnet
erzählt: „Als die Herzogin von Cleveland sich vom
König verlassen glaubte, so überliess sie sich vielfacher
Untreue; bei einer Gelegenheit wurde sie durch Bucking¬
ham ’s Vermittlung vom Könige selbst ertappt; der Galan
sprang dabei aus dem Fenster.“
1) „Atalantis.‘‘ S. 580 — 582.
2) Ich teile hier Lord Cliesterfield’s berühmte
Charakteristik des Herzogs von ]\[arlb oro u gh mit: „Von
allen Männern, die ich je beobachtet, — und ich kannte den
Herzog sehr genau, — besass Churchill Anmut im höchsten
Masse, er verkörperte die Grazien in sich und gewann da¬
durch mehr, als je ein Mensch erlangte; denn ich wage im
AViderspriich mit grossen Historikeru, welche allen Begeben¬
heiten tiefliegende Ursachen unterschieben, ohne Scheu die
bedeutendere Hälfte von seinen Erfolgen dieser vollendeten
Anmut zuzuschreiben. Er war ohne alle litterarische Bildung
und handhabte die Muttersprache schlecht: auch seine Ortho¬
graphie war ganz mangelhaft. Er besass kein besondres
Talent und war ebenso wenig ein glänzendes Genie. Ohne
Zweifel hatte er aber gesunden Menschenverstand und Urteils¬
kraft im höchsten Grade. Uies würde ihn jedoch nicht weit
über seine erste Stufe erhoben haben, nämlich über die
Stellung eines Pagen bei der Gemahlin Jak ob’s II. Hier
trugen ihn aber plötzlich die Huldgöttinnen empor; denn als
Gardefähnrich erblickte ihn die Hauptmaitresse König Karl ’s,,
und sie wandte ihm fünftausend Pfund Sterling zu. Damit
kaufte er sich eine Leibrente zu 500 Pfund von meinem Gross¬
vater Halifax. Diese bildete den Grundstein seines späteren
Vermögens. Seine Gestalt war schön, seine Manieren, Krauen
und Männern gegenüber, unwiderstehlich. Durch das ein¬
nehmendste AAesen gelang es ihm, die ganze Zeit des Krieges
hindurch die uneinigen Mächte der grossen Allianz zusammen¬
zuhalten und in Kraft unverwandt auf das grosse Ziel des
Kam|)fes zu lenken, — trotz aller ihrer Privatzänkereien und
Verkehrtheiten. An welchen Hof er sich auch begab, — und
er musste oft zu den widerspäustigsten Kabinetten in eigener
Person gehen, immer gelang es ihm, Alles zu überreden und
zu seinen Absichten zu lenken. . . Er war immer kalt und
Herr über sich selbst; Niemand bemerkte in seinem Antlitz
irgend einen Wechsel. Mit grösserer Huld, als Avomit Andere-
eine Sache gewähren, Amrstand er etAvas abzuschlagen, und
selbst die, die ihn am unzufriedensten Amrliessen, A\mren doch
entzückt Amn seiner Person und durch seine Manier einiger-
massen über das Misslingen getröstet.“ Citirt nach „Gram-
mont’s JMemoiren“ (Erläuterungen) S. 342-343.
39
Auch den Komödien dichter W i 1 1 j a)n W y c h e r 1 e y ,
einen sehr schönen Mann, zog diese Messalina in ihre Netze,
und wie es zu ihrer Liaison mit Lord Dover kam,
erzählt uns Mrs. Manley ebenfalls in recht drastischer
Weise. Längst war Churchill, verliebt in Sarah
Jennings, seine spätere berühmte Gemahlin, der Liebelei
mit der Castlemaine überdrüssig und gedachte ihr bei
guter Gelegenheit den Abschied zu geben. Er überredete
also Lord Dover, bei einem Kendezvous mit der Herzogin
von Cleveland statt seiner zu erscheinen. „Die Hertzogin
solte den folgenden Tag nach Tische zu dem Grafen
kommen, und das Verlangen, das sie hatte, bey ihm zu
sein, liess ihr nicht recht Zeit, dass sie recht zu Mittag
speisste, sondern sich just zu der bestimmten Zeit daselbst
einfand. Weil man sie nun da erwartete, so hatte man
nach Gewohnheit -alle Domestiquen auf die Seite geschafft,
und nur einen, welcher um die Heimlichkeiten wüste,
dagelassen, welcher zu ihr sagte, dass sie den Grafen in
einem kleinen Cabinet antreffen würde, allwo er sich
schlafen geleget, nachdem er vom Bade gekommen. Die
Hertzogin trat alsobald hinein. Die Fenster waren zugemacht,
und die Vorhänge vorgezogen, dass es also ganz dunkel
wäre. Nichts desto weniger erblickte sie auf einem Kuhe-
Bette einen Menschen, welcher unter dem Vorwände der
Sommer-Hitze auf eine unanständige Weise ausgestreckt
lag, und nichts als einen leichten Schlaftrock autf sich
hatte, welcher den Leib bedeckte. Daneben hatte er
solche Vorsichtigkeit gebraucht, dass er von der Hertzogin
nicht möge erkannt werden, bedeckte er sein Gesichte
mit denen von dem Polster abhangenden Spitzen. Die
Freude, welche er über die Ankunfft der Hertzogin spürte,
verursachte einige Bewegung bey ihm, welche der Hertzogin
40
dergestalt wolgefiele, dass sie keinen Augenblick länger
versäumen wolle, dieser angenehmen Situation zu geniessen.“
Was folgte, lässt sich denken. x4m 16. Juni 1672 gebar
die C a s 1 1 e m a i n e wiederum — patre incerto — ein Kind,
ihre dritte Tochter Barbara, ging 1677 nach Paris, von
wo aus sie mit dem Könige eifrig correspondierte, kehrte
1685 nach England zurück, um hier mit dem Schauspieler
Goodman ein Verhältnis anzuknüpfen, von dem diese
fruchtbarste aller Maitressen im März 1686 wieder einen
Sohn bekam. Seitdem hatte sie wieder zahllose Lieb¬
schaften. Ihr Gatte, Earl of C a s 1 1 e m a i n e, der unter Jacob II.
als Gesandter beim Papst sich gerade nicht mit Ruhm
bedeckt hatte, starb am 21. Juli 1705. Vier Monate
später heiratete die männertolle, 64 Jahre alte Witwe
den jungen Robert Feilding, einen der schönsten
Männer seiner Zeit, der deswegen auch „Beau Feil ding“
genannt wurde. Er war aber ein roher Patron, der seine
alte Gattin gröblich misshandelte. Glücklicherweise stellte
sich heraus, dass er' auch mit einer Anderen verheiratet war.
So wurde von der C a s 1 1 e m a i n e die Scheidung eingeleitet.
Bei dem Scheidungsprozesse wurden Briefe der letzteren
vorgelegt, die sich durch eine starke Indecenz auszeichneten,
was die Erzählungen von der Depravation dieser Dame
glaubwürdig erscheinen lässt. Dieses letzte Ereignis
überlebte Ladv Castlemaine nur wenige Jahre. Sie
starb am 8. Oktober 1709 an der Wassersucht. — Diese
Frau, welche Macaulay ,,das verschwenderischste, herrsch¬
süchtigste und schamloseste unter den gesunkenen Weibern“
nennt^), zeichnete sich durch eine aussergewöhnliche
Schönheit der Gestalt und des Gesichtes aus. Nach
Oldmixon war sie die ,, schönste und wollüstigste“ der
1) Macaulay a. a. 0. Bd. III S. 278.
41
königlichen Conciibinen. Sie hatte ein zierliches rundes
Gesicht von kindlichem Ausdrucke, rotbraunes Haar und
herrliche dunkelblaue Augen. Zahlreiche Gemälde haben
diese berühmte Schönheit der Nachwelt überliefert. Von
oder nach Lely giebt es allein fünf Bilder der
C a s 1 1 e m a i n e , davon eins in der bekannten Hampton
■Court Gallery. Ferner haben Will, Gascar u. A. ihr
Portrait gemalt, i)
Louise R e n e e de K e r o u a i 1 1 e (K e r o u a 1 1 e),
Herzogin von Portsmouth und Aubigny wurde im
Jahre 1649 als Tochter eines bretonischen Edelmannes
geboren. Sie wurde Hofdame der Herzogin Henriette
Yon Orleans, einer Schwester Karls H; mit der sie im
Jahre 1670 nach England kam. Der König war damals
Rer Lady Castlemaine überdrüssig. Im November
1670 sah Evelyn zuerst diese neue „berühmte Schön¬
heit, die aber nach meinem Dafürhalten, ein kindisches,
einfältiges Babygesicht hat.“ Im Oktober 1671 wurde
«ie zur offiziellen Maitresse Karls H. erhoben, wozu
Ludwig XIV. ihr gratulierte. Am 29. Juli 1672 gebar
sie dem König einen Sohn, Charles Lennox, ersten
Herzog von Richmond. In England war sie als Fran¬
zösin und Katholikin sehr unbeliebt. Das Volk nannte
sie „Carewell“ oder ,, Madame Carwell“. Am 19. August
1673 erhielt sie den Titel einer Herzogin von Ports¬
mouth, dem Ludwig XIV. denjenigen einer Herzogin
von Aubigny hinzufügte. Durch ihren Einfluss be-
Die ganze Darstellung liauptsächlicli nach „Dictionary
öf National Hiography“ ed. by Sidney Lee, London 1891).
Bd. 58, S. 312 — 318. Ygl. ferner G. S. Steinniann „Memoirs
of Barbara, Duchess of Cleveland“ London 1871; Mrs. Man-
ley’s „Atalantis“; Grammont’s Memoiren; Macaulay’s ,, Ge¬
schichte von England“; l‘e2)ys’ Tagebucli.
42
wirkte sie Ka rl ’s Annäherung an Frankreich^) Sie
erhielt sich noch bis zum Tode des Königs in ihrer Stellung,
die auch äusserlich eine sehr glänzende war. So bezog
sie im ganzen 136 668 Pfund Sterling vom Könige. Ihre
Wohnung war mit dem äussersten Luxus eingerichtet.
Nach Evelyn waren ihre Gemächer in White hall
„zehnmal so schön als die der Königin selbst.“ Er erzählt
in seinem Tagebuche von einem Besuche, den er mit dem
König der Herzogin ahstattete. „Indem ich Seiner Majestät
durch die Gallerie folgte, ging ich mit seinen wenigen
Begleitern in das Ankleidezimmer der Herzogin von
Portsmouth neben ihrem Schlafzimmer. Sie war
dort in ihrer leichten Morgenkleidung, eben aus dem
Bette gekommen, und Seine Majestät und die Galans
standen um sie herum, während ihre Mädchen sie
kämmten. Am meisten erregte aber meine Aufmerksamkeit
die reiche und glänzende Ausstattung im Zimmer dieser
Frau.“ Nach dem Tode Karl’s H. kehrte die Herzogin
nach Frankreich zurück und beschloss ihr Leben auf dem
Gute zu Aubigny. Sie starb erst am 14. November 1734.
Voltaire sah sie in ihrem Alter und fand sie sehr
schön. Auch George Selwyn hat sie noch gesehen. —
Lely, Kneller, H. Gascar und Mignard haben das
Bild dieser aussergewöhnlichen Schönheit gemalt, deren
,, sanfte und kindliche Züge noch lieblicher wurden durch
Macaiilay schreibt der Schwester Karl’s IL, der
oben erwähnten Herzogin Henriette von Orleans, den
grössten Anteil an dieser Annäherung zu (a. a. 0. S. 221).
„Es gelang dem Zureden der Schwester wie dem Zauber ihrer
Freundin, den schwachen Karl in der kurzen Zeit von zehn
Tagen ganz so zu stimmen, wie Ludwng es wünschte,“
Grammont (Erläuterung) S. 311.
^) V^gl. auch die Schilderung der Zimmer bei ^lacaulay
Bd. H. S. 169.
43
französische Lebendigkeit“ (Macaiilay). Ihr Motto „En
la rose je tlenris“ wird noch von ihren Xaclikommen,
den Herzogen von Eichmond nnd Gordon geführt^)
Oline Zweifel die anziehendste Gestalt unter den
^laitressen Karl’s 11. , und diejenige, deren Gedächtnis
sich bis heute im Yolksmunde erhalten hat, war Nelly
Gwynn. Sie war schon zu Lebzeiten die populärste aller
königlichen Geliebten wegen ihres treuherzigen, kindlichen,
naiven und dabei echt englischen Wesens. Überhaupt
waren nach Thomas Campbell unter Karl ’s Mai¬
tressen die „Loves of the Theatre“ die am wenigsten
kostspieligen und unpopulären. -) Eine solche „Theater¬
liebste“ war auch Nell G w v n n.
t/
Eleanor Gwyn (oder Gwynn), gewöhnlich ,,Nell
Gwynn“ genannt, wurde am 2. Februar 1650 als
Tochter einer Fischhändlerin in London geboren. Bis zu
ihrem 13. Jahre verkaufte sie Orangen im Theatre Royal,
oder auch, nach einer Satire Ro ehester’ s, Heringe.
Dann nahm ein umherziehender Gaukler sie in seine
Truppe auf und Hess sie in den Wirtshäusern singen.
Ihr hübsches Gesicht veranlasste die berüchtigte Kupplerin
„Mother Ross“^j, sie in ihr Freudenhaus aufzunehmen,
wo sie ihr Unterricht im Schreiben, Rechnen und Singen
erteilen Hess. Zu ihren Liebhabern zählten auch die
Schauspieler Charles Hart und Jo lin Laoy. Hart
Übernahm es, die talentvolle Nelly für das Theater aus-
h Darstellung nach „Dictionary of National Biography“
London 1892 Bd. 3l S. 59— ; J. 11. J e s s e „Literary and llisto-
rical IMeniorials of London“ London 1847 Bd. II S. 210 — 211.
1^] V e 1 y 11 ’ s Tagebuch ; H. P' o r n e r o n „Louise de Keroualle,
Duchesse de Portsniouth“ Paris 188(5.
D 'IHionias Canipliell „Life of Mrs. Siddons“ London
1834 Bd. 1. S. 99.
3) \^gl. Bd. r S. 340.
44
zubildeii. Sie trat zuerst im Jahre 16G5 als Cydaria in
dem „Indian Eniperor‘^ von Dryden auf. Sie war
zwar keine Künstlerin ersten Eanges, verband aber mit
natürlicher Lebhaftigkeit und Grazie ein nicht unbe¬
deutendes Talent im Gesänge und Tanze, l^epys drückt
oft seiue Bewunderung über sie aus. Er nennt sie „pretty
witty Nell“ (3. April 1665). „Die Frauen spielen recht gut,
aber vor allen klein Nelly.“ Nachdem er sie in „Celia“
gesehen hatte, küsste er sie. Dasselbe that seine Frau,
und er fügt hinzu „und sie ist ejn mächtig hübsches
Geschöpf“ (23. Januar 1666). Des Königs Blicke zog
Nelly im Jahre 1671 auf sich. Dry den hatte für sie
einen Epilog zu seinem Stücke „Tyrannische Liebe“ ge¬
schrieben. Solche Epiloge, welche die leichtfertigsten
Verse enthielten, liess man damals mit Vorliebe von
Frauen sprechen. „In den Epilogen herrschte die grösste
Zügellosigkeit, sie wurden fast immer von den beliebtesten
Schauspielerinnen hergesagt, und nichts entzückte das
entartete Publikum so sehr, als die schlüpfrigsten Verse
von einem schönen Mädchen vorgetragen zu hören, von
welchem man glaubte, dass es seine LTischuld noch nicht
verloren habe.“ Hierzu kam noch in diesem Falle ein
besonderer Umstand. William Preston, ein mittel-
mässiger Schauspieler an einer kleinen Bühne, war in
einem neuen Stück mit auffallend grossem Hut erschienen,
was dem ebenso unbedeutenden Stücke zu einem un¬
erwartet günstigen Erfolge verhalf. Deshalb liess Dry den
die Nelly Gwynn mit einem Hute „von dem Umfange
eines grossen Wagenrades“ auftreten, wobei ihre kleine
Figur so drollig aussah und einen so reizenden Eindruck
machte, dass alle Welt bezaubert war, und König Karl
b Macaulay a. a. 0. Bd. II S. 131.
45
sie mit nach Hanse nahm und sofort zu seiner Maitresse
machte, obgleich sie noch im Theater auftrat, avo Dryclen
ihr seine besten Köllen überAvies, und sie der Lieblinof
des Publikums blieb. Über ihr Auftreten in Dry den ’s
„jungfräulicher Königin“ berichtet Pepys: „In diesem
Stück ist eine komische Kolle: Florinel, von der ich nie
ei’Avarten darf, sie je Avieder so gut gespielt zu sehen Avie
A'on Nell GAvynn, sOAvohl in dem Teil, aa^o sie als
AAÜldes Mädchen auftritt, Avie auch, Avenii sie als junger
Stutzer erscheint. Sie giebt darin die Haltung und
Manieren eines jungen Fants so trefllich, Avie nur irgend
ein Schauspieler sie geben kann.“ Zahlreiche Anekdoten,
besonders in Tom BroAvn’s „State Poems“ und in
den Gedichten Amn Ether ege beAveisen, Avie populär
N e 1 1 y binnen kurzer Zeit geAvorden Avar. Sie Avurde
als „des armen Mannes Freundin“ bezeichnet und ihre
Stellung als Maitresse erregte viel Aveniger Anstoss als
diejenige der adligen Geliebten des Königs. Das Volk
betrachtete dies gleichsam mehr als ein Schicksal denn
als ein Laster. Es nahm in den Streitigkeiten, die ZAvischen
Nell GAvynn und der Herzogin von Portsmouth
unaufhörlich vorgingen, mit Leidenschaft für die erstere
Partei. Es giebt mehrere bezeichnende Erzählungen darüber.
Einmal rottete sich die Menge vor dem Laden eines
JuAveliers in Cheapside zusammen, als die Herzogin von
Portsmouth sich bei diesem ein prachtvolles Silber-
Service, ein Geschenk des Königs, abholte, und brach in
Schmähungen gegen die Herzogin aus. Sie riefen, dass
sie am liebsten das Silber geschmolzen sähen, um es ihr
in den Hals zu giessen. Das Geschenk gehöre eigentlich
der lieben N elly. „What a pity it should not be bestoAved
on Madam Ellen!“ Ein ander Mal fuhr Nell GAvynn in
46
ihrer Kutsche durch die Strassen von Oxford. Der Pöbel hielt
sie für ihre Kivaliu, und beschimpfte und bedrohte sie. Da
steckte Nell}' lachend den Kopf zum Fenster hinaus
und rief: „Ich bitte Euch, lieben Leute, seid ruhig ;
ich bin die protestantische Hure.“ (Pray, good people,
be civil; I am the Protestant whore). N eil}' verstand es
vortreftlich , ihre Nebenbuhlerin lächerlich zu machen.
Die Herzogin von Portsmouth behauptete, mit den
vornehmsten französischen Familien verwandt zu sein, und
so oft einer von diesen Verwandten starb, legte sie Trauer¬
kleidung an. Einst, als ein französischer Prinz gestorben
war und sie natürlich wieder im Trauergewande erschien,
traf es sich zufällig, dass auch die Nachricht vom Tode
des Chans der Tartarei nach England kam. Nelly kam
ebenfalls in Trauerkleidung zu Hofe und wurde, während
sie in der Nähe ihrer Eivalin stand, von einem ihrer
Freunde nach dem Grunde gefragt: ,,0 !“ sagte sie, „habt
Ihr nicht von meinem Verlust durch den Tod des Chans
gehört ?‘‘ ,,Was zum Teufel,“ antwortete ihr Freund, „war
Euch denn der Chan der Tartarei?“ — „Oh, genau das¬
selbe, was der Prinz von . . . der Mlle. Querouaille
war!“ — Madame de Sevigne äussert sich in einem
Briefe über das Verhältnis zwischen diesen beiden berühmten
Maitressen folgendermassen : ,,Sie (die Herzogin) sah nicht
voraus, dass sie eine Schauspielerin ihr im Wege stehend
finden würde. Die Actrice ist so hochmütig wie Mademoiselle
selbst. Sie beleidigt sie, schneidet ihr Gesichter, raubt
ihr häufig den Pürsten und rühmt sich jedesmal, wenn
dieser ihr den Vorzug giebt. Sie ist jung, indiscret,
wild und von fröhlicher Gemütsart. Sie singt, tanzt und
spielt ihre Eolle mit besonderer Anmut. Sie hat vom
Könige einen Sohn und hofft ihn anerkannt zu sehen.
47
Von der Herzogin sagt sie: diese Person behauptet, sie
sei eine Frau von Stande und mit den ersten Familien
in Frankreich verwandt ; wenn dem so ist, warum erniedrigt
sie sich zur Courtisane? Sie sollte vor Scham vergehen.
Was mich betrifft, so ist es mein Beruf; ich will nichts
Besseres sein; ich habe einen Sohn vom König, den er
anerkennen sollte, und er wird es tliun, denn er liebt
mich eben so sehr wie diese Dame.“ Nellv ^ebar dem
König zwei Söhne, deren einer später den Titel eines
Herzogs von Saint-Albans erhielt. Der König liebte
sie bis zu seinem Tode zärtlich, und seine letzten Worte
(zum Herzog von Y ork) sollen nach Bur net gewesen sein:
Lass die arme Nelly nicht darben. (Let not poor Nellv
starve.)^) Sie überlebte den König nicht lange. Am 13.
November 1687 starb sie, erst 37 Jahre alt, an einer
Apoplexie. Nelly Gwynn war durch und durch ein
„English girl“, Ireimütig, nicht sentimental, gutherzig
und dankbar gegen ihre alten Freunde, unter denen sich
auch die Dichter Otway und Dry den befanden. Sie
mischte sich niemals in die Politik. Sie war im
Gegensätze zu der C a s 1 1 e m a i n e dem Könige treu, wenn-
gleicli derselbe nicht ihr erster Liebhaber war. Er war
ihr „dritter“ Karl. Ob Dorset oder Major Hart die
f) Dies ist nicht ganz richtig, insofern es weder die letzten
Worte Kar Ts waren, iiocli diese der Nell Gwynn galten.
Macaulay berichtet: „Während der Nacht empfahl Karl
ernstlich die Herzogin von Portsmouth der Sorge Jakob’s;
„und lasst die arme Nelly nicht darben“, fügte er gutmütig
hinzu. Die Königin entschuldigte ihre Abwesenheit durch
Halifax; sie sei zu angegTiften, um ihren Platz neben dem
Bette des Königs einzunehmen und bäte um A^^erzeihung für
jede Beleidigung, welche sie wider ihren AA’illen ihm zugefügt
habe. „Sie bittet mich um A^erzeihuiig, das arme A\Yib“, rief
Karl aus, „ich bitte sie darum von ganzem Herzen“. Ma¬
caulay a. a. (). Bd. 11. S. 176 — 177.
48
Ehre hatten ihr „erster“ Karl zu sein, ist nach Macanlay
eine offene Frage. Doch scheinen diesem die Beweise zu
Gunsten Dorset’s zu üherwiegen. Bischof Burnet
nennt die Gwynn die übermütigste und tollste Kreatuiy
die „je an einem Hofe lebte“. — Sie hatte eine kleine und
zierliche Gestalt, rötlich-braunes Haar, sehr kleine Füsschen ;
wenn sie lachte, wurden ihre Augen fast unsichtbar. Am
1. Mai 1667 sah Pepys die ,, hübsche Nelly in ihrer
Wohnung in Drury Lane stehen in ihrer schmucken
Blouse mit dem Schnürleibchen“, wie sie die Mailust¬
barkeiten beobachtete. — Es giebt zahlreiche Bilder von
Nell Gwynn. Eins vonLely ist im Garrick-Club, ein
zweites in dem L ely-Zimmer der Hampton Court-Gallery,
ein drittes in der National Portrait Gallery. No. 306 von
König Jakob ’s Bildern war ,, Madame Gwyn’s Bild,
nackt, mit einem Cupido“ von Le ly. Ausserdem haben
andere Maler ihr Portrait gemalt. Algernon Charles
Swinburne hat Eleanor Gwynn ein schönes Denkmal
gesetzt in dem folgenden Gedichte in seinen ,, Poems
and Ballads“:
Nell G wyn.
Sweet heart, that no taint of the throne or the stage
Could touch with unclean transformation, or alter
To the likeness of courtiers whose consciences falter
At the smile or the frown, at the mirth or the rage,
Of a master whom chance could inflame or assuage,
Our Lady of Laughter, invoked in no psalter,
Adored of no faithfull that cringe and that palter,
Praise be with thee yet from a hag-ridden age.
Our Lady of Pity thou wast : and to thee
All England, whose sons are the sons of the sea,
49
Oives thanks, and will hear not if liistory snnris.
When tlie name of the friend of her sailors is spoken :
And thy lover she cannot but love — by the token
That thy name was the last on the lips of King Charles A)
Um diese drei beriihmtesten Maitressen Karl’s IL
gruppieren sich die zahlreichen übrigen Haremsinsassinnen
dieses weibertollen Königs, deren Namen zum Teil gar
nicht auf die Nachwelt gekommen sind , und jene Schön¬
heiten, welche, mit den oben genannten in Lust, Liebe
und Vergnügungen wetteifernd, diesem Hofe ein so
charakteristisches Gepräge gaben.
Miss Stewart, die spätere Gemahlin des Herzogs
von Kichmond, suchte früh die Lady Castlemaine
aus der Gunst des Königs zu verdrängen.“) Sie war auf-
C Daiotelliing nach ,, Dictionary of National Biog
London 1890, Bd. 23. S. 401 — 403: „Memoirs of tl
Cf
Eleanor GwiniB*' London 1752; Cu n n ing li a ni „Storv
aphy
Life of
of Nell
(Lvynii“; Thomas Campbell „Life of Mrs. Siddons‘- London
1834, Bd. 1, S. 99 — 101; Grammont’s Memoiren; Macaulay;
l’ej)ys;x\. C h. S will b urn e „Poems and Ballads“ Third Series
London 1897, S. 132.
‘A .,Lady Castl emaine bemerkte, wie der König dieselbe
mit Blicken verfolge. Doch anstatt Eifersucht darüber zu
empfinden, begünstigte sie vielmehr diese Neigung, so sehr sie
konnte, entweder aus jener Sorglosigkeit, die oft den ilirer
Beize sich bewussten Frauen eigen ist, oder vielleicht auch,
um des Königs Aufmerksamkeit von ihrem neuen Verhältnis
mit .1 e r m y n abzulenken. Sie betrachtete eine entstehende
Leidenschalt, die, dem ganzen Hofe aufi'allen musste, nicht
allein ohne Unruhe, sondern ging so weit, ihre Nebenbuhlerin
zu ihrem Liebling zu wählen und liess sie an allen Soupers,
welche sie dem Könige gab, Teil nehmen; im Vertrauen auf
der eigenen Schönheit Gewalt trieb sie den Uebermut so weit,
dass sie die junge Dame häufig zum Schlafen bei sich behielt.
Da der König vor dem Aufstehen der C a s 1 1 e m a i n e jeden
Morgen zu ihr zu kommen pflegte, so fand er dort auch .Miss
Stewart bei ihr im Bette. Bei jeder keimenden Leiden¬
schaft haben die gleichgültigsten Dinge Reiz, aber die unvor
sichtige Castl emaine empfand keine Angst, wenn sie di.)
Dühren, Das Geschlechtsleben in England.** 4
50
fallend schön, aber nicht im gleichen Masse fesselnd.
„Bei so grossem körperlichen Zanber konnte man kaum
so wenig Geist besitzen. Alle ihre Zöge waren regel¬
mässig, aber ihr Wuchs war nicht ganz vollkommen ;
doch war sie schlank, ziemlich gerade und über gewöhn¬
liche Franengrösse. Sie besass Anmut, tanzte gut und
sprach das Französische besser als ihre Muttersprache; mit
höflich em Wesen verband sie jenen Geschmack in der
Tracht, den man vergebens zu erhaschen sucht, wenn
man ihn nicht von Jugend auf in Frankreich sich an¬
geeignet ... Sie besass eine so kindische Laune, dass
sie über alles lachen musste, ihr harmloser Sinn ergötzte
sich an den einfachsten Schwänken mit einer Lebendigkeit,
die nur dem Alter von zwölf bis dreizehn Jahren ge¬
stattet scheint. Die Puppen ausgenommen war sie ganz
Kind, Blindekuh war ihre grösste Freude ; sie haute
Kartenhäuser, während bei ihr das höchste Spiel statt¬
fand und oft sah man die eifrigsten Höflinge ihr dabei
helfen oder sie üherbieten.“ i) Pepys beschreibt Miss
Stewart als die grösste Schönheit, die er jemals gesehen
habe. „Wenn irgend ein Weib Lady Castle maine an
Keiz nhertretfen kann, so ist es dieses; auch soll es mich
gar nicht wundern, wenn der König wechselt; sie ist der
Grund seiner Kälte gegen die Gräfin.“^) Miss Stewart
zeichnete sich durch grosse Lascivität^) und durch eine
Nebenbuhlerin in solcher Lage an ihrer Seite den Blicken
23reis gab ; sie glaubte sicher, sobald es ihr gut dünkte, werde
sie über alle günstigen Eindrücke der S t e w a r t den Sieg
davon tragen.“ Grammont’s Memoiren S. 87 — 88.
1) „Grammont’s Memoiren“ S. 88, S. 112.
2) ibidem S. 328.
3) „Der alte CaiTingford und der tolle Crofts, diese
kecken Witzlinge tragen ihr bei jeder Gelegenheit ziemlich
verfängliche Geschichten vor . . . Ich weiss keine Geschichten
und wenn ich welche wüsste, so habe ich nie das Talent,
51
cynisclie Schamlosigkeit aus. Hamilton bemerkt, dass das
Hade-Negligee für die Hofdamen vorzüglich dazu verwendet
wurde, um, ohne den Anstand zu verletzen, ihre Eeize
auszustellen. Miss Stewart war von ihrer Überlegenheit
-so sehr überzeugt, dass man nur eine andere Dame am
Hofe wegen ihrer schönen Beine oder Arme zu loben
brauchte, um sie gleich zu augenscheinlicher Demon¬
stration zu veranlassen. „Ja, mit einiger Gewandtheit,
glaube ich, würde es nicht allzuschwierig sein, sie, ohne
dass sie dabei etwas ahnte, bis zu voller Nacktheit zu
treiben.“ Hamilton schenkte ihr ein sehr hübsches
Pferd, um ihre vollendete Anmut beim Reiten geniessen
zu können. Der König liebte nämlich von allen Jagden
am meisten die Falkenpartien, weil die Damen bequem
daran teilnehmen konnten, und befand sich oft, von allen
Schönen des Hofes umgeben, auf einer solchen Jagd.
Häufig gaben diese Jagdpartien den Damen die Veran¬
lassung, bei wilden Ritten absichtlich oder unabsichtlich
ihre geheimen Reize blicken zu lassen. Hamilton be-
sie vorzutragen. Ich war deshalb mitunter verlegen, wenn
sie es von mir verlangte. Einst als sie mich quälte,
sprach ich: Ich weiss keine, mein Fräulein. — So er-
tinden Sie eine, sagte sie. — Das verstehe ich noch weniger,
aber, wenn Sie es wünschen, will ich Ihnen einen Traum er¬
zählen, der ausserordentlicher ist, als man sie gewöhnlich
erlebt. — Das erweckte ihre Neugier, und diese musste gleich
befriedigt sein. Ich erzählte ihr also, das lieblichste Wesen
von der Welt, dem ich leidenschaftlich zugethan sei, wäre des
Nachts zu mir gekommen. Darauf entwarf ich ihr eigenes
Bild unter der Hülle dieser wundervollen Schönheit, aber ich
sagte auch, da die Göttliche mich in der günstigsten Absicht
besucht, so hätte sie sich auch nicht mit zweckloser Grausamkeit
benommen. Das war noch nicht hinreichend, die Wissbegier
der Stewart zu stillen; ich musste ihr fast alle einzelnen
Ounstbezeugungen malen, welche dies zärtliche Phantom
mir zuwandte; sie schien dabei weder überrascht noch
verlegen und liess mich, auf die Erdichtung aufmerksam
lauschend, die Beschreibung einer Schönheit oft wiederholen.“
ibidem S. 270.
Sflneibt aiulj sokli eine Szene mit der Stewart. Im
Jnlire 1GG7 verliess die Letztere den Hof, um den Herzog
\on Richmond zu heiraten, worüber Evelyn in seinem
Tagebncbe unter dem 2G. April 16G7 beliebtet.^)
Neben Miss Stewart war H a m i 1 1 o n ’ s Schwester,
die sj)ätere Gemahlin des Chevalier de Grammont der
„ H anptster n “ am Hofe K a i- 1 ’ s 1 1. Miss H a m i 1 1 o n war
ein edles und reines Müdcben. Ibi‘ Bruder entwirft von
ihr die bdgunde klassische Schilderung, wohl die beste
überhaupt in den „Meniuii es de Grammont“ ; „Miss
Hamilton war in dem glficklichen Alter, avo die Beize
ucs weiblichen Geschlechts &ich entfalten. Sie Imtte den
schönsten Wuchs, einen herrlichen Busen und die wohl-
geformtesten Arme; sie war schlank und lieblich in allen
ihien Bewegungen. In Beziehung auf Kleidung und
Kopfputz Avar sie das Muster des Geschmacks, dem alle
Damen nachstrebten. Ihre Stirn Av;.r offen, Aveiss und
glatt, ihr HaarAAmchs reich und jenem natürlichen Ordnen
iügsam, das sich nidit beliebig nachbilden lässt. Eine
Frische, Avelche künstliche Farben nicht ersetzen können,
belebte ihren Teint. Ihre Augen waren nicht gross, aber
lebhaft, und ihre Blicke drückten alles aus, Avas sie sagen
1) Die Ceraidassuiig zu dieser Jkirat gab eine Uuber-
vasclumg- der S t e av a r t vnd des T 1 crzogs yoii \{ i c li m o ii d
durcli den König infolge einer Entliülinng der C a s 1 1 e in a i n e.
Hamilton erzählt: ,.]cs Avar nahe an iMitternaelit. D^r
König fand die Kammerfrauen seiner Geliebten ; sie A’erbeugten
sich ehrfurchtsvoll bei seinem Eintritt und sagten ihm ganz
leis ', Miss StcAvart wäre, seitdem er sie Auu‘’nssen, sehr
niiAvohl gcAvoialen, aber nach dem Zubettegehen schlummern
sie, Gott sei Dank, sanlt. „Das muss ich sdien“ rief er,
indem er die ihm im den Weg Tretende zurückst ies^. Er
fand die StcAA’art Avirklich im Dette, aber sie schlief keines-
Avegs. Der Ile: zog von Kichmond sass am Kopfende und
'Avar wohl noch weniger im Schlummer ‘. ibidem S. 275.
Avollte. Ihr Mund war reizend und der Umriss ilires
Gesiclits vollendet. Eine kleine, zart zurückgebogene
Nase war nicht der letzte Schmuck ihres lieblichen
Antlitzes. Mit einem Wort, nach Haltung, Miene und
ollem über die Gestalt ausgegossenen Zauber glaubte der
Chevalier Grammont nur günstige Schlüsse auf die
anderen Beize ziehen zu können. Ihr Geist entsprach
der Erscheinung. Sie strebte nicht durch eine unpassende
Munterkeit, deren Ausbrüche nur blenden, in der Unter¬
haltung zu glänzen; ebenso vermied sie jene schleppende
Bedeweise, die bloss einschläfert; ohne sich im Sprechen
zu übereilen, sagte sie stets das Nötige. Wunderbar
wusste sie Achtes vom falschen Schimmer zu unterscheiden
und weit entfernt mit ihrem Urteil bei jeder Gelegenheit
zu kokettieren, blieb sie zurückhaltend, aber bestimmt
und treffend in ihren Entscheidungen. Ihre Gesinnungen
waren voller Adel, und wenn es die Gelegenheit heischte,
stolz bis zum höchsten Masse. Doch war sie vom eigenen
Wert weniger durchdrungen, als dies sich bei ihren
Eigenschaften erwarten Hess. So ausgestattet musste sie
wohl Liebe gewinnen, doch suchte sie dieselbe nicht
auf; denn sie war streng in der Sichtung derer, welche
die Blicke zu ihr erheben konnten.“ A
Am Hofe der Herzogin von York glänzten besonders
die Geschwister Jennings und Miss Anne Temple.
Miss Frances Jennings, ‘A die ältere von den beiden
G ibidem S. 94 — 95.
„Mit der Blüte der .lugend geschmückt war Miss
Jennings von blendender Weisse, ihr Haar das lierrlicliste
Blond. Ein lebhaftes, seeleovolles Wesen bewahrte ihre Haut¬
farbe vor jener matten Eintönigkeit, welche sonst mit auffallend
liellem Teint verbunden zu sein pllegt. Ilir Mund ^var nicht
ganz klein, aber es war dennoch der lieblichste Mund von
der Welt. Die Natur hatte ihn mit unaussprechlichen Reizen,
54
Schwestern zeichnete sich nach Macaula}" durch
Schönheit und Leichtfertigkeit aus. Sie war aber sehr
vorsichtig gegenüber den Anträgen und Lockungen des
Herzogs von York. Sie war erst mit George Hamilton ^
einem Bruder von Anthony Hamilton verheiratet^
später mit dem Herzog von Tyrconnel und starb erst
1730 in ihrem 82. Lebensjahre.
Berühmter als sie ist ihre Schwester Sarah, die
nachmalige Herzogin von Marlborough, die Freundin
und spätere Gebieterin der Prinzessin Anna, Tochter
mit ihrem anmutsvollsten Zauber geschmückt. Der Umriss
des Gesichts war rein und der keimende Busen glänzend weiss,
wie das Gesicht. Die ganze Erscheinung gab mit einem Wort
die Idee der Aurora oder auch der PTühlingsgöttin verkörpert
wieder, wie die Dichter sie in ihren edelsten Gebilden malen.
Da es indess ungerecht wäre, wenn ein Wesen alle Wunder
der Schönheit ohne den geringsten Schatten in sich vereinte,
so liessen Arme und Hände, um dem Ganzen zu entsprechen^
etwas zu wünschen übrig. Die Nase war nicht von vollendeter
E'einheit, und auch die Augen strahlten keine verzehrenden
Blicke, während Mund und alles Andere tausend Pfeile zum
Herzen sandten. — Mit diesem lieblichen Aeussern sprühte sie
Geist und Leben. Ihre Manieren und jede Bewegung waren
stets überraschend neu. Wenn sie gefallen wollte, war die
Sprache hinreissend, und wollte sie spotten, fein und treffend
in Wendungen; da jedoch ihre Phantasie sie oft überwältigte
und sie die Worte hinwarf, ehe der Gedanke entwickelt war,
so gaben ihre Ausdrücke den Sinn mitunter zu stark, mitunter
zu schwach wieder.“ ibidem S. 191 — 192.
0 „Sie war mit einigen für Personen ihres Alters sehr
heilsamen Grundsätzen gewaffnet. Der erste lautete, man
müsse, um am Hofe mit Erfolg aufzutreten, jung, und um ihn
mit Anstand zu verlassen, nicht zu alt sein ; sodann könne
man dort seine Stellung nur durch würdevolle Festigkeit oder
durch imposante Schwächen erhalten; und an einem so gefahr¬
vollen Orte müsse man vor allem dahin streben, das Herz nur
mit der Hand zu verschenken.“ Hamilton schildert in sehr
amüsanter Weise die zahlreichen Versuche des Herzogs von
York, diese spröde Schönheit für sich zu gewinnen. Auch
der König fasste Interesse für dieselbe, wurde aber durch dio
eifersüchtige Stewart von seinem Plane abgebracht.
55
des Herzogs von York. Sie war zwar nicht so schön,
wie ihre Schwester F r a n c e s , aber anziehender. Ihr
Gesicht war nach Macaulay ausdrucksvoll, ihre Gestalt
entbehrte keines weiblichen Keizes, und die Fülle ihres
schönen Haares, welches noch nicht nach der barbarischen
Sitte entstellt war, deren Einführung sie noch erlebte, war
das Entzücken zahlreicher Bewunderer. John Churchill
verliebte sich in sie, obgleich sie arm war, und gewann
dadurch jene mächtige und einflussreiche Lebensgefährtin,
der er zum grossen Teil seine unerhört glänzende Lauf¬
bahn verdanktet) — Miss Temple^), die spätere Gattin
des Sir Charles Lyttleton, war besonders das Ziel der
Bemühungen des berüchtigten Kochester und der Tribade
Hohart, deren Konkurrenz Hamilton sehr ergötzlich
schildert.
Unter dem Namen einer Miss W armes tree schildert
Hamilton die Mary Kirk, eine Schwester der Herzogin
von Oxford. Sie wurde später vom Hofe verbannt und
Ygl. Macaulay III. S. 279 ff; ein merkwürdiges Buch über
das spätere Leben und Lieben der Herzogin von M ar 1 b o r o u g h
ist die „Histoire secrete de la Beine Zarah, et des Zaraziens“
2 Teile 1709; deutsch u. d. T. „Die entdeckte Geheime Histoire
von der Königin Sahra und denen Sahracenen, oder die Herzogin
von Marlb orough demasquiret etc.“ Haag 1712 (2 Teile).
„Ungefähr von gleichem Alter war Miss Teinple im
Verhältnis zu ihr (Miss Frances Jennings) brünett. Ihr
Wuchs war hübsch. Dabei besass sie schöne Zähne, sprechende
Augen, frischen Teint, ein angenehmes Lächeln und eine
seelenvolle Miene. So weit das Aeussere; das Uebrige ist
schwer anzugeben; denn sie war einfach und prahlerisch zu¬
gleich, leichtgläubig, argwöhnisch, gefallsüchtig, si:)röde, aber
von sich eingenommen und sehr albern.“ Dabei beteuerte
Bo che st er, dass sie sehr viel Geist besitze und zeigte ihr
irgend ein neues Gedicht, worin ihr „Alles, was mit ihren
Beizen wetteifern konnte, zu Füssen gelegt wurde, um Huldi¬
gung zu leisten. Dergleichen Einflüsterungen verdrehten ihren
kleinen Kopf, dass es ein wahres Elend war, es mit anzusehen.“
Grammont S. 192; S. 195.
56
heiratete Sir Thomas Yeriion. Ihre Schönheit vergleicht
Hamilton mit derjenigen der MiddletonJ) Lady
Chesterfield^), die schon im Alter von 25 Jahren starb,
eine Cousine des Grafen von Hamilton, Miss Wells,
„Unter der Königin Ehrenfräulein gab es eine Miss
Warniestree. Ihre Schönheit Avar von der eben genannten
sehr verschieden. Gut gewachsen, blond und weiss hatte die
Mid die ton in Manieren und Kedeweise etwas Gesuchtes,
Anspruchvolles. Sie hüllte sich in ein mattes Schmachten,
das nicht nach Jedermanns Appetit war. Bei den znrten Ge¬
fühlen, denen sie WTrte zu leihen strebte, ohne sie zu ver¬
stehen, schlief man ein und sie langweilte, wenn sie glänz<m
wollte. vSich selbst damit C{uälend peinigte sie die Zuhörer
und ihr Ehrgeiz, für einen Schöngeist gelten zu wollen, hat ihr
nur den Kuf einer langweiligen Person verschaffr, welcher ihre
Reize dauernd überlebte. — Die Andere war brüuett; ihr
Wuchs war nicht sonderlich, ihr Ansehen nicht imponierend,
aber bei sehr lebhaften Farben zeigte sie Augen voller Eener,
herausfordernde Blicke, die nichts unterliessen, um zu gewinnen
und alles versprachen, um zu fesseln. Die Folge hat nur zu
sehr bewiesen, dass sie die kühnsten Verheissungen noch
übertraf.“ Grammont S. 86—87.
„Dies war eine der lieblichsten Frauen, die sich nur
denken lässt. Wenn auch nicht gross, hatte sie doch den
reizendsten AVuchs. Sie war blond und von blendender Weisse
mit dem ganzen Feuer und Reiz einer Brünette. Aus grossen
blauen Augen strahlten ihre verführerischen Blicke. Ihre Be¬
wegungen waren anziehend', ihr Geist munter und einnehmend;
aber ihr der Liebe stets offenes Herz hatte für Treue wenig Sinn,
für Aufrichtigkeit kein zartes Gewissen.“ ibidem S. 114 — 115.
3) ,,Sie war ein grosses Mädchen, schön zum Malen,
kleidete sich mit Geschmack und hatte den Gang einer Göttin;
ihr Gesicht, so hübsch gebildet, wie nur denkbar, liess inöess
noch kalt. Das Schicksal hatte über ilire Züge einen so völlig
unbestimmten Ausdruck verbreitet, dass man in das Auge
eines träumenden Hammels zu sehen glaubte. Das gab eine
schlechte Idee von ihrem Geiste, und leider entsprach der
Geist dieser Idee nur allzu treu. Da sie aber frisch war und
jungfräulich schien, so wollte der König, durch Miss Stewmrt
im Punkt des Geistes nicht verwöhnt, untersuchen, ob die
Sinne bei Aliss AVells nicht besser ihre Rechnung fänden, als
der Koijf bei ihrem \Trstande Die Probe ward ihm nicht
schwer. . . Alan behauptete, sie habe etwas zu wenig Wider¬
stand gezeigt und sich, ohne stark bedrängt zu sein, auf Gnade
und Ungnade ergeben; andere meinten. Seine Majestät be-
57
Mistress Wetenliall') und Miss Boynton^) seien als
die letzten aus diesem Kreise schöner und leichtfertiger
Frauen genannt.
Die Herren dieses Hofes gaben den Frauen an
Leichtsinn nicht nur nichts nach, sondern übertrafen sie
noch darin. Man kann zweifeln, wer in Hamilton’ s
klassischer Schilderung besser getroffen ist, die Frauen
oder die Männer. Selten ist auf so kleinem Kaume eine
Fülle von so verschiedenen, eigenartigen Gestalten ver¬
einigt worden.
Im Mittelpunkte der „Memoires de Granioni“ steht
der Chevalier de Gramont selbst. Philibert, Che¬
valier (später Comte) de Gramont (oder Grammont)
wurde 1621 als Sohn von Antoine von G r a m m o n t,
dem Zweiten dieses Namens und als ein Enkel der
„schönen Corisande“ (Gräfin Diane de Guiche), einer
klage sich ausserdem über weitere, noch weniger fesselnde
Ei leichterungeii. lieber diesen Vorfall niacbte der Herzog
von Buckingliam ein Couplet, worin der König iin Gespräche
mit Pr Ogers, dem vertrauten Diener seiner geheimen Freuden
aufgefülirt wird.“ ibidem vS. 185 — 186. Dies obscöne Couplet,
ein Anagramm mit dem Wort „ Wells“-Brunnen teilt Hamilton
mit.
Diese Dame war, was man treffend eine echt englische
Schönheit zu nennen pllegi", ihr Teint wie aus Lilien und
Bosen, aus Schnee und IMilch; Arme, Hände, Busen und Fiisse
wie aus Wachs gebildet ; alles das aber ohne Seele und Leben.
Das Gesicht war das niedlichste Bild, aber es Avar immer
dasselbe Antlitz; man konnte meinen, sie ziehe es jeden
Morgen aus einem Kästchen und stecke es, ohne es am Tage
gebraucht zu haben, Abends wieder ein. Genug, die Natur
hatte eine Puppe aus ihr gemacht, und eine Puppe bis zum
Grabe blieb die liebliche Mistress W^etenh al 1.“ ibidem S. 229.
„Ihrer schmächtigen zarten Gestalt gab ein hübscher
Teint und grosse starre Augen in der Ferne einen Glanz, den
sie näher veidor. Sie spielte die schmachtende, sprach matt
und schleppend und hatte den Tag über zwei bis drei Ohn
machten.“ ibidem S. 214.
58
Jugendgeliebten Heinrichs IV. von Frankreich, geboren.
Er diente mit Auszeichnung unter Conde und Türen ne
im dreissigjährigen Kriege und in den Kriegen Lud¬
wigs XIV., und machte sich am Hofe dieses Königs bald
bekannt durch seine zahlreichen Liebschaften und eine
geistreiche Frivolität. Der Graf von Bussy-Eabutin
erzählt darüber Mancherlei in seiner berühmten „Histoire
Amoureuse des Gaules^b Er schildert unseren Helden
folgendermassen : „Der Chevalier hatte lachende Augen,
eine wohlgeformte Nase, einen hübschen Mund mit einem
Grübchen im Kinn, welches eine angenehme Wirkung
machte; sein Gesicht hatte etwas sehr Feines. Sein Wuchs
war ziemlich gut, wenn er nicht ein wenig gebückt
gegangen wäre. Sein Wesen war galant und zartfühlend.
Indessen verliehen oft nur Ton und Miene bei ihm dem,
was er sagte, Wert, während sie in eines anderen Munde
nichts bedeutet haben würden. Denn er schrieb nur
mittelmässig und er schrieb doch, wie er sprach.^) Obgleich
es überflüssig sein mag, zu bemerken, dass ein Neben¬
buhler unbequem ist, so war doch der Chevalier dies bis zu
dem Punkte, dass eine arme Dame deren lieber vier oder
fünf Andere auf dem Halse gehabt hätte, als ihn allein.
Er war stets lebendig, auf dem Platze und schien kaum
zu schlafen. So wurde es einem Pärchen, bei dem er
den Störenfried spielte, nicht möglich, von ihm unbe¬
obachtet zu bleiben. Übrigens war er der beste Mensch
von der Welt. . . . Wenn er sein Ziel verfehlte, zog sich
der Chevalier nicht etwa sacht zurück ; er hätte sich lieber
töten lassen, als dass er einem Nebenbuhler ruhig ge-
1) Diese Bemerkung B u s s y - R a b u t i n ’ s erklärt den Um¬
stand, dass Hamilton die Memoiren seines Schwagers be¬
arbeitete.
59
wichen wäre. Konnte er nnr Verwirrung nncl Aufsehen
erregen nncl die Welt überreden, er sei verliebt, so
kümmerte er sich wenig um die Folgen. Ein Umstand,
der es für ihn sehr schwierig machte. Andere von der
Wahrheit seiner Leidenschaft zu überzeugen, war der,
dass er niemals ernsthaft redete ; so musste also ein
weibliches Wesen sehr von sich eingenommen sein, um
an seine Liebe zu glauben.“ i) Infolge einiger scharfer
Äusserungen gegen den Cardinal Mazarin und eines
Versuches, dem Könige die Geliebte wegzukapern, wurde
er vom französischen Hofe verbannt und ging im Jahre 1662
nach England. Er war schon von Frankreich her mit
der königlichen Familie und den meisten Herren vom
Hofe bekannt. Er hatte sich nur noch bei den Damen
einzuführen. „Dazu bedurfte es keines Dolmetschers;
sie sprachen alle hinlänglich französisch, um sich ver¬
ständlich zu machen und von dem, was man ihnen zu
sagen hatte, nichts zu verlieren.“ Bald war denn auch
der Chevalier bei allen beliebt. Er war gegen jedermann
freundlich, gewöhnte sich an die Sitten, speiste von allen
Gerichten, lobte alles und versetzte so ganz England in
Entzücken. Besonders machte er dem Könige den Hof,
spielte oft mit ihm, wobei er dank seiner schlauen Trics
niemals verlor. „Er war täglich zu Tische ausgebeten ;
wer ihn als Gast bei sich sehen wollte, musste seine
Einladung also acht oder zehn Tage zuvor bestellen. Auf
9 „Histoire Amoiireiise des Gaules“. Par le Comte de
R u s s y - R a b 11 1 i n edit. par Auguste Poiteviu, Paris 1857
Bd. I S. 92; 93; 95.
Diese kleinen Betrügereien beim Spiel galten dann als
für sehr nobel. Es war ein „vice de grand seigneiir“, in dem
aber auch die Damen sehr excellierten. Vgl. B ii s s y - R a b ii t i n
a. a. 0. S. 93 Anmerkung 1.
60
<lie Dauer wurde eine so überhäufte Artigkeit freilich
unbequem; doch einem Manne seiner Art schienen diese
Ptlichten unerlässlich und da ihn die ersten Hofleute
einluden, so fügte er sich mit guter Manier der Not¬
wendigkeit und behielt sich nur die Freiheit vor, des
Abends bei sich zu Hause zu speisen.“ Bei diesen Abend¬
soupers in seinem Hause versammelte er gewöhnlich den
erlesensten Teil der Hofgesellschaft um sich. Niemals
fehlte dabei der berühmte Saint-E vremond, der
h Charle.s de S aiiit-D enis, Heigneur de Saint
Evreinond wurde 1613 in der Normandie geboren, studierte
erst die Rechte, nabin S])äter Militärdienste und stieg bis zum
Feldmarschall auf. Auch er musste sich wegen einer Satire
auf den Pyrenaeenvertrag von 1659 im Jahre 1661 nach England
flüchten, wo er, abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in
Holland bis zu seinem Rode (1703) blieb. Er schrieb zahl¬
reiche philosophische und litterarhistorische AYerke, die sich
durch einen klassischen Stil auszeiclinen, sowie durch eine
heitere Lebensphilosophie. Er wurde von Karl II. durch
eine Pension unterstützt, hauptsächlich aber ''urch seine
Freundin, die Herzogin von Mazarin, Hortensia Mancini
gefördert. Die letztere ist von Macaulay an jener Stelle
ges -bildert worden, wo er von dem Ausbruche der tötlichen
Krankheit Karls II. spricht, und da sie am Hofe eine grosse
Rolle spielte, teile ich IMacaulay’s WTrte mit. „Hortensia
M ancini, Herzogin von Mazarin, Nichte des grossen Car¬
dinais, hat sich früh aus ilirein Heimatlande an den Hof be¬
geben, wo ihr Oheim die erste Stelle einnahm. Seine Macht
und ihre eigenen Reize hatten einen Schwarm von erlauchten
Bewerbern um sie versammelt. Karl selbst hatte während
seines Exils ihre Hand aber vergeblich zu gewinnen gesucht.
Keine Gabe der Natur oder des Glückes schien ihr zu fehlen;
ihr Gesicht strahlte in der reichen Schönheit des Südens, ihr
Verstand war schnell, ihr Benehmen voll Liebreiz, ihr Rang-
hoch, ihr Vermögen unermesslich; aber ihre unregierlichen
Leidenschaften hatten diese Güter in ebenso viele Flüche ver¬
wandelt. Sie hatte das Unglück einer nicht befriedigenden
Ehe unerträglich gefunden, war von ihrem Gemahl geflohen,
hatte ihre grossen Reichtümer im Stiche gelassen, und, nach-
ilem sie Rom und Piemont durch ihre Abenteuer in Erstaunen
gesetzt, ihren Aufenthalt in England genommen. Ihr Haus
Avar der beliebteste Versammlungsort für Männer von Geist
61
über Grammont eine väterliche Obhut ausübte und ihu
von manclien tollen Streichen zurückhielt. Einmal sagte¬
er zu ihm: „Wer ausser Euch hat je daran gedacht, sich
auf einer Treppe in den Hinterhalt zu legen, um einen
Glücklichen, der mit dem einen Fuss schon im Zimmer
der Geliebten war, am andern wieder zurückzuziehen !.
So aber machtet Ihr es mit Eurem Freunde, dem Herzog
von Buckingham, als er sich bei der Nacht zu der —
schlich, und Ihr warT nicht einmal sein Nebenbuhler“.
Nach vielen Liebeleien, die Hamilton uns schildert^
wurde der Chevalier de Grammont endlich durch die-
Beize der Miss Elizabeth Hamilton gefangen ge¬
nommen, heiratete sie und verliess mit ihr England im
Jahre 1669 und lebte fortan in Frankreich. Im Jahre
1696 wurde er gefährlich krank. Ludwig XIV., der
seine Freigeisterei und seinen Leichtsinn kannte, schickte
den Marquis de Dangeau zu ihm, um ihn an Gott zu
erinnern. Grammont wandte sich zu seiner Gemahlin
und rief: „Passen Sie auf, Gräfin, scnist piellt Dangeau
Sie noch um meine Bekebrung.“ Damals scheint das-
Gerücht von seinem Tode verbreitet gewesen zu sein.
Ninon de LEnclos sagt darüber in einem Schreiben
an St.-Evr emon d : „Er ist so jugeiidlicb, und ich
und Welt, welche um ilires l.äclmhis und ihrer Tafel willen
die häuligen Ausbrüche ihies Uebermuts und ihrer ühleii
Imune ertrugen. R o c h e s t e r und G o d o 1 p h i n vergassen nicht
selten in ihrer Gesellschaft die Sorgen um den Staat. Barillon
und St. -Eyremond fanden an ihrer Seite Trost ihr ihre
lauge Verbannung aus Ihnds V^ossius’ Gelehrsamkeit und
W aller’ s Geist waren täglich beschäftigt, ihr zu schmeicheln
und sie zu unterhalten; aber ihr krankes Gemiit bedurfte
stärkerer Reizmittel und suchte dieselben in der Galauterie,.
im Basset und in irischem Branntwein ^ Macaulay a. a. 0,
Bd. II S. 167- 1G8.
62
finde ihn so munter, als ehemals, wo er noch die Leute
hasste, wenn sie erkrankten, und sie erst wieder lieh
gewann, Avenn sie gesund geworden.“ Er starb erst am
30. Januar 1707 im Alter A^on 86 Jahren. Saint-
Evremond hatte schon zu Lebzeiten des Freundes die
berühmte Grab schritt auf ihn verfasst, in der er in eleganten
Versen die Persönlichkeit dieses galant homme schildert;
Passant, tu vois ici le comte de Grammont,
Le heros eternel du vieux Saint-Evremond.
Suivre Conde toute sa vie
Et courir les memes hasards
Qu’il courait dans les champs de Mars,
Des plus A^aillans guerriers pouvoit faire PeiiAfie.
Yeux-tu des talents pour la Cour?
Ils egalent ceux de la guerre;
Eaut-il du mmfite en amour?
Qui fut plus galant sur la terre?
Pailler saus etre medisant,
Plaire sans faire le plaisant;
Garder son meme caractere,
VieillaixL epoux, galant et pere,
C’est le merite du heros
Que je depeins en peu de mots.
Alloit-il souvent ä confesse?
Entendoit-il vepres, sermon ?
S’appliquoit-il ä Poraison?
II en laissoit le soin ä la comtesse.
63
II peilt revenir iin Conde;
II peilt revenir un Türen ne,
Un comte de Grammont en vainest demande:
La n a t ii r e a u r o i t t r o p de p e i n e.
Neben G r a m m o n t tritt inHamilton’s Schilderung
besonders Jakob, Herzog von York hervor, der nach¬
malige König Jakob II. (geboren den 15. Oktober 1633,
gestorben in der Verbannung den 6. September 1701).
Macaiilav’s klassisches Geschichtswerk behandelt die
t.
Eegieriingszeit dieses Fürsten, dessen Wesen und Charakter
lins durch die Kunst dieses genialen Historikers vertrauter
geworden sind, eingehender als die Persönlichkeit irgend eines
anderen Herrschers. Nie vorher und nachher ist eine voll¬
kommenere Psychologie eines Königs geliefert worden. Weder
M 0 m m s e n s König P y r r h o s, noch C a r 1 y 1 e ’ s F riedrich
der Grosse, noch Lanfrey’s Napoleon reichen an dieses
Meisterwerk heran. Die Gestalt dieses finsteren, bigotten
Wollüstlings ist für die Ewigkeit mit dem ehernen Griffel
des Geschichtschreibers gemeisselt worden. Macaulay’s
König Jakob H. ist ein Monument. Er entwickelt
den Charakter des Fürsten in seinen Handlungen, nur
gelegentlich giebt er einen Anblick der Persönlichkeit
desselben. „Obgleich ein Wollüstling, war Jakob fleissig,
methodisch, liebte die Autorität und Geschäfte. Sein
Verstand war ausnehmend träge und eng, sein Gemüt
starr, hart und unversöhnlich“. B i s c h o f B u r n e t be¬
merkt: „In seiner Jugend war der Herzog durch Tapferkeit
ausgezeichnet; Marschall Turenne hob ihn so hervor,
Darstellung nach „Grainmont’s Memoiren“ S. 81 — 82
84 — 85 ; B ii s s y - R a b n t i n a. a. 0. Bd. I S, 9 1 ff .
2) M a c a u 1 a y a. a. 0. Bd. I S. 185.
64
(lass er, bis seine Ehe ihn herabzog, den König fast ver¬
dunkelte und als der Begabtere von Beiden erschien.
Von Natur war er offen und wahr und ein treuer Freund,
bis die politischen und religiösen Verhältnisse seine an¬
geborenen Grundsätze und Neigungen überwältigten . . .
Der Herzog von Buckingham gab mir einst eine kurze
und scharfe Charakteristik beider Brüder, die um so
schneidender scheint, weil sie treffend ist. Der König,
sagte er, könnte, wenn er nur wollte, die Dinge sehen,
wie sie sind und der Herzog möchte sie so sehen, wenn
er nur könnte. Jakob besass kein richtiges Urteil und
er folgte zu sehr Anderen, denen er vertraute; gegen
alle sonstigen Mahnungen war er taub. Mit hohen Be¬
griffen von der königlichen Würde auferzogen, hielt er
es als Grundsatz fest: Alle, die von des Königs Meinung
abweichen, sind im Herzen Rebellen. Beständig war er
in eine oder die andere Liebesintrigue verwickelt, ohne
in seiner Wahl sorgfältig zu sein ; dies veranlasste den
König Karl zu der Äusserung: er glaube, seinem Bruder
würden die Maitressen von den Priestern als Busse auf¬
erlegt. — Er war von heftigem und rachsüchtigem.
Temperament“ . H a m i 1 1 o n sagt vom Herzog von York,
dass man ihm einen jeder Probe gewachsenen Mut zu¬
schrieb, das unverbrüchlichste Festhalten am gegebenen
Wort, Sparsamkeit, x4nmassung, Fleiss, Stolz, ein jedes
an seiner Stelle. Ein genauer Beobachter der Vorschriften
des Rechts und der Pflichten, galt er als Freund für treu,
als Feind für unversöhnlich. So hart und herbe auch das
Gemüt dieses Prinzen war, stand er, wie Macaulay sagt,
kaum weniger unter dem Einfluss weiblicher Reize, als
dies rücksichtlich seines lebendigeren und liebenswürdigeren
Bruders der Fall war. „Die Schönheit jedoch, welche
65
die Lieblingsdamen Karl ’s ausgezeichnet hatte, verlangte
Jakob nicht, Barbara Palmer, Eleanor Gwynn
und Louise von Querouaille gehörten zu den schönsten
Frauen ihrer Zeit. Jako bhatte noch als junger Mann seine
Freiheit aufgegeben, war unter seinenKang herabgestiegen und
hatte durch die garstigen Gesichtszöge der Anna Hy de
das Missfallen seiner Familie erregt. Zum grossen Er¬
götzen des ganzen Hofes wurde er seiner hässlichen Lebens¬
gefährtin durch eine noch hässlichere Maitresse, Arabella
Churchill, abspenstig gemacht“. i) Dr. Havelock Ellis
hat in seinem neuen inhaltreichen Werke über „Geschlechts¬
trieb und Schamgefühl“ in einem Anhänge viele inter¬
essante neue Fälle über die Beziehungen zwischen Reli¬
giosität und Erotismus mitgeteilt. Er hätte auch
Jakob 11. als ein solches Beispiel anführen können. Bei
diesem paarten sich Frömmelei und Bigotterie mit einer
unzähmbaren Sinnlichkeit. Er wurde weniger wie manche
feingebildeten Freigeister nach Art A"on Grammont durch
Schönheit, anmutige Formen und Bildung gefesselt, sondern
1) M a c a u 1 a y a. a. 0. Bd. HI S. 74. — Ob Miss Anna
H y d e wirklich so hässlich war, ist nach anderen Mitteilungen
zweifelhaft. Sie war aber nach Hamilton unter allen
englischen Damen mit der stärksten Esslnst gesegnet. Sie
entschädigte sich durch Schmausen für das, was sie sich auf
der andern Seite durch Fasten abgehen Hess. Der Pierzog
hingegen überliess sicli unaufhörlich neuen Liebeshändeln,
erschöpfte sich durch Untreue und wurde immer magerer,
während seine Gemahlin sich trefflich nährte und fett wurde.
Arabella Churchill wird in Grammont’s Memoiren als
eine magere und blasse Person geschildert. i\fau konnte nicht
begreifen, wie der Fürst nach seinen Neigungen für eine
(Ml e s t e r f i e 1 d , eine Miss Hamilton und für die kleine
J e n n i 11 g s ein solches Gesicht erträglich finden konnte.
H a V e 1 0 c k p] 1 1 i s „Geschlechtstrieb und Scham¬
gefühl“ Leipz. 1900 (Appendix (k) S. 329—346.
5
D üb reu, Das Gescblechtslebeii in England.**
66
seine Neigungen waren mehr grober, tierischer Art. Es
war das Weibliche an sich, der „Odor di femina“, die
ihn anzogen, was Hamilton auch in Bezug auf das
V erhältnis J a k o b ’ s zur Churchill andeutet. So wurde
er der „unvorsichtigste Blickeschleuderer“ seiner Zeit
und konnte seine Triebe so wenig beherrschen, dass er
oft dieselben coram publico befriedigte. Hamilton er¬
zählt von einer sehr gewagten Situation, in welcher der
Herzog und Lady Chesterfield betroffen wurden.^)
Alle Liebesverhältnisse des Herzogs von York und des
späteren Königs zeigten diese Mischung von religiöser
und sinnlicher Brunst und boten so etwas Unerklärliches
und zugleich Abstossendes dar. Dies geht auch aus
Macaula y ’s vortrefflicher Schilderung der Liebe Jak ob ’s
zu Catharine Sedley, der Tochter des berüchtigten,
weiter unten noch zu erwähnenden Charles Sedley
hervor. Sie hatte des Vaters „Fähigkeiten und seine
Unverschämtheit geerbt; persönliche Reize besass sie nicht,
mit Ausnahme zweier strahlender Augen, deren Feuer
Männern von feinem Geschmack wild und unvv eiblich
erschien; ihre Statur war hager, ihr Gesicht garstig.
Karl, obgleich er ihre Unterhaltung liebte, lachte über
ihre Hässlichkeit, und sagte, dass die Priester sie ihrem
Bruder empfohlen haben müssten, damit er Busse thue.
1) „Madame Yotre cousine jouait, comme je yous ai dit.
Le diic etait assis aiipres d’elle. Je ne sais ce que sa maiu
etait deYenue; mais je sais bien qu’il s’en fallait jusqu’au coude
qu’on ne liü Yit le bras tont entier. J’etais derriere eux dans
la place qne la Denham Yenait de quitter. II me Yit en se
retOLirnaut, et fut si tfouble de ma presence, qu’il pensa
deshabiller madame de Chesterfield en retirant sa main. Je
ne sais s’ils se sont aper(,‘iis qii’on les ait decouYerts; mais je
sais bien que madame Denham mettra bon ordre ä ©e que
personne ne Pignore.“ Memoires de Gramont S. 224,
67
Sie wusste sehr gut, dass sie nicht schön sei, und scherzte
^selbst über ihre Garstigkeit; aber trotzdem liebte sie es,
«ich prachtvoll zu schmücken, und machte sich manchmal
"zum Gegenstand des Spottes, wenn sie im Theater oder
heim Tanze erschien, bepflastert, geschminkt, gekleidet
in Brüsseler Spitzen, glänzend von Edelsteinen, und allen
Liebreiz eines Mädchens von achtzehn Jahren für sich
in Anspruch nehmend. Es ist nicht leicht, die Natur
ihres Einflusses auf Jakob zu erklären. Er war nicht
mehr jung, war ein religiöser Mann, war wenigstens
geneigt, für seine Religion Anstrengungen zu machen und
derselben Opfer zu bringen; es erscheint fremdartig, dass
irgend eine Anziehungskraft ihn auf einen Lebensweg
führte, welchen er für höchst verbrecherisch halten musste,
und selbst wenn dies möglich wai‘, wusste Keiner, worin
diese Anziehungskraft bestand. Catharine selbst war
über die Heftigkeit seiner Leidenschaft erstaunt. „Es
kann nicht meine Schönheit sein“, sagte sie, „denn er
muss sehen, dass ich keine habe; und es kann nicht
mein Geist sein, denn er selbst hat davon zu wenig, um
ZI! wissen, dass ich solchen besitze.“^) Religiöse und
erotische Ekstasen wechselten in diesem Liebesverhältnisse
in einer merkwürdigen Weise mit einander ab und be¬
einflussten sich gegenseitig. Ich kann an dieser Stelle
auf das in mancher Beziehung so lehrreiche Liebesieben
Jak ob ’s II. nicht näher eingehen. Wer Macaulay
gelesen hat, wird mir beistimmen, dass eine genauere
Untersuchung dieser Seite des Charakters Jakob ’s einen
interessanten Beitrag zur Psychologie der Liebe darstellen
würde.
u c ii 11 i a y a. a. O. 1kl. iJl S. 75.
68
Zahllose Schriften, Berichte und Anekdoten aus jener
Zeit heschäftigen sich mit John Wilmot, Earl of
Koc bester, gleich berühmt durch die Schärfe seiner
Satire wie durch die Zügellosigkeit seiner Ausschweifungen.
In litterarhistorischer Beziehung werde ich mich mit
diesem merkwürdigen Manne im zehnten Kapitel be¬
schäftigen. Er gehört zu den am meisten charakteristischen
Erscheinungen der Restaurationszeit. Sein kurzes Leben, i)
welches ganz in die Zeit Karl’s II. fiel, gewährt ein
treues Bild von dem wilden Getriebe jener ausschweifenden
Epoche. Verschiedene Zeitgenossen Rochester’s haben
versucht, eine Charakterskizze desselben zu entwerfen.
So hat Robert Wolseley, Sohn des Sir Charles
Wolseley von Staffordshire, ein grosser Lebemann,,
Genosse und Bewunderer Rochester’s eine sehr warme,
stellenweise panegyrische Schilderung seines Lebens in
der Vorrede zu der Ausgabe von Rochester’s Tragödie
„Valentinian“ von 1685 verfasst.'*^) Hier nennt er Rochester
sowohl das ,, Entzücken als auch das Wunder der Männer,
den sanften Liebling (dove) und den Gegenstand der Ver-
n arrtheit der Frauen “ . A p h r a B e h n , von der R o c h e s t e r
gerade nicht viel hielt, nennt ihn trotzdem den „grossen,
den göttlichen Rochester“.^) Bischof B u r n e t , der
dem in den letzten Lebenstagen von Gewissensskrupeln
heimgesuchten Earl Beistand leistete, war der Ansicht,
dass das Hofleben seine ursprünglich edle Natur corrumi)irt
1) Er wurde geboren den 10. April 1647 und starb den
26. Juli 1680.
-) „t^alentinian: A Tragedy. As ’tis Alter’d by tlie late
Earl of R o c h e s t e r , And Acted at the Tlieatre-Royal. Together
witli a pretäce eoncerning the Autbor and bis Writings. By
One 0 f H i s F r i e n d s. London ! 685.
3) Apbra Beim „Poems upon Several Occasions“,' London
1697 -S. 59.
69
habe. „Den eigentümliclien Reiz seines Humors erreicht
keiner. Er ergab sich den tollsten Streichen, ging in
<len Strassen als Bettler verkleidet umher, machte als
Bedienter die Cour und schlug als italienischer Markt¬
schreier eine Bretterbühne auf. Einige Jahre lang war
•er stets berauscht und stiftete überall Unfug. Der König
liebte der Unterhaltung wegen seine Gesellschaft mehr
als seine Person, und der Lord erwiderte dies Gefühl in
gleichem Masse. Er rächte sich durch Satiren. Er hielt
einen Diener, der den ganzen Hof kannte, staffierte den
Menschen mit Soldatenrock und Muskete aus und hielt
ihn als Schildwache den ganzen Winter durch jede Nacht
un den Thüren solcher Damen aufgestellt, die er in
Liebeshändel verwickelt glaubte. Ein militärischer Posten
wird nicht beachtet; man glaubt ihn im Dienst. Auf
diese W^eise kam der Lord durch seine Pseudo -Wache
hinter alle Geheimnisse. Hatte er hinreichenden Stoff
gesammelt, so zog er sich aufs Land zurück und schrieb
einen oder zwei Monate lang Satiren. Einst im ange¬
trunkenen Zustande wollte er dem König ein solches gegen
eine Dame verfasstes Produkt überreichen; aber durch
Zufall gab er ihm ein gegen den Monarchen selbst ge¬
richtetes Libell. — Er verfiel bei Krankheiten in Gewissens-
Skrupel. Am Schlüsse seines Lebens war ich viel um
ihn und bin überzeugt, er würde, hätte er sich erholt,
von seinen Fehlern zurückgekommen sein.“^) Burnet
handelt noch genauer über Charakter und Lebensende
dieses wilde.i Genies in einer besonderen Schrift „Some
Passages in the Life and Death of the Right Honourable
John Earl of Roch ester “, die imTodesjahre Rochester’s
9 Gilbert Burnet „History of liis owii Pime“ Bd. i,
S. 372 cit. nach Grammont (Erläut.) S. 332 — 333.
70
erschien (London 1680).^) Hier erzählt er, dass der Ver¬
storbene ihm gesagt habe, er sei einmal fünf Jahre hin¬
durch beständig betrunken gewesen. Zwar hätte man
dies äusserlich nicht immer bemerken können. Doch sei
sein Blut so entflammt gewesen, dass er niemals vollständig
Herr seiner selbst gewesen sei. Diesem Zustande entsprach
auch das wilde, ausschweifende Leben Rochester’s, das-
eine einzige Aufeinanderfolge von tollen Streichen darstellt.
Seine unzähligen Liebesaffären hielten die vornehme und
die bürgerliche Welt Londons in beständiger Aufregung,
Er war Stammgast in allen Bordellen, betrieb das Verführen
der Frauen als Sport, fand sein Vergnügen am schmutzigsten
Klatsch, der obscönsten Satire, an Prügeleien, Gelagen
und Hanswurstiaden. Durch den Mund der Hobart in
einem Gespräche mit der Temple schildert Hamilton
diesen „geistreichsten, aber gewissenlosesten Mann in
England“ nicht unzutreffend : „Er ist für unser Geschlecht
allein gefährlich, aber in so hohem Grade, dass ein
weibliches Wesen ihn nur dreimal anhören darf, und ihr
Ruf ist verloren. Es ist unmöglich, dass ihm eine Frau
entgehe, denn in seinen Schriften, auf dem Papier besitzt
er sie gewiss, wenn auch nicht in Wirklichkeit, und in
unserem Zeitalter bleibt sich das in den Augen der Welt
ganz gleich. Man muss zugeben, es ist nichts so ver¬
führerisch, als die feine Art, wie er sich der Seele be¬
mächtigt. Er geht auf Ihren Geschmack ein, scheint alle-
Ihre Gefühle zu teilen und während er kein Wort von
dem, was er sagt, glaubt, macht er Sie Alles glauben,,
was er sagt. Ich will wetten, dass Sie ihn nach seinen
Reden für den ehrlichsten, offensten Mann auf Erden
0 Keuausgabe mit Einleitung von Lord Ronald G o w e iv
London 1875.
halten. Eigentlich begreife ich nicht recht, was er mit
seiner Aufmerksamkeit für Sie bezweckt. Es ist wahr,
(lass Ihnen die Huldigung der ganzen Welt gebührt.
Allein wenn es ihm nun auch gelungen wäre, Ihr Köpfchen
zu bestricken, so wüsste er mit dem reizendsten Wesen amHofe
nicht einmal etwas anzufangen. Dafür haben seine Ausschwei¬
fungen mit Hülfe aller Stadtdirnen längst gesorgt“.^) P epys
erzählt in seinem Tagehuche eine Entführungsgeschichte.
Roc bester entführte eine Mistress Mailet, eine grosse
Schönheit und reiche Erbin bei Charing Cross, als sie
mit ihrem Grossvater, Lord Hai ly, nach Hause fuhr, und
steckte sie mit Gewalt in eine sechsspännige Kutsche, in
der zwei Frauen sie empfingen. Er wurde aber bald ver¬
haftet und in den Tower geschickt. So lange er bei
Hofe lebte, war er überhaupt mindestens ein Mal jährlich
verwiesen worden. Denn kaum hatte er ein Witz wort
auf der Zunge oder Federspitze, so brachte er es unter
die Leute. Seine kaustischen Sarkasmen verschonten
weder die Minister, noch den König und seine Maitressen.
Trotzdem rief Karl H. ihn immer wieder an den Hof.
Roc bester ’s Liebesabenteuer sind in verschiedenen,
zum Teil obscönen Werken behandelt worden; ebenso sein
angeblich reuiges Lebensende. Einen würdigen Partner
C Grammont’s Memoiren S. 201 — 202.
2) Vgl. „The Singular Life, Amatorv Adventiires and
Extraordinary Intrigues of John Wilmot, The Renowned
Earl of Rochester“ (London circa 1864); J. G. ]\T. Ruther¬
ford „The Adventiires and Intrigues of the Duke of
Buckingham , Charles the S e c o n d and the Earl
Rochester“ London 1857 (beide Werke sind apokryph);
„The Libertine OverthroMm“ London 1680. J. Ley „The Two
Noble Converts, or the Earl of Marlbor ough and the Earl
ofRochester, their dying requests and remonstrance“ London
1681; „The Repentance and Happy Death of the celebrated
Earl of Rochester“ London 1830 (Publikation der „London
72
fand Röchest er hei seinen Ausschweifungen in seinem
Freunde, dem Herzoge von Buckingham.
George Villiers, Herzog von Buckingham
wurde am 30. Januar 1627 geboren und starb am
16. April 1688, wurde unter der Obhut Karls I. erzogen,
ging nach des Königs Hinrichtung nach Frankreich,
sicherte sich aber die Rückkehr nach England, indem er
sich mit der Tochter des Generals Fair fax verheiratete.
Unter der Restauration wurde er Minister und Günstling
Karls H. Dessen Nachfolger Jakob verbannte ihn vom
Hofe. Buckingham war ein Mann „voll von Geist
und Feuer“ (Hamilton), der aber in toller Genusssucht
.seine unermesslichen Güter verschwendete, ein echter
Repräsentant der gesunkenen menschlichen und politischen
Moral der englischen Restaurationsepoche“. Lord Orford
(H. Walpole) sagt von ihm: „Wenn dieser ausser¬
ordentliche Mann mit der Schönheit und dem Geiste
eines Alcibiades begabt, den Presbyterianer Fair fax und
den aussoh weifenden König Karl auf gleiche Weise be¬
zaubern, wenn er ebenso den witzigen Fürsten wie dessen
gravitätischen Kanzler verspotten konnte, wenn er das
Verderben seines Landes mit einer Cabale von schlechten
Ministern anbahnte, oder nicht minder grundsatzlos des
Landes Wohl mit falschen Patrioten erstrebte, so bedauert
man, dass solche Gaben ohne allen Beisatz von Tugend
Religioiis Tract Society“); ferner Nachrichten über R. in der
„Eccentric Biograpliy“ London 1826; Kapitän A. Smith ’s
„School of Venus“ London 1716 (2 Bde.); Pepys’ Tagebuch,
Grammont’s Memoiren: 11. Walpole „A Catalogue of the Royal
and Noble Authors of England“ London 1798. E. D. Forgues
hat in der „Revue des deux Mondes (August 1857 S. 826 ff und
Septbr. 1857 S. 161 ff) eine auch von Ta ine für seine englische
Litteratur benutzte Studie über Roche st er als Mensch und
Dichter veröffentlicht.
73
verloren gingen; aber wenn Alcibiades Alcliymist wird,
wenn er, ein habsüchtiger Träumer nach Seifenblasen
jagt, wenn der Ehrgeiz nur ein Zeitvertreib wird, und
die schlimmsten Pläne nur elenden Zwecken dienen, —
so lässt gerechte Betrachtung alles Nachdenken über
diesen Charakter verschwendet erscheinen“. Bischof
B u r n e t ’ s Urteil lautet: „Er war nicht den Wissenschaften
■ergeben, eine Zeit lang nur beschäftigte er sich mit
Chemie und glaubte der Entdeckung des Steines der
Weisen nahe zu sein, welches die gewöhnliche Folge hatte,
d. h. er musste teuer dafür bezahlen. Ohne Sinn für
Religion, Tugend oder Freundschaft lagen ihm nur Ver¬
gnügungen, tolle Streiche oder Ausschweifungen am
Herzen. Er blieb keiner Sache treu, weil er sich selbst
nicht treu war; er konnte nie einen Gedanken fest ver¬
folgen, kein Geheimnis bewahren, noch auch sein Ver¬
mögen, damals das grösste in England, zu Rate halten.
In der Nähe des Königs aufgewachsen, hatte er lange
grossen Einfluss auf diesen, sprach aber über ihn zu aller
Welt mit Verachtung und zog sich endlich bleibende Ungnade
zu. Der Wahnsinn des Lasters erschien in diesem Manne
in ausserordentlichem Grade verkörpert; er ward zuletzt
verächtlich, arm und siech, und seine Geistesgaben
schwanden, so dass man ihn endlich mied, wie man ihn
früher gesucht hatte“. In wüsten und rohen Excessen
Avar Buckingham Meist er wie sein Freund R o c h e s t e r.
Einst mieteten sie zusammen ein Wirtshaus an der Strasse
nach Newmarket, avo sie die Männer regalierten und die
Frauen schändeten. Als alte Frau verkleidet begab sich
Ro ehester in das Haus eines Geizhalses, entführte seine
Grammont’s Memoiren (Erl.) S. 308 — 309,
74
Frau und scdienkte dieselbe Buckingliam. Der Gatte
erhängte sich, sie ,,aber fanden den Spass köstlich“.
Als die hässliche und ungestalte Lady Muskerry auf
einem Balle ein ,, untergestopftes Kissen“ verlor, folgte
ihr der Herzog von Buckingham, hob es sorgsam auf,
drückte es in die Brustklappen seines Leibrockes, und,
indem er das Geschrei eines neugeborenen Kindes nach¬
machte, suchte er sogleich unter den Ehrenfräiilein eine
Amme für den armen kleinen Muskerry. Am meisten
hat Buckingham seinen Namen befleckt durch die
traurige Affäre mit dem Lord Shrewsbury, dessen
Gemahlin er verführte, und den er dann unter den rohesten
L^mständen im Duell tötete. M a c a u 1 a v berichtet darüber :
t/
,,Das Haupt der Familie (Shrewsbury) war zur Zeit
der Restauration Francis, elfter Earl, ein Katholik.
Sein Tod war von Umständen begleitet gewesen, die selbst
in jenen ausschweifenden Zeiten, welche unmittelbar dem
Sturze der puritanischen Tyrannei folgten, Abscheu und
Mitleid erregt hatten. Der Herzog von Buckingham
war auf der irren Bahn seiner unerlaubten Liebesabenteuer
für einen Augenblick durch die Gräfin Shrewsburv
angezogen. Sie ward leicht gewonnen; ihr Gemahl forderte
den Verführer und fiel. Einige sagen, dass das entartete
Weib in der Kleidung eines Mannes dem Kampfe bei¬
wohnte, und Andere, dass sie den triumphierenden Liebhaber
an ihr Herz drückte, als noch von seinem Hemde das
Blut ihres Ehemannes rann“. Pepys ei zählt in seinem
Tagebuche, dass Lord Shrewsbury „durch und durch
Taine a. a. 0. Bd. H S. U).
Grammont’s Memoiren S. 237 — 238.
Macanlay a. a. 0. Bd. Hf S. 851.
- /D —
gestossen‘‘ Avard nnd alle Teilnehmer am Duell verwundet
wurden.
Dies sind die berühmtesten Männertypen der Re¬
staurationszeit. Die übrigen Lebemänner, die in „Gram-
mont’s Memoiren“ verkommen, sind der Nachwelt weniger
bekannt, obgleich sie in Beziehung auf wüstes Leben
ihrer Vorbilder Avürdig sind. Nur wenige von ihnen
seien noch an dieser Stelle genannt. So der ,, schöne“
Henry S i d n e y , Kammerjunker des Herzogs von Y o r k ,
in den sich die Herzogin verliebte, den Bischof Burnet
sehr milde beurteilt, indem er nur seine ungemessene
Vergnügungssucht tadelt, den aber Macaulay etwas
schärfer mitnimmt, indem er ihn den „Schrecken der
Ehemänner“, den „Liebling der Weiber“ und ,, versunken
in ein wollüstiges Leben und in Trägheit“ nennt,
1) Wie es damals bei J)iiellen zuging, erläliren wir
ebenfalls durch Pe])ys, der unter dem Juli 1667 erzählt:
„Sir Henry Beiasses und Tom Porter, die besten
Freunde von der Welt, unterhielten sich zusammen, und
„Sir Beiasses sprach ein wenig lauter als gewöhnlich
zu Tom Porter, indem er ihm eine Mitteilung machte.
Da sagte einer aus der Gesellschaft, der in der Nähe stand:
Was? Zanken sie sich vielleicht, dass sie so laut reden? —
Sir H. Be 11a SS es, der dies gehört hatte, erwiderte: „Durchaus
nicht, und Ihr möget wissen, dass ich niemals Streit antänge
ohne zuzuschlagen. Lasst Euch das gesagt sein, das ist so
mein Brauch.“ — „Wie!“ sagte Tom Porter, „schlagen? Ich
möchte den Mann in England sehen, der es wagen würde,
mir einen Schlag zu geben. Da gab ihm Sir Beiasses eine
Ohrfeige, und nun ging es zum Zweikampf. Als Tom Porter
erfuhr, dass der Wagen des Sir Beiasses angekommen sei,
verliess er das Kaffeehaus, wo er auf Nachricht gewartet hatte,
hielt die Kutsche an und liiess Sir Belass es austeigen —
„Gut“, sagte Sir Beiasses, „aber nicht Avahr, Ihr werdet
mich nicht an fallen, während ich aussteige.“ „Nein“,
erwiderte To m Porter. — Da stieg er aus und beide zogen. . .
Sie wurden beide verwundet, und Sir H. Belass es so stark,
dass er zehn Tage später an den Wunden starb.“
2) Macaulay a. a. 0. Bd. IV S. 14.
76
F einer der effemiiiierte H a r r y J e r m y n , ^) B r o u ii k e r , -)
der Dichter Dorset, den Horace Wal pole den
„glänzendsten Kavalier“ an dem üppigen Hofe Karl ’ s II.
nennt und über dessen Liaison mit Nell G w y n n Pep y s
unter dem 13. Juli 1667 berichtet, sowie von ihrem
gemeinsamen lustigen Leben mit Charles Sedley im
Kings-Head-Gasthofe, endlich dieser letztere Schöngeist,
1) „Sie hatte von Jermyii als einem wahren Helden in
Liebesabenteuern gehört. Wenn die Pri ce ihr die Verhältnisse
<ler Herzogin von Cleveland schilderte, nannte sie seinen
Namen oft und verschwieg dabei die Schwäche, welche der
Held bei ernsten Zusammenkünften an den Tag legen sollte,
nicht. Dadurch war indess ihre Begierde nicht vermindert,
einen Mann zu sehen, dessen ganzes Wesen eine lebendige
Trophäe der Damengunst und aller möglichen Siege über das
schöne (Geschlecht sein musste.“' Grammont S. 219 — „Des
Königs arme Höflinge konnten mit eines Jermyn reicher
Ausstattung und Pracht nicht wetteifern, und bekanntlich führen
diese Dinge in der Liebe oft ebenso weit nls persönlicher Wert.“
ibid, S. 78. Auch Lady Castlemaine fand Gelegenheit, sich
von der geringen Virilität dieses Gecken zu überzeugen.
„A^on allen Hofmännern hegte dieser am wenigsten
Achtung für das schöne Geschlecht und hatte mit dessen Kuf
das allermindeste Erbarmen. Er war iricht mehr jung, sehr
Aeusseres nicht einnehmend, allein bei sehr viel Geist besass
er eine unbegrenzte Neigung zu den AVeiberrr. Ueber den
eigeneir AAArt war er sich vollkommen klar; er sah wohl ehr,
er k(')nne nur iroch bei denen, die es auf seinerr Beirtel ab-
geseherr, sein Glück machen, und lag deshalb mit allen
andern im Kampfe. Eine Stunde von London hatte er ein
Landhaus, welches immer mit einigen Grisetten möbliert war,
übrigens war er ein sehr guter Alann und der erste Schauspieler
im ganzen Reich, ibid. S. 226.
3) „Er (Dorset) war in der That ein merkwürdiger Alanrr.
ln seiner Jugerrd war er einer von den berüchtigten AAhistlingen
der wilden Zeit gewesen, welche der Restauration folgte, der
Schrecken der Wächter der City, hatte viele Nächte in dem
AVachthause zugebracht, und wenigstens einmal eine Zelle in
Newgate bewohnt. Seine Leidenschaft für Betty Mori ce und
für Nell Gwynn hatte der Stadt Stoff zur Unterhaltung und
zum Skandal in reichem Masse gewährt. Doch mitten aus
Tliorheiten und Lastern ragten sein mutiger Geist, sein scharfer
77
der die Zügellosigkeit seiner Schriften nur durch die
Zügellosigkeit seines Betragens übertraf.
Das Verhältnis der Männer und Frauen von der
Art, wie wir sie kennen gelernt haben, unter einander
musste das denkbar roheste sein. Der niedrigste Klatsch
und die boshafteste und unflätigste Verleumdung waren
die Mittel, die Männer und Frauen in den oft ungleichen
Liebeskämpfen gegen einander gebrauchten. Die Frauen
veracliteten die Männer nicht weniger als sie von diesen
selbst verachtet wurden. Die Weiberehre wurde mit
Füssen getreten. Wie empörend ist z. B. die systematische
Verleumdungsaktion, welche gegen Miss Hy de in Scene
gesetzt wurde, um Jakob II. davon abzubringen, sie zu
heiraten. Da sagt ein Talbot aus, dass sie ihm im
Kabinet ihres Vaters eine so lebhafte Zusammenkunft
gewährt habe, dass sie beide auf die Sachen, die auf dem
Tische standen, weniger achteten, als auf das, was sie
beschäftigte, und so hätten sie eine ganze Flasche voll
\Trstand lind seine natürliche Herzensgnte hervor.“ Macaulay
III, 35'2 — 353. Macaulay rühmt auch das hervorragende
Verständnis dieses Verfassers äusserst witziger Satiren für
Kn st und Litte ratur.
y „Die Sittlichkeit Sedley’s war von der Art, dass sie
selbst in jenem Zeitalter grossen Anstoss erregte. Bei einer
(ielegenheit zeigte er sich nach einem wilden Gelage auf dem
Balkon einer Schenke in der Nähe von Govent Garden und
redete zu den vorbeigehenden Leuten in einer so unzüchtigen
und gottlosen Sprache, dass er durch einen Hagel von Ziegel¬
stücken ins Haus getrieben, wegen Misdemeanour verfolgt und
zu einer schweren Geldstrafe verurteilt ward, auch von dem
Gerichtshof des Kings Bench in schneidenden Ausdrücken einen
Verweis erhielt. Macaulay III S. 74. Ein ander Mal liefen
Sedley und Dorset halbnackt in der Nacht durch die Strassen
(Pepys). Als rler Lichter Hy de an Sedley die Frage richtete,
ob er das Buch „der vollkommene Gentleman“ gelesen habe,
erwiderte derselbe: Seine Lordschaft aus dem Spiele lassend,
habe er wohl mehr Bücher gelesen Avie der Frager.
78
Dinte auf eine fünf Seiten lange Depesche iimgestürzt,
worauf des Königs Affe, dieses Vergehens angeklagt, auf
längere Zeit in Ungnade gefallen sei“. Jermyn nannte
mehrere Orte langer und glücklicher Zusammenkünfte
mit der Hy de. Beide bekannten aber, nur die „kleinen
Freuden der Liebe“ genossen zu haben. Aber Killegrew
sagte gerade heraus, dass er die höchste Gunst der Miss
Hy de genossen habe. „Er war von munterem, schalk¬
haftem Sinn und wusste seinen Geschichten durch anmutige
pikante Züge einen hübschen Anstrich zu geben. Ihm,
sagte er, hätte die Schäferstunde in einem ganz anderen
Kabinet gelacht, das zu einem von Liebeshändeln weit
entfernten Zwecke gerade über dem Wasser eingerichtet
wäre; zu Zeugen hätten sie drei oder vier Schwäne gehabt,
die leicht auch manches Andere Glück wahrgenommen
haben könnten, da die Dame oft in dies Kabinet ginge
und sich sehr darin gefiele.“
Schamlos waren die Unterhaltungen über die Beize
des anderen Geschlechts, seien sie nun von Männern oder
von Frauen geführt. Letztere unterhielten sich mit Vorliebe
über die plwsische Tüchtigkeit berühmter Liebeshelden.
Erstere unterzogen die Beschaffenheit der weiblichen Körper
einer eingehenden Analyse. Männer überliessen ihre
1) „Grammont'.'s .Memoiren“ S. 134 — 135.
2) „Lady (i h e s t e r fi e l d ist angeiiehiii, mau muss das
einräumeii, aber es fehlt yiel an dem Wunder von Schönheit,
wofür sie sich Indt. wissen, dass sie hässliche Füsse hat,
aber nicht, dass ihre Beine noch hässlicher sind.“ — Bitte
sehr,“ sagte 11 a milton leise. — Der Lord setzte seine Zer¬
gliederung fort: „Ihr Bein ist kurz und dick, und um diesen
Fehler, so gut es geht, zu verbergen, trägt sie fast stets grün¬
seidene Strümpfe.“ — Hamilton konnte nicht begreifen, wo
zum Teufel das Alles hinauswolle, und C h e st e rh e i d, ihn
erratend, sprach weiter: „Einen Augenblick Geduld: gestern
Ehefrauen guten Freunden zur gefälligen Benutzung, wie
dies Mr. C o o k e gegenüber Sir William Baron tliat.
Andererseits nahmen betrogene Ehemänner bisweilen
eine seltsame Bache, die „ohne Gift und Eisen“ doch
gründliche Genugthuung schatten konnte. So suchte
Southesk an den verruchtesten Orten die „abscheulichste
Krankheit, die dort zu finden ist; es gelang ihm seine
Bache aber nur zur Hälfte ; denn nachdem er die schwersten
Kuren durchgemacht, um das Übel wieder los zu werden,
gab seine Frau Gemahlin ihm allein sein Geschenk zu¬
rück, da sie mit dem, für welchen es so gewandt bereitet
war, keinen Umgang mehr pflog“. “■^) Der Marquis von
F 1 a m a r e n s konnte von Glück sagen, dass Lady Southesk
ihm ausser ihrem Herzen nicht noch „ein anderes Geschenk^*“
verehrte.
war ich bei Miss Stewart, nach der Audienz dieser ver¬
wünschten Moskowiten. Uer König war gerade eingetreten,
und als hätte der Herzog geschworen, mich diesen Tag überall
zu verfolgen, trat auch er eine Minute später ein. Die ünter-
lialtung drehte sich um das seltsame Aeussere der fremden
(tesandten. Ich weis nicht, wie der tolle Cr oft s dazu kam,
zu sagen, die Moskowittni hatten lauter schöne Frauen und
alle ihre Weiber hätten schöne Beine; genug, der König be¬
hauptete, es gäbe nichts Schöneres, als das Bein der Miss
Stewart. Um den Ausspruch zu bethätigen, zeigte sie es bis
über das Knie. Man wollte sich niederwerfen, um sein Eben-
]nass anzubeten; denn es giebt wirklich nichts Schöneres;
aber der Herzog allein fing an, es zu bekritteln ; er meinte, es
wäre etwas zu dünn, und behauptete, nichts sei so reizend, als
ein etwas kürzeres und stärkeres Bein und schloss endlich:
kein Bein ohne grünseidene Strümpfe könne Gnade finden.
Nach meiner Ansicht hiess das sagen : er habe ein solches
kürzlich gesehen und sein Kopf sei noch ganz voll davon.“
ibidem S. 147.
*) Mrs. M a n 1 e \ ’s „Atalantis*‘ S* 485.
‘b ibidem S, 139.
3) S. 175.
80
Häufig ei eigneten sich Eifersuchtsszenen zwischen
den verschiedenen Damen, und besonders zwischen des-
Königs zahlreichen Maitressen.
Schwangerschaften und Niederkünfte waren
alltägliche Ereignisse. Die stolze Warmestree, „offenbar
in der Zeitrechnung getäuscht, nahm' sich die Freiheit,
mitten am Hofe niederzukommen“, und Miss Bellenden,,
durch dieses Beispiel gewarnt, hatte einige Zeit nachher
die Klugheit, den Hof zu verlassen, ehe sie fortgewiesen
wurde. Lady Castlemaine’s Aussehen war ,, durch
eine dritte oder vierte Schwangerschaft entstellt, welche
der König noch auf seine Kechnung zu nehmen die
Güte hatte.“
P e p y s hörte von Kapitän F e r r e r s , da^s „vor ungefähr
einem Monate bei einem Hofballe eine Dame während
des Tanzes ein Kind habe fallen lassen“. Man trug es
Grammont schenkte dem König eine prachtvolle
Karosse mit Glasfenstern, „die Königin glaubte, dieses prächtige
Gebäude könne ihr Glück bringen, und wollte sich deshalb
mit der Herzogin von York zuerst darin zeigen. Lady
Castle niai ne, die sie fahren sah, stellte sich vor, man müsse
in dieser Karosse schöner aussehen wie in einer andern, und
bat den König, ihr den Y^Yinderwagen zu leihen, um damit am
ersten schönen Tage im Hyde-Park zu glänzen. Miss Stewart
hatte denselben Wunsch und verlanote ihn für den nämlichen
'tag. Da es nun kein Mittel gab, zwischen beiden Göttinnen
zu entscheiden, deren frühere Freundschaft sich in Todhass
gewandelt hatte, so war der König in grosser Verlegenheit ;
denn jede wollte durchaus die erste sein. Lady Castlemaine
war guter ITofthung und drohte vor der Zeit niederzukommen,
wenn ihre Nebenbuhlerin den Vorzug erhielte. Miss Stewart
beteuerte, sie werde sich nie in jenen Zustand versetzen lassen,
wenn man sie hintan stelle. Die letzte Droliung trug über die
erste den Sieg davon und die Wut der Castlemaine war
so gross, dass sie fast Wort gehalten hätte ; auch behauptet
man, der Triumph habe der Rivalin ein Avenig \on ihrer Un¬
schuld gekostet“ ibidem S. 119.
2) ibidem S. 183, S. 184.
3) ibiilem S. 259.
81
in einem Tasclientuclie weg. Der König behielt es un¬
gefähr eine Woche in seinem Kabinet und secierte es
unter groben Spässen und Witzen“, i) Die Königin fühlte
nur zu gut, dass ihr Gemahl sich um legitime Kinder
wenig bemühen werde, so lange seine reizenden Maitressen
ihm natürliche Nachkommen brächten. ‘^)
Die Vergnügungen jagten einander an diesem
Hof der üppigsten Wollust. Besonders beliebt waren die
Ausritte, bei denen die Damen alle ihre Reize glänzen
liessen. „Bald gab es Spazierritte, wo die Schönen des
Hofes, hoch zu Ross ihre Reize, zuweilen mit, zuweilen
ohne Erfolg, aber immer nach Kräften entfalteten“,^)
wobei auch Miss Arabella Churchill einmal Gelegenheit
hatte, dem Herzog von York den Contrast zwischen
ihrem Gesichte und ihrem Körper zu zeigen.^) Pepys
sah einmal die ganze Schaar dieser schönen Damen von
einem Spazierritte zurückkehren, folgte ihnen in den Hof
von Whitehall, beobachtete, wie sie einander ihre Hüte
mit den grossen Federn aufsetzten und anprobierten, hörte,
wie sie lachten. „Es war der schönste Anblick, was ihre
grosse Schönheit und ihre Kleider betrifft, den ich je in
meinem Leben gehabt habe. Aber vor allen ist jetzt
Miss Stewart, in diesem Kleide, mit dem aufs Ohr ge¬
setzten Hute mit roten Federn, mit ihrem süssen Auge,
kleiner römischen Nase und herrlichem Wüchse, das
Schönste, was ich je gesehen habe.“ In der That liebte
Ta ine a. a. 0. Bd. 11 S. 23.
2) Grammont S. 262.
ibid. S. 116.
4) ibid. S. 247.
J. H. Jesse „Literary and Historical Memorials of
London“ Lond. 1847 Bd. 11 S. 207.
Dühren, Das Geschlechtsleben in England.** 6
82
der König Miss Stewart am meisten, wenn sie zu
Pferde sass. — Auch gab es wunderbare Wasserpaitien.
Von den Stufen des an der Themse liegenden Palastes
von Wbiteball stieg der Hof herab, um sich auf dem
Flusse einzuschiffen, wenn „an Sommerabenden Hitze und
Staub die Spazierfahrt im Parke nicht gestatten. Eine
Unzahl von offenen Fahrzeugen, mit allen reizenden Er¬
scheinungen vom Hofe und aus der Stadt angefüllt, geben
den königlichen Barken das Geleit. Habei giebt es Fest¬
mahle, Musik und Lustfeuerwerke. Auch der Chevalier
Grammont nahm immer Teil daran und fast jederzeit
verherrlichte er die Fahrt durch eine Überraschung pracht¬
voller oder galanter Art. Zuweilen waren es ganze Vocal-
und Instrumentalkonzerte, zu dem er die Künstler heimlich
aus Paris hatte kommen lassen, und die plötzlich auf dem
Wasser ihre Töne anstimmten, oft auch darstellende
Künstler, ebenfalls aus Frankreich herbeigeholt, um in
London die Feste des Königs zu verherrlichen“.^) —
Eine Zeit lang waren nächtliche Gelage bei Miss
Warme stre sehr en vogue, und alle diese Feste wurden
ibidem S. 116 — 117.
„Um alles in der Welt hätte die Gouvernante der
Fräulein nicht anders als in Zucht und Ehren die bequeme
Aufseherin ges])ielt: doch gestattete sie, dass bei Miss
W armestre nach Belieben zu Nacht gegessen werde, ver¬
steht sich: in ihrem Beisein und in guter Absicht. Die gute
Dame liebte frische Austern und verachtete keineswegs die
spanischen Weine. Sie fand also regelmässig bei jeder Mahl¬
zeit zwei Fässchen Austern, das eine zum gemeinschaftlichen
Verzehren und das andre zum Mitnehmen. Sobald sie ihre
gehörige Portion Wein genossen hatte, empfahl sie sich der
Gesellschaft. Ungefähr um die Zeit, als der Chevalier Gram¬
mont die Augen auf Miss AVarmestre geworfen hatte,
führte man dieses heitre Leben auf ihrem Zimmer. Der
Himmel weis«, wie viele Schinkenpasteten, Flaschen Wein und
andre Dinge auf seine Kosten dort verzehrt wurden.“ ibidem
S. 180—181.
83
verschönt durch die lieblichen Töne der Guitarre.^)
Auch Geschenke^) und Liebespfänder spielten
eine grosse Rolle bei diesen leichtfertigen Unterhaltungen.
Bei alledem war das am meisten Verderbliche, dass
diese vornehme Gesellschaft ihre Laster ins Volk hineintrug»
Wohl keine Epoche in der Geschichte der öffentlichen
Sittlichkeit lässt so deutlich den unheilvollen Einfluss
einer korrumpierten höheren Gesellschaft auf die Volks-
„Es gab am Hofe einen durch sein Guitarreuspiel
berühmten Italiener, Francisco. Er besass wirklich musika¬
lisches Genie und (lariim hat er auch allein aus der Guitarre
etwas machen können; sein Spiel war so zart iintl anmutig,
dass er dem undankbarsten Instrument Harmonie verliehen
hätte. Es muss dabei bemerkt ^verden, dass nach seiner Manier
zu spielen ausserordentlich schwierig war. Des Königs Ge¬
schmack an diesen Compositionen hatte das Instrument so in
Aufnahme gebracht, dass alle Welt gut oder schlecht darauf
spielte und auf dem Toilettentisch der Damen war so sicher
eine Guitarre zu tinden, wie Schminke und Schönheits¬
pflästerchen“. ibidem S. 143.
„Taschenspiegel, besetzte Etuis, Aprikosen-Ronbons,
Essenzen und andere kleine Liebesartikel kamen von Paris
allwöchentlich mit irgend einem neuen Anzug für ihn selbst;
in Hinsicht wertvollerer Dinge indfess, wie Ohrgehänge, Diaman¬
ten und schöne Himmelsgaben in baaren Guineen, diese fanden
sich alle in natura in der Stadt Ijondon vor, und die Schönen
führten sie sich zu Gemüt, als wären sie wer weiss wie weit
hergekommen.“ ibidem S. 87.
®) Als Dongan, den Miss Price zärtlich geliebt hatte,
gestorben war, fand sich in seinem Nachlasse ein versiegeltes,
an die Price adressirtes Kästchen. Da diese die Entgegen-
nähme desselben ablehnte, fand die Eröffnung im Zimmer der
Herzogin von York in Gegenwart mehrerer Damen statt. „Es
fanden sich darin alle nur erdenklichen Liebespfändchen, und
sie waren sämmtlich von der zärtlichen Miss Price. Man
konnte nicht begreifen, Avie ein einziges menschliches Wesen
so viel Material habe liefern können ; denn ausser den Portraits
gab es alle Arten von Haaren, und in den mannigfachsten
Geflechten. Darauf kamen drei oder vier Packete Briefe von
so feurig zärtlichem Inhalte, dass man nach den ersten beiden
nicht weiter zu lesen wagte: Inbrunst und Schmachten waren
-darin zu natürlich ausgedrückt.“ ibid. S. 188.
6*
84
Sitten erkennen wie diese, welche ein besonderes Vergnügeir
darin fand, stetige Fühlung mit dem gewöhnlichen Bürger
und Leuten aus niederem Stande zu behalten. — Von.
dem skandalösen Benehmen Sedley’s u. A. inmitten
des Volkes habe ich schon berichtet. Rochester liess¬
sich einmal eine Zeit lang in der City nieder in der
anfänglichen Absicht, sich in die Geheimnisse der Bürger
einweihen zu lassen d. h. er wollte „unter verändertem
Namen und in fremder Tracht an ihren Festen, Partien
und gelegentlich an dem Genüsse ihrer Frau Gemahlinnen
Teil nehmen. Da sich sein Geist allen Richtungen an-
bequemte, so musste man sehen, wie er in die dichte
Hülle der reichen Aldermänner und in die zartere ihrer'
liebenden und prunkhaften Hälften eindrang. Er ward,
zu allen Festen geladen, und während er mit den Männern
gegen die Fehler und Schwächen der Regierung deklamierte,,
half er ihren Frauen über die Hofdamen und Maitressen
des Königs den Text lesen. Er behauptete in ihrem
Sinne, dieser schändliche Missbrauch nage am Mark des
armen Volkes; die schönen Damen der City gäben denen
des Westendes gar nichts nach, und doch fände in ihrem
Stadtteile ein braver Ehemann an einer Frau vollkommen
Genüge; endlich ihr Murren noch überbietend meinte er,,
er sei erstaunt, dass noch nicht Feuer vom Himmel auf
Whitehall gefallen sei und es zerstört habe, weil man
dort Taugenichtse wie Rochester, Killegrew und
Sidney dulde, die da behaupteten, alle Männer in London
seien Hahnreie und ihre Weiber geschminkt. Dergleichen
machte ihn in männlichen Kreisen so beliebt und gesucht,,
dass er der Schlaraffengelage und der Zudringlichkeit der
Kaufleute bald müde wurde“, i) Miss F r a n c e s J e n n i n g s.
ibidem S. 221.
85
and Miss Price verkleideten sich als Orangenmädchen,
lind boten in der Stadt ihre Früchte feil, wobei sie allerlei
Abenteuer erlebten, über die Hamilton berichtet.
Übrigens waren diese Verkleidungen der Hofdamen häufig.
-^Selbst die Königin mischte sich als Bäuerin auf Jahr¬
märkten unter das Volk. Bischof Biirnet erzählt: „In
jener Zeit verfiel der Hof auf die ausgelassensten Mum¬
mereien; König und Königin und der ganze Hof gingen
verkleidet umher, zogen in fremde Häuser und tanzten
da unter tollen Spässen. Dabei waren sie kaum zu er¬
kennen, wenn man nicht um das Geheimnis wusste. Sie
liessen sich in gewöhnlichen Mietssänften umherführen.
Einmal verloren sich die Träger der Königin, indem sie
diese nicht kannten, von ihr. So blieb die Fürstin ver¬
lassen und wusste sich nicht zu helfen. Eine Mietskutsche
«
brachte sie nach Whitehall zurück“.-)
Aber diese Vertraulichkeiten gingen noch weiter.
John Evelyn erzählt von grossen Ladies, die sich in
Tavernen von solcher Art traktieren liessen, dass eine
Courtisane sich kaum herablassen würde, ein derartiges
Lokal aiifzusuchen. „Aber noch mehr werdet Ihr erstaunt
sein, wenn ich Euch versichere, dass sie ihre grossen
Gläser in der Kunde trinken, Gesundheiten ausbringen,
nach der Geige tanzen, freigebig Küsse austeilen und
das als einen ehrbaren Zeitvertreib bezeichnen.“^) De
C 0 m i n g e s, der französische Gesandte am Hofe Karls H.
berichtet, dass Excesse in Tavernen und Bordellen von
Leuten von Rang begangen wurden blos in wollüstigen
1) ibid. S. 223—228.
„Grammont’s Memoiren“ (Erläut.) S. 330.
3) Georgia na Hill „\Vomen in Englisli Life“ London
1896 ßd. I S. 184.
— 8G —
Absichten, und dass selbst Frauen aus vornehmem Stande
es ihrem Galan nicht verweigerten, ihn dorthin zu be¬
gleiten, um spanischen Wein zu trinken, i)
In seinen „Literary and Historical Memorials of
London“, die er oft durch eigene eingestreute Verse belebt,
giebt J. H. J e s s e eine poetische Schilderung des Lebens
und Treibens der Eestaurationszeit, die als passender
Abschluss dieses Abschnittes hier ihren Platz finden
möge :
„Live while we live“, the frolic monarch cries;
Away with thought in joy’s delicious hours,
Of love and mirth, of melody and fiowers !
Lo ! on the ear voluptuous music falls,
The lamps are flashing on the mirrored walls;
How rieh the odours, and how gay the rooms
With sparkling jeweis and with waving plumes!
Bright names that live in history’s page we trace,
Hyde’s mournful lok, and Monmouth’s angel face;
Portsmouth’s dark eye, and Cie veland’s haughty
cliarms
That chained a monarch to her snowy arms;
There royal Catherine cheeks the jealous tear,
While pleads her lord in beauty’s fiattered ear;
There gleams the star on graceful Villiers’ breast,.
Here the grouped courtiers laugh at Wilmot’s jest:
There glittering heaps of tempting gold entice
The wealthy fool to chance the dangerous dice;
Here floats joung beauty through the graceful dance,.
Feigns the fond sigh, or throws the wanton glance;
L ibidem S. 187.
2) J. II. Jesse a. u. 0. Bd. H S. 201 — 205.
87
There tlie soft love-song, to 3^011 group apart,
Steels witli delicious sweetness o’er tlie lieart;
The easy monarch glides frora fair to fair,
Hints tlie warm wish, or hreatlies tlie amoroiis prayer.
2. Die Gesellsclialt des 18. und I!). .Jahrhunderts.
Die Wirkung, welche die Zeit der Restauration auf
das Gesellschaftsleben in England ausgeübt hat, war eine
ungeheure. Die Formen des höheren geselligen Lebens,
wie sie sich unter Karl II. gestaltet hatten, haben sich
im grossen und ganzen bis auf den heutigen Tag erhalten.
So änderte die Vertreibung der Stuarts nichts an dem
Charakter des englischen High Life. Der Beginn des
18. Jahrhunderts lässt dieselben Neigungen der vor¬
nehmen Gesellschaft erkennen, nur veredelt und im Laufe
des 18. Jahrhunderts immer mehr durch geistige Interessen
verfeinert und bestimmt. Paul Heu sei bemerkt in
seiner interessanten Studie über die englischen sozialen
Zustände am Anfänge des 18. Jahrhunderts: „Eine Wieder¬
kehr der puritanischen Sittenstrenge war nicht zu befürchten.
Es war und blieb ein weltliches Geschlecht, das viel
mehr darauf sah, in der Welt fortzukommen, als den
Weg zum Heil zu suchen. Aber die Religion wurde
nicht mehr verspottet, vornehmer Müssiggang wurde ge-
geisselt“. Trotzdem konstatiert Heu sei noch als Haupt¬
charakteristikum dieser Periode, die „Abwesenheit des
Hauptelements unseres heutigen Lebens“, der Arbeit,
obgleich es nicht melir so schlimm war wie in der Zeit,
welche uns das Tagebuch von Pepys so treu schildert.^)
b P. llensel „Engli.sclie sociale Zustände zu Anfang des
18. Jalnliunderts“ Neue Heidelb. Jalirb. 181)9 S. 2—3.
88
Die Abneigung gegen eine regelmässige Bescliäftigung
herrschte noch während des ganzen 18. Jahrhunderts in
der vornehmen Gesellschaft Englands. Und haben jene
Kreise im 19. Jahrhundert diese Abneigung überwunden?
Die Stuarts hatten durch ihren langen Aufenthalt
in Frankreich die Vorliebe für französische Sitten und
französisches Wesen mit nach England gebracht, und in
den Personen eines G r a m m o n t und S a i n t - E v r e m o n d
verkörperten sich diese innigen Beziehungen zwischen der
französischen und englischen Gesellschaft. DieFranco-
philie ist die bemerkenswerteste Hinterlassenschaft der
Restaurationsepoche. Sie giebt — das ist nicht zu ver¬
kennen — dem 18. Jahrhundert auch in England einen
eigentümlichen Reiz. Noch haben sich für diese Epoche
keine englischen Goncourts gefunden. Es würde nicht
schwer für dieselben sein, ein ebenso reichliches Material
für ihre Schilderungen zusammen zu bringen, wie es die
berühmten französischen Schriftsteller gesammelt haben.
„There is an irr esis tibi e fascination in the study
of the men and women of the eighteenth Century of
France and England ; they, their manners and customs
have disappeared for ever, but G a i n s b o r o u g h ’ s gracious
women, Sir Joshua Reynolds ’s charming types, and
Romney’s sensitive heads, have in England immortalised
the reign of beauty of this period“.
Um diese das ganze 18. Jahrhundert hindurch sich
bemerkbar machende und selbst noch unter Georg’sIV.
Regierung anhaltende Vorliebe der Engländer für Frank¬
reich zu erklären, muss daran erinnert werden, dass ihr
besonders in den ersten Decennien des 18. Jahrhunderts
1) E. S. Roscoe und 11 eien CI erg ne „George Selwyn,
bis letters and his life.“ London 1899 S. 21.
89
in Frankreich eine Anglophilie gegenüberstand. Per¬
sönlichkeiten wie Gramm ont und selbst ein Saint-
Evremond waren freilich nicht ausreichend, um solche
tiefen und vor allem nachhaltigen Sympathien zwischen
den beiden grossen Nachbarvölkern hervorzurufen. Diese
Sympathien knüpfen sich erst an die grossen Namen eines
Voltaire und Montesquieu. Drei Jahre, 1 72G — 1728,
weilte Voltaire in England, erlernte die Sprache des
Landes vollkommen, machte sich vertraut mit allen litte-
rarischen und philosophischen Bestrebungen, die durch
die Namen eines D r y d e n , A d d i s o n , Swift, Steele,
Pope, Locke, S haftesbury, Bolingbroke u. A.
mitbezeichnet wurden, lernte durch Newton die natur¬
wissenschaftliche Methode kennen. Seine „Lettres anglaises“
legen beredtes Zeugnis ab von dem tiefen Eindrücke,
den das reiche und unter dem Schutze einer in anderen
Ländern, und besonders in Frankreich, unerhörten politischen
Freiheit emporblühende England auf ihn machte.^)
h Vortrefflich schildert Laiison Voltaire’s innige Be¬
ziehungen zu England: ,,L’Angleterre n’a pas cree Voltaire:
eile Pa instruit. II aimait trop les lettres poiir ne pas s’aper-
cevoir C[u’il y avait lä une grande litterature : il de'couvrit
Shakespeare, et M i It o n, et des comiques de la Restauration,
Mycherley, Congreve. L’e'poctue de la reine Anne etait
falte pour lui plaire: c’est le teinps oü Pineffa^able originalite
de Pesprit anglais se deguise le niieux sous le goüt decent et
la severe ordonnance dont nos chefs-d’oeuvre classiques
donnaient le modele. Ce queDryden, Addison avaient de
francais, Pinduisait ä goüter dans une certaine mesure leurs
C[ualite's anglaises. Dry den lui donna Pidee d’un drame plus
violent; Addison, par son „Caton“, Pinstruisit a mortliser
la tragedie, ä y poser netteinent la these philosoi:>hique. Mais il
fut frappe plus encore du developpeinent scientificjue que de
Pactivite litteraire : sa curiosite vola de tous cotes, se portant
de Newton ä Pinoculation. I^es Sciences ne Pavaient guere
preoccupe' jüsqu’ici: il y reconnut Poeuvre essentielle de la
raison et son arme efficace. . . Il admira dans PAngleterre un
pays oü la liberte de penser etait en apparence illimitee, oü
90
Voltair e’s Weltanschauung ist von Windelband
sehr treffend als eine Vereinigung von Newton’s me¬
chanischer Naturphilosophie, Locke ’s erkenntnis-theo¬
retischem Empirismus und S h a f t e s b u r y ’ s Moralphilosophie
unter dem Gesichtspunkte des Deismus bezeichnet worden.
Die glänzendste Verherrlichung englischer Verhältnisse
aber war in Montesquieu ’s berühmten „Esprit des
Lois“ enthalten. Auch Montesquieu hatte sich mehrere
Jahre in England aufgehalten und besonders die politischen
Verhältnisse des Landes studiert. In der genannten Schrift
legt er dar, dass die englische Freiheit darauf beruhe,
dass die Gesetze die höchste Autorität bildeten, vor der
Alle gleich seien. Die englische Staatsform stellt nach
Montesquieu das Ideal bürgerlicher Freiheit dar.
Diesen beiden französischen Denkern, welche als haupt¬
sächliche Vertreter der Anglophilie in Frankreich betrachtet
Averden müssen, steht eine viel grössere Anzahl von
Engländern gegenüber, Avelche sich während kürzerer oder
längerer Zeit in Frankreich aufhielten und, in die Heimat
zurückgekehrt, die Vorliebe für französisches Wesen in
weite Kreise der Gesellschaft trugen. Hier Avaren es
Aveniger die Philosophen — Avenn auch z. B. Hume und
toutes les varietes du doute et de la negation se rencontraieiit :
Swift satirique et sceptique, niais croyaiit; Pope (leiste;
Boliugbroke brillainment iiicredule; Woolston juibliant
des discours contre les inn-acles de Je'sus-Cbrist, ([udm jury
condamnait, mais oü ([uantite' de geiitlemen applaudissaient.“
(J. Lanson „Histoire de la litte'rature fran^aise“ 3^ e'd. Paris
3 895 S. 6S4 — «Wie der dortige Aufenthalt,“ sagt E. Du Bois-
Reymond, „aesthetiscli und politisch für ihn fruchtbar AA'ard,
so kehrte er auch als feuriger Apostel L o c k e’s und N e Avt o n’s
nach Frankreich zurück.“ ^"oltaire als Naturforscher in: Kei^len
Leipzig 1886 N. I. S. 7.
B R. Falkenberg „Beschichte der neueren Philosophie“
?. Autl. Leipzig 1892 S. 199
91
Locke von ihrem Aufenthalt in Frankreich in philosophischer
Beziehung nicht wenig beeinflusst wurden — als die
Schöngeister und Lebemänner, welche dem fran¬
zösischen Geschmacke in Litteratur, Kunst und Lebens¬
führung huldigten. Es war im 18. Jahrhundert eine
beständige Wanderung dieser englischen Weltmänner
nach Paris, um dort die fashionable, verfeinerte Art des
Lebensgenusses kennen zu lernen. Roues wie George
Selwyn, der Herzog von Queensberry u. A. reisten
häufig dorthin, blos um sich dort Kleider anfertigen zu
lassen oder um Handschuhe einzukaufen. Sie brachten
dann auch wohl ein Dutzend von Crt^billon’s neuesten
Romanen mit, um sie ihren Freunden in der Heimat zu
verkaufen. Q Überhaupt war im 18. Jahrhundert die
Litteratur anderer Völker ausser der französischen in
England so gut wie unbekannt. Noch am Ende des
Jahrhunderts herrschte eine vollkommene Unkenntnis der
deutschen Litteratur in England. Nur französische Schrift¬
steller wurden gelesen. ‘Q Auch die Kunst des Brief¬
schreibens lernte die vornehme Welt von den Franzosen.
Nicht blos Horace Wal pole, der mit Madame Du
Deffand in jahrelanger Korrespondenz stand, hat eine
Unmenge durch Stil und Inhalt klassischer Briefe ge¬
schrieben, sondern es ist schon oft hervorgehoben, dass
auch Lebemänner wie Lord March (Queensberry),
Gilly Williams, Störer, Lord Carlisle, Selwyn
u. A. in ihren Briefen eine verschwendericclie Fülle von
Geist, Witz, Lebhaftigkeit und Bildung entfalten. Lord
Chesterfield’s berühmte „Briefe an seinen Sohn“ sind
9 P'ercy Fitzgerald „The Life of (leorge tlie Fourth“
LoEdoii 1881 Rd. 1 S. 62.
2) v.^Scliütz „Briefe über London“ S. 241..
92
echt französisch in Hinsicht der Lebensauffassung und
laxen Moral, die in ihnen zum Ausdrucke kommt. So
gross war die Vorliebe für Frankreich, dass ganze Familien
von England dorthin übersiedelten und sich dauernd auf
französischem Boden niederliessen. Als Lady Mary
Wortley Alontague in Frankreich reiste, fand sie
englische, schottische und irische Familien in allen
Provinzstädten. In Dijon wohnten allein sechzehn englische
Familien von Eang.
Die französischen „Salons“ wurden eifrig von den
vornehmen Engländern besucht, und es war besonders
Madame du D eff and, welche diese Beziehungen zur
englischen Gesellschaft eifrig pflegte. Sie war mit
George Selwyn befreundet, mehr aber noch mit
Horace Walpole, der sie 17()5 kennen lernte, als sie
beinahe 70 Jahre alt war.
Horace Walpole, der typischeste Vertreter des
englisch-französischen Geistes im 18. Jahrhundert, wurde
als der jüngste Sohn des Ministers Sir R o h e r t W a 1 p o 1 e
am 5. Oktober 1717 geboren, empfing seine Erziehung
in Eton zusammen mit dem Dichter Gray und George
Selwyn, später in King’s College, Cambridge. Schon
im Alter von 22 Jahren bereiste er Frankreich und
Italien, war seit 1741 Parlamentsmitglied und zog sich
1707 vom politischen Leben zurück. Im Jahre 1791
bekam er durch den Tod seines Neffen den Titel eines
Earl von Orford. Er starb den 2. März 1797 in seinem
Hause in Berkeley Square und wurde in Houghton (in
Norfolk), dem Begräbnisplatze seiner Familie zur Ruhe
bestattet. Unter seinen litterarischen Werken ragen vor
0 H. D. Traill „Social England“ London 1896 Bd. S. 154.
93
allem seine unvergleichliclien Briefe hervor, die durch
Geist und Grazie die gdeichzeitigen Briefe französischer
Autoren beinahe übertreften und an die verschiedensten
Personen gerichtet sind. Vor allem ist sein über 15 Jahre
sich erstreckender Briefwechsel mit Madame du Deffand
berühmt. Jesse nennt ihn ,,the most charming writer,
apart from works of imagination, of any in our language“,
und berichtet, dass Miss Berry, die letzte, aber am
meisten geliebte Freundin des Lord Orford noch in der
letzten Zeit seines Lebens seine Conversation ebenso
glänzend wie originell fand. — Walpole war ganz in
Frankreich zu Hause, fühlte sich aber mehr in den
Kreisen der schönen Litteratur, als in denjenigen der
materialistischen Philosophen heimisch. Eine sehr an¬
ziehende Schilderung der französischen Gesellschaft ent¬
wirft er in einem Briefe an George Selwyn vom
2. Dezember 1765, wo er auch erzählt, dass er nicht gern
die Diners beim Baron Holbach mitmache, bei denen
ihm der Kopf durch ein neues System von „antediluvia-
nischer Sündflut“ verdreht werde, welche erfunden sei,
um die Ewigkeit der Natur zu beweisen. Das sei alles
,, Unsinn über Unsinn“, ,,Kurz, ich mag die Jesuiten lieber
als die Philosophen.“-) Walpole, der in seinem
Landhause in Strawberry Hill ein ganzes Kunst-, Litteratur-
und Kuriositätenmuseum eingerichtet hatte , erscheint
durch seinen ausgebreiteten Briefwechsel, durch seine
leidenschaftliche Liebe zum Vergnügen und zur Geselligkeit,
durch seine mannigfaltigen litterarischen Bestrebungen so
recht als der Mittelpunkt dieser schöngeistigen Lebewelt
1) J. II. Jesse „George Selwyn and bis contemporaries“
New. Edit. London 1882 Bd. II S. 3.
ibidem Bd. H S, 9.
94
mit ihrer ausgesprochenen Francophilie. Trefflich hat Lord
Byron in der Vorrede zu „Marino Faliero“ die litterarische
Bedeutung Walpol e’s charakterisiert. Er sagt dort:
„Gegenwärtig ist es Mode, H o r a c e W a 1 p o 1 e herabznsetzen,
erstens weil er ein Peer und zweitens weil er ein Gentleman
war; abgesehen von seinen unvergleichlichen
Briefen und dem „Schloss von Otranto“ ist er ültimus
Romanorum in der Tragödie durch sein treffliches Stück:
,,Uie geheimnisvolle Mutter“, eine Tragödie vom höchsten
Wert und kein winselndes Liebesstück. Er ist der Vater
der ersten romantischen Erzählung und der letzten Tragödie
unserer Sprache, und verdient sicherlich eine höhere
Stellung, wie irgend ein gegenwärtig lebender Schriftsteller,
wer es auch sein mag.“ i)
Im 18. Jahrhundert sog England jene Sympathien
für den alten Erbfeind ein, welche es bis auf die neueste
Zeit bewahrt hat und z. B. während des deutsch-fran¬
zösischen Krieges in so eklatanter Weise an den Tag legte.
Die Kultur der englischen Aristokratie war im 18. Jahr¬
hundert eine wesentlich französische, schon vor der Re¬
volution. Während und nach derselben kam auch durch
die französische Emigration die grosse Masse des Volkes
mit den Franzosen in eine nähere Berührung. Des
„französischen Viertels“ in London, um Leicester Square
herum, habe ich schon im ersten Bande gedacht. Dass
die Franzosen jener und auch späterer Zeiten die Uii-
sittlichkeit in London sehr befördert haben, erkennen
selbst französische Schriftsteller an.^) Ich habe bei der
Besprechung der ausländischen Prostitution in London
b „Lord Byron’s sämmtliche Werke“ übersetzt von
Mehreren. Stuttg. 1839 Bd. II S. 82.
Vgl. z. B. F. Remo „La vie galante en Angleterre“ S. 250.
95
ebenfalls schon (im ersten Bande) diese Verhältnisse be¬
leuchtet. Gegenwärtig scheint eine Abnahme dieser
francophilen Neigungen in England vorhanden zu sein,
und von den Franzosen wird besonders die englische
Königin beschuldigt, dass sie diese Abneigung durch ihre
bekannte Vorliebe für alles Deutsche nähre. In wie weit
dieser Vorwurf begründet ist, bleibe dahingestellt, i)
Neben der Francophilie ist es die Sentimentalität,
welche im Leben der englischen Gesellschaft als eine
eigentümliche Erscheinung hervortritt. Der Begriff des Sen¬
timentalen ist ein spezifisch englischer. Es war Laurence
Stern e’s sentimentale Reise“ (Sentimental Journey), welche
als erstes litterarisches Produkt der Sentimentalität diese
Empfindungsweise gewissermassen populär machte. Schiller
hat in seiner herrlichen Abhandlung über „naive und
sentimentalische Dichtung“ vortrefflich den Begriff der
Empfindsamkeit entwickelt. Der naive Dichter empfindet
natürlich, der sentimentalische empfindet das Natür¬
liche. Jener ist ein Nachahmer der Wirklichkeit,
dieser ein Darsteller des Ideals, welches er in die
Natur hineinverlegt. Die naiven Dichter sind die Kinder
der Natur, die sentimentalischen ihre Liebhaber. Jene
lieben sie kindlich und einfach, diese mit Begeisterung
und Schwärmerei. Der sentimentalische Dichter, „re¬
flektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf
ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung
gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt.
Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und
1) Iin 18. Jahrüimdert wurden auch englische Mädchen
häutig in französischen Klöstern erzogen. \'gl Miss Bellamy
„Memoires“ trad. de l’Anglais. Paris, an VTI, Bd. I S. 28.
96
nur auf dieser Bezielmug beruht seine dichterische Kraft.“
K. Fischer bemerkt, dass Schiller ’s Begriff des Sen-
timentalischen sich nicht mit dem des Sentimentalen
decke. Jenes sei eine wahre Empfindungsweise, dieses
Empfindelei, die immer gemacht und unwahr sei. Das
Sentimentale sei eine unechte Abart des Sentimentalischen.^)
Indessen ist der Übergang zwischen beiden ein fliessender.
Was Sterne in der ,, Empfindsamen Eeise“ über diese
Anschauungsweise sagt, kann man sowohl sentimental
als auch sentimentalisch nennen. Dort heisst es z. B. :
Welche grosse Masse von Begegnissen kann in seiner
kleinen Spanne Leben Einer umfassen, der sein Herz an
Allem Teil nehmen lässt, und der, da er Augen hat zu
sehen, was ihm Zeit und Gelegenheit beständig darbieten,
wie er seines ^Veges zieht. Nichts vorübergehen lässt, das
er sich nicht auf ehrliche Weise aneignet .... Ich be-
daure den Mann, der von Dan nach Bersaba reisen kann
und ausrufen, ’s ist Alles dürr, — so ist es auch, und
so ist die ganze Welt für den, der sich um die Früchte
nicht mühen will, welche sie darbietet. Fürwahr, sagte
ich, und schlug freudig meine Hände zusammen, wäre
ich in einer Wüste, auch da würde ich etwas finden, das
meine Sympathie hervorrufen sollte; — fände ich nichts
besseres, so wendete ich sie einer süssen Myrthe zu, oder
suchte eine melancholische Cypresse auf, sie damit zu
umfassen; — ich labete mich in ihrem Schatten, und
grüsste sie freundlich für ihren Schutz ; ich schnitt
meinen Namen in ihre Rinde, und schwöre, sie wären
b Schillers sämtliche Werke. Mit Einl. yon K. G o e dek e.
Stuttgart 1887 (J. G. Cotta) Bd. XII S. 158.
b K. Fischer „Schiller als Philosoph“ 2. Aufl. Heidelberg
1891 Bd. H S. 178.
97
die lieblichsten Bäume in der ganzen Wüste. Wenn ihre
Blätter welkten, würde ich mich in Trauer versenken;
und wenn sie sich freuten, würde ich mich mit ihnen
freuen.“ i) Hier ist Sentimentalisches und Sentimentales,
wahre und unwahre Empfindsamkeit auf eine geschickte
Weise mit einander vermischt. In einem Briefe aus dem
Jahre 1764 bezeichnet Sterne als den Zweck seiner
„empfindsamen Keise“, „uns die Welt und unsere Mit¬
geschöpfe mehr lieben zu lehren, als wir es thun, dem¬
gemäss werden meistenteils jene sanftem Leidenschaften
und Neigungen darin behandelt, die soviel dazu beitragen.“^)
Thackeray hat ebenfalls in seiner vortrefflichen Cha¬
rakteristik des Menschen Sterne auf die Mischung von
wahrer und falscher Empfindung in dessen Werken hin¬
gewiesen. Er sagt: „Alle seine Briefe an sich sind kunstlos,
gütig, liebevoll und nicht empfindsam, wie sich auch in
seinen Schriften hundert schöne Seiten nicht nur voller
überraschenden Humors, sondern voller ächter Liebe und
Güte finden. Ein gefährlicher Handel, in der That, der
Handel eines Mannes, der seine Thränen und sein Lachen,
seine Erinnerungen, seine persönlichen Freuden und
Schmerzen, seine eigenen Gedanken und Gefühle zu Markte
bringt, auf Papier geschrieben, für Geld zu haben. Über¬
treibt er seinen Kummer, um seines Lesers Mitleid für
eine falsche Empfindsamkeit zu gewinnen? — Heuchelt
er Unwillen, um sich in einem tugendhaften Charakter
darzustellen ? — Ersinnt er Schlagantworten, um für einen
Witzkopf gelten zu können? Stiehlt er von anderen
9 Laurence Sterne „Empfindsame Reise durch
Frankreich und Italien“ Deutsch von Dr. F. Ilörlek, Leipzig
(Reclam) S. 28 — 29.
2) W. M. Thackeray „England’s Humoristen“ Deutsch
von A. V. Müller, Hamburg 1854 S. 275.
Dühren, Das Geschlechtsleben in England.**
7
98
Autoren und legt den Diebstahl auf die Kreditseite des
eigenen Kufes für Reichtum an Geist und Gelehrsamkeit?
Heuchelt er Originalität? Zwingt er sich zu Wohlwollen
oder Menschenhass? Ruft er die Götter der Gallerie an,
durch Knalleffekte und gemeinen Köder um ihren Beifall
sich mühend? — Wie gross ist das Bedürfnis an Malerei
und Emphase im schönen Gewerbe der Bühne, und wie¬
viel an Schwulst und Schminke benötigt die Eitelkeit des
SchausiDielers ? Seine Zuhörerschaft traut ihm; kann er
sich selbst trauen? Wie viel war überlegte Berechnung
und Trug? — wie viel falsche Empfindsamkeit — wie
viel wahres Gefühl? Wo fing die Lüge an? und wusste
er es? Und wo hörte die Wahrheit auf in der Kunst
und im Plane dieses Mannes von Genius, dieses Schau¬
spielers, dieses Quacksalbers? Vor längerer Zeit war ich
in der Gesellschaft eines französischen Schauspielers, der
nach Tische aus eignem Antrieb, französische Lieder von
jener Gattung, die man ch an so ns grivoises zu nennen
pflegt, zu singen begann, die er meisterhaft, wenn auch
zum Missvergnügen der meisten Anwesenden, vortrug.
Als er diese beendet hatte, begann er eine empfindsame
Ballade — der Gesang war so reizend, dass alle Anwesenden
davon gerührt waren, hauptsächlich aber der Sänger selbst,
dessen Stimme zitterte und dessen Auge die Bewegung
füllte, so dass er, als sein Gesang beendet war, in Schluchzen
und wirkliche, echte Thränen ausgebrochen war. Ich
vermute, dass auch Sterne diese künstlerische Em¬
pfindsamkeit eigen war; er pflegte beständig zu schluchzen
in seinem Studirzimmer, und als er fand, dass seine
Thränen ansteckend waren und ihm bedeutende Volks¬
tümlichkeit verschafften, bildete er diese gewinnbringende
Gabe des Weinens, aus, verwertete sie und weinte bei
99
jeder Gelegenheit. Ich gestehe, dass ich den wohlfeilen
Tropfenfall dieser Quellen weder sehr schätze noch achte.
Er ermüdet mich mit seiner unaufhörlichen Unruhe und
seiner unbehaglichen Anforderung an meine Empfindsamkeit
oder Lachfähigkeit. Ich sehe sein Auge mir immer in
das Antlitz gerichtet, um seinen Effekt zu beobachten,
und bin dabei ungewiss, ob ich ihn für einen Betrüger
und Attitüdenmeister halte oder nicht; beständig drängt
«r und fleht mich an. „Sieh’ doch meine Empfindsamkeit
— gestehe jetzt, für wie gewandt Du mich hältst — jetzt
weine aber, dem kannst Du nicht widerstehen.“ Q
Der zweite Hauptvertreter der englischen Empfind¬
samkeit ist Samuel Richardson (1680 — 1761). Er
ist der Begründer des sentimentalen Familienromans, der
sich mit den gewöhnlichen Konflikten des Privatlebens
befasste. Richardson „suchte die alltägliche Wirklichkeit
mit ihren edlen Gefühlen, ihren guten Thaten, ‘ihrer
schönen Menschlichkeit, aber auch mit ihrer Not, ihrem
Laster, ihrer Gemeinheit. Er lebte in dem Elemente,
das Schiller verabscheute. Er erhob nicht, sondern
rührte nur und weckte das Mitleid auch für die Schurken.
Richardson wirkte auf Deutschland mittelbar noch
mnmal durch Rousseau. Der sentimentale Roman hatte
•ein klassisches Erzeugnis aufzuweisen: Goethes „Werther“.^)
Richardson ’s „Pamela“, „Clarissa Harlowe“ und „Sir
Charles Grandison“ sind die typischen Vorbilder dieser
sentimentalen Romane.
G W. M. Thackeray a. a. 0. S. 280—282.
2) Wilhelm Scherer ,, Geschichte der deutschen Litte-
ratur“ 7. Aufl. Berlin 1894 S. 671. Vgl. auch die glänzende
Studie Yon E rieh Schmidt „Richardson, Rousseau und Goethe“,
Jena 1875.
100
Die Sentimentalität als eine künstliche, krankhafte
Empfindlingsweise verbreitete sich wie eine Epidemie über
Europa. Das Ungesunde in der empfindsamen Betrachtung
aller Dinge musste besonders auf sexuellem Gebiete
heiTortreten. Die Liebe mit Sentiment war mehr Sache
des Kopfes als des Herzens. Durch Beflexion suchte man
den Genuss zu erhöhen. Charakteristisch ist in dieser
Beziehung ein Brief, den Sterne unter dem 23. Mai 1765
schrieb und in dem es heisst: ,,Es freut mich, dass Sie
verliebt sind, das wird Sie wenigstens vom Spleen befreien,
der von einer schlimmen Wirkung auf den Mann sowohl,,
wie auf das Frauenzimmer ist; ich selbst muss sogar stets
eine Dulcinea im Kopfe haben, es bringt Einklang in die
Seele; und in diesen Fällen ist es mein erstes Bestreben,
die Dame daran glauben zu machen, oder vielmehr, ich
fange damit an, mich selbst glauben zu machen, dass ich
verliebt bin — betreibe aber die Angelegenheit ganz auf
französische Weise, 1’ am our, sagt man dort, n’est rien
Sans Sentiment. Ungeachtet sie aber nun so viel
Lärmen um das Wort machen, verbinden sie keine genaue
Idee mit ihm. So viel über den Gegenstand, den man
die Liebe heisst. Thackeray meint mit Keclit, dass
es nicht eine Seite in Stern e’s Schriften — haupt¬
sächlich kommt aber wohl „Tristram Shandy“ in Betracht
— gebe, auf der sich nicht etwas fände das ,, besser
nicht da wäre, eine verborgene Verderbtheit —
eine Andeutung wie von einer unreinen Gegenwart.“
Ähnlich urteilte Coleridge über Sterne. Louis
Sebastien Mercier, der in seinem „Nouveau Paris“-
0 W. M. Thackeray a. a. 0. S. 275.
2) ibidenl S. 288.
101
eine gute Stelle über Sentimentalität hat, bezeichnet
sogar dieselbe als die „Kunst, sich von der Tugend zu
emancipieren.“ Es heisst dort: „Quelque temps avant
la revolution, les gens du bon ton avaient adopte une
certaine philosophie sentimentale, qui etait l’art de
se dispenser d’etre vertueux. Cette philosophie
avait son Jargon, sa sensibilite, son accent, ses gestes
meine. Le zele simule, les modulations tendres, les
expressions affectueuses qui composaient Fexterieur des
personnes de la bonne compagnie, au recit d’une action
immorale ou des disgraces de la vertu, ont fait donner
ä cette sensibilite feinte et sterile le nom de la sen-
siblerie.“!) — Ein anderer geheimer Untergrund der
Sentimentalität war der Pessimismus, die damals so
häulige Ursache des Überdrusses am Leben und der
Selbstmorde. (Siehe weiter unten über diese.)
Die Sentimentalität des 18. Jahrhunderts äusserte
sich oft auf eine sonderbare Weise, die wir heute kaum
noch verstehen. Die Thränenbäche, die z. B. in unseres
M i 1 1 e r ’ s rührseligen Schriften unaufhaltsam tliessen,
Hessen auch in Wirklichkeit. Als Casanova dem grossen
Voltaire und der Madame Denis und einer bei ihnen
versammelten Gesellschaft eine rührende Stelle aus dem
„Orlando furioso“ des Ariosto vordeklamierte, da modulierte
er seine Intonationen nach dem Gefühl, welches er seinen
0 L. S. Mercier „Le nouveau Paris“ Brunswick 1800 Bd.
IL S. 172—173.
2) Miss Bellainy sagt: „Die Genüsse, welche das Leben
unseren Sinnen in grossen Zwischenräumen bietet, sind oft
täuschend, fast immer zweifelhaft und niemals dauerhaft.
Aber die Schmerzen sind sichei', sie scheinen sich
mehr mit unserem Leben zu id entificieren.“ Memoires
Bd. II S. 27-28.
102
Zuhörern eiiiflössen wollte.“ „Man sah, man fühlte die
Gewalt, die ich mir anthat, meine Thränen zurückznhalten,
und in den Augen aller standen Thränen, aber zuletzt
brachen meine Thränen so reichlich hervor, dass alle
meine Zuhörer schluchzten. > — Herr von Voltaire und
Madame Denis fielen mir um den Hals, allein ihre Um¬
armungen konnten mich nicht unterbrechen, . . . Voltaire
rief: „Ich habe es doch immer gesagt: das Geheimnis,
Thränen zu erwecken, ist, selbst zu weinen. Aber es
bedarf der wahren Thränen, und um sie zu • vergiessen,
muss die Seele tief ergriffen sein.“ i)
Ein noch merkwürdigeres Beispiel von Sentimentalität
findet sich in den „Serails de Londres“, einer Schrift,
die etwa für die vornehme englische Gesellschaft des
18. Jahrhunderts die Bolle spielt, die „Grammont’s
Memoiren“ für diejenige des 17. Jahrhunderts spielen.
Es wird dort erzählt, dass ein Graf das Bordell der Mrs.
Dubery nur in der Absicht zu besuchen pflegte, um dort
eine sentimentale Unterhaltung mit einem Freudenmädchen
zu führen, wofür er ihr eine Zwanzigpfundnote überreichte.
Die Ursache dieser merkwürdigen Caprice war sexuelles
Unvermögen. Er suchte gleichsam einen Ersatz für die »
rein physischen Genüsse in dieser sentimentalen Unter¬
haltung mit einer Dirne. Hier tritt ganz offenbar die
Sentimentalität als ein Faktor sexueller Befriedigung auf,
als ein sexuelles Surrogat und Aequivalent der natürlichen
Geschlechtsthätigkeit, wodurch der krankhafte Charakter
1) Jacob Casanova von Seingalt’s Memoiren
Deutsch von L. von Alvensleben und C. F. Schmidt,
Leipzig 0. L Bd. XI S. 33.
2) „Les Serails de Londres“ Brüssel o. J. (Neudruck)
S. 160—162.
103
und das künstliche Raffinement dieser Seelenregungen
aufs deutlichste bewiesen wird.
, Eine glückliche Anwendung fand die englische Sen¬
timentalität in der Gartenkunst, welche unter dem
Einflüsse dieser Empfindungsweise eine gründliche Um¬
gestaltung erfuhr. Es war natürlich, dass gerade auf
diesem Gebiete die Sentimentalität eine praktische Be-
thätigung fand. Denn kein Volk besitzt so viel Natursinn,
lebt so in und mit der Natur, wie das englische. Not¬
wendig musste das milde, feuchte Klima, welches eine
so Herrliche Vegetation, ein so entzückendes Grün hervor¬
bringt, den Sinn für die Eindrücke der Natur öffnen und
verfeinern. England’s wunderbare Landschaft, wie sie
z. B. in Beaumont’s- und Fletcher’s ,, Treuer
Schäferin“ in klassischer Weise geschildert wird, ist wie
Taine sagt „stets frisch, entweder von blassen, durch¬
sichtigem Nebel erfüllt oder von der wärmenden, trock¬
nenden Sonne erleuchtet, reich an Gräsern, die so zart
und saftig sind, dass man trotz ihres Glanzes und ihrer
1) V. Kralft-Ebing bemerkt über die Sentimentalität in
der Liebe: „Die Liebe des schwach Teranlagten Menschen ist
eine sentimentale. Sie führt nach Umständen zu Selbstmord,
wenn sie nicht erwidert wird oder Hindernisse findet, während
unter gleichen Verhältnissen der stark Veranlagte zum ATr-
brecher werden konnte, . . Solche Liebe hat einen faden,
süsslichen Beigeschmack. Sie kann damit geradezu lächerlich
werden, während sonst die Aeusserungen dieses mächtigen
(Jefühls- in der Menschenbrust Mitgefühl, Achtung, Grauen, je
nachdem, erwecken. Adelfach wird jene schwache Liebe auf
aecpiivalente Gebiete gedrängt — auf Poesie, die aber dann
eine süssliche ist, auf Aesthetik, die sich als outrirt erweist,
auf Religion, in welcher sie der Alystik und religiösen Schwär¬
merei, bei stärkerer sinnlicher Grundlage dem Sektenwesen
bis zum religösen hiiatchopn, anheimfällt.“ R. y. Krafft-
Ebing „PsynsinAUa exSauhalis“ 10. Auflage, Stuttgart 1898.
S. 10-11.
104
Blüte überzeugt ist, sie würden morgen welken“, i) Diese
Landschaft ist geeignet sentimentale Empfindungen zu
wecken. Als Karl Philipp Moritz in der Abendsonne
Kichmond erblickte, da rief er aus: „0 Eiclimond! Ricli-
mond ! nie werde ich den Abend vergessen, wo du von
deinen Hügeln so sanft auf mich herablächeltest, und
mich allen Kummer vergessen liessest, da ich an dem
blumigten Ufer der Themse voll Entzückung auf und
niederging. — Wohl mir, dass ich jenem melancholischen
Gemäuer noch zu rechter Zeit entflohen bin !
0 ihr blühenden jugendlichen Wangen, ihr grünen
Wiesen, und ihr Ströme, in diesem glückseligen Lande,
wie habt ihr mich bezaubert ! Allein dies soll mich nicht
abhalten, auf jene dürren, mit Sand bestäubten Fluren
zurückzukehren, wo mein Schicksal mir den Fleck meiner
Thätigkeit angewiesen hat. Aber die Erinnerung an diese
Szene soll mir noch manche heitere Stunde gewähren.“^)
In einem kleinen Fremdenführer über die Insel
Wight wird das Dorf Bonchurch folgendermassen ge¬
schildert: „Das Dorf Bonchurch liegt reizend an der
Unterklippe, ln seinem Bezirk finden sich Szenen von
grösserer Schönheit, als wie sie vielleicht irgendwo auf
so engem Baume verkommen. Der Seestrand bietet be¬
ständig neue interessante Ansichten dar; neue Über¬
raschungen stellen bei jedem Schritte sich ein. Land¬
einwärts zeigte sich eine unübertroffene Verbindung von
Erhabenem und Malerischem, von turmhohen Wänden
schimmernder Kreide, von blumenduftenden Thälern, von
Gärten voll der seltensten Pflanzen und der ausgesuchtesten
H. T a i n e a. a. 0. Bd. I S. 420.
‘h C. Ph. Moritz „Reisen eines Deutschen in England iin
Jahre 1782. In Briefen an Herrn Direktor Gedike.“ Berlin
1783 S. 113—114.
105
Blumen. Der Eingang in das Dorf ist überaus lieblich.
An die Strasse grenzt ein stiller, anmutiger Teich, an
dessen Busen die breiten Blätter der Seelilie ruhen, und
welcher, unter einem vollkommenen Gewölbe von Laub¬
werk fortlaufend, sich unter vorspringenden, reich mit
Vegetation bedeckten Felsenmassen einwärts und auswärts
windet. Die Wand der Klippe türmt sich bis zur Höhe
von 400 und 500 Fuss über dem Wanderer empor, und
von ihren Seiten hüpfen kleine Kinnsale hervor in lebendigen
Kaskaden, welche die Luft mit harmonischen Tönen und
mit lieblicher Frische erfüllen. Am Rande dieses herrlichen
Abgrundes stehend, muss man zugeben, dass das Gemälde
2U unseren Füssen vollkommen ist. Die Klippe ist ausser¬
ordentlich stark in horizontale Blöcke zerrissen, welche
reich mit Moos und Epheu bedeckt sind; hier fliegt eine
Krähe empor; dort baut eine Dohle ihr Nest; von Zeit
zu Zeit schwebt eine Taube dahin, gleich einer Schnee¬
flocke zwischen den grauen und schwarzen Raben. Und
weithin sich ausbreitend gleich einer Fläche geschmolzenen
Silbers leuchtet und glänzt allezeit das scheinbar regungs¬
lose Meer. Nimm rauhe Felsen, zerklüftete Gesteine,
omporsteigende Klippen, jähe Abstürze, das weite Meer,
■ein schlängelndes Bächlein, einen stillen Landsee, ein
blumenreiches Thal, reiches Weideland, die Hütte des
Bauern, den Pachthof und die prächtige Villa; füge das
tiefe Kolorit des Himmelsgewölbes hinzu ; lausche den
Lauten der belebten Natur; bedecke das Ganze mit der
warmen, sommerlichen Sonne und nenne es Bonchurch.“d)
Das ganze südliche England macht einen ähnlichen
Eindruck. Die Sanftheit der Landschaft, die malerische
Ernst Hallier „Kulturgeschichte des neunzehnten
Jahrhunderts“ Stuttgart 1889 S. 549 — 550.
106
Vegetation, der Zauber der frischen, leuchtenden Farben
müssen tiefen Eindruck auf das Gemüt machen. Und so
war es kein Wunder, dass die sentimentale Empfindung
mit besonderer Vorliebe auf die Naturschilderung, Natur¬
betrachtung und Naturverschönerung übertragen wurde.
Es ist kein Zweifel, dass die moderne Landschaftsgärtnerei
ursprünglich ein Produkt der Sentimentalität ist.
Als Schöpfer dieses neuern englischen Gartenstiles
wird gewöhnlich der Maler und Architekt William Ke nt
(1684 — 1748) angesehen, der die Kegeln der Landschafts¬
malerei auf die Gartenkunst übertrug, indem er den
Garten als eine idealisierte, em p find ungs volle
schöne Landschaft auffasste und diese Idee in den herrlichen
Parks und Gärten von Charltonhouse, Roushhain, Essex
und Claremont verwirklichte. „Eine stattliche Villa, Grotten,
Einsiedeleien, Tempelchen, Ruinen, Felsenpartien, Spaliere,
Gewächshäuser, sparsam angebracht und möglichst vor
den Augen versteckt, Bäume und Buschwerk mancherlei
Art und Schattierung, Hecken und labyrinthisches Blumen¬
gewinde, grüne Flächen, Anhöhen mit sanften Abhängen
und freundlichen Fernsichten, silberhelle Teiche und
schlangenartig sich windende Bäche, grüne Wiesen und
Inseln, auf denen Kühe weiden, Schwäne und Enten aul
den Wassern, Hirsche und Rehe in den Büschen: alle
diese Dinge, in einem grossen mehr oder weniger be¬
grenzten Bezirke malerisch wirkungsvoll verteilt, aber
ohne übertriebene vorsätzliche Zuthaten der Kunst (wie
im französischen Gartenstil), bilden in ihrem Gesamt-
bestande das Ideal eines wahrhaft Englischen Gartens
oder einer künstlerisch gestalteten, idealisierten Gegend“.^)
b Artikel : G a r t e n k u n s t in B r o c k h a ii s’ Konversa¬
tions-Lexikon 14. Anfl. Bd. VII S. 558.
107
Kent strebte ganz besonders in seinen Gartenanlagen
die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck
zu bringen. J. v. Falke hat in seiner „Geschichte des
modernen Geschmacks“ diese Sentimentalität in der
Gartenkunst William Kent’s vortrefflich geschildert.
„Hier stösst der Wanderer auf eine verfallene oder
verbrannte Strohhütte, dort auf eine Einsiedelei aus Eohr
geflochten; hier liegen einige Hütten beisammen, denen
die Bewohner fehlen, dort erhebt sich auf einem Hügel
ein kleiner Temnel, der Freundschaft oder der Zärtlichkeit
gewidmet, dort senkt eine Trauerweide über einer Urne
oder einem grabähnlichen Monument, welches dem An¬
denken eines geliebten oder grossen Todten geweiht ist,
ihre Zweige in das stille Wasser hinab. Und überall
lesen wir sinnbedeutende Inschriften, noetische Herzens-
ergüsse, die uns in das Ohr flüstern: hier sollst du träumen,
an dieser Stelle sollst du seufzen, hier eine stille Thräne
der Wehmut vergiessen, hier wieder in Entzücken und
Enthusiasmus geraten. — Das heisst ein kindisches Spiel
mit unseren Gefühlen, ein kindisches Spiel mit der Natur
treiben ! In dieses Extrem verfiel der englische Garten
damals im ersten Anlauf seines Natureifers“.
2) J. V. Falke „Geschichte des modernen Geschmacks^
Leipzig 1862 S. 339 — 340. Auch von Schütz hatte im vorigen
Jahrhundert beim Anblick der englischen Gärten ähnliche
Gedanken. Er sagt: „Hier sieht man kleine Wälder, dort
Gesträuche ausländischer Stauden, hier Grotten oder Ruinen
des Altertums, auf der anderen Seite sieht man Alleen, kleine
Bauernhütten und Wiesen, auf welchen Heerden weiden.
Bald kommt man an rauschendes Wasser mit künstlich zer¬
brochenen Brücken, und bald sieht man ein modernes Gebäude,
oder auch auf einem Hügel einen Tempel der Freiheit, der
Freundschaft oder der Liebe gewidmet, mit witzigen Inschriften
verziert.“ v. Schütz a. a. 0. S. 248 — 249.
108
Fürst Hermann v. Pü ekler- Muskau hat in
den „Briefen eines Verstorbenen“ wohl die gründlichsten
und auch in aesthetischer Hinsicht befriedigendsten
Schilderungen der englischen Gärten gegeben.
Seit alter Zeit spielen die grossen Parks in
London eine ansehnliche Bolle in dem Leben der vor¬
nehmen Gesellschaft, Sie sind seit der Kestauration die
„eigentlichen Tummelplätze der fashionablen Welt ge¬
wesen“, 2) aber wie J o u y sich treffend ausdrückt mehr ,,Ben-
dezvous der Eitelkeit“ als eigentliche Vergnügungsorte.
Bodenberg schildert den allgemeinen Eindruck der
Londoner Parks folgendermassen : ,,Die Londoner Parks
sind sehr eigentümlich. Man kann sie weder mit den
Champs Elysees vergleichen, noch mit dem Thiergarten
von Berlin. Sie sind keine Vorstadtsgärten. Sie liegen
mitten in der Stadt. Sie sind überhaupt keine Gärten.
Sie sind eine verschwenderische Mischung von Wiese,
Wald und Wasser. Die weite Ausdehnung ihres Aspekts
ist der erste Eindruck, der das Auge des Beschauers an¬
zieht. Ihre Farbe, die mit der Jahreszeit wechselt, ist
der zweite. Die Parks von London hören nie auf, grün
zu sein. Die Wärme und Feuchtigkeit der Luft duldet
keine Schneedecke, und mitten im Winter schimmert das
Grün des Basens herauf. In der guten Jahreszeit aber,
wenn die Blumenbeete wie bunte Edelsteine in der grünen
Fassung des Basenplatzes erscheinen, wenn die Trauer¬
esche ihr langes feingefiedertes Haar in den duftver-
y Zu erwähnen ist hier auch noch William Mason’s
(1715 — 1797) poetische Apologie und Theorie der Englischen
Gartenkunst“ („The english garden, a poem“ London 1772).
2) Julius Rodenberg „Alltagsleben in London“ Berlin
1860 S ^0
3) Jouy „L’Hermite de Londres“ Bd. I S. 38.
109
schieierten Spiegel der Seen taucht, wenn das mannigfach
schattierte Grün der verschiedenen Baumgruppen gedämpft
ist mit dem Wechsel von Licht und Schatten und die
Perspektive in jenem blauen Hauche verdämmert, welcher
die Formen des Details verwischt, aber die Erscheinung
des Ganzen auf eine wundervolle Weise vertieft und
erweitert: dann gewährt der Park ein Schauspiel von
Farben, welches zu reich und in seinen Übergängen zu
zart ist für die Beschreibung . Nächst der Farbe
entzückte uns der Duft des Parkes. Über die weiten, von
Häusern nicht eingeengten Wiesenflächen weht er be¬
ständig, Man atmet ihn, sobald man an den Band des
Parkes tritt; man hat eine Empfindung von ihm, wenn
man die Strassen entlang fährt, welche an den Park
grenzen, als ob die Brust selber sich dehne. Er weitet
die Seele. Er streift den Spiegel der Seen, und hat jene
feuchte Beimischung, welche so weich um die Stirn
fächelt . . . Der Engländer liebt über Alles den unge¬
hinderten Luftstrom, welchen die oft dumpfige Laubmasse
dieser Alleen ausschliesst. Sein Park ist ein feiner
Wiesenplan, mannigfaltig durch die Abwechselung von
Gartenanlagen, Waldpartien und stattlichen Palastfronten,
welche sich an der Grenzlinie zeigen; still, so stille, dass
man sich aus der Mitte dieser Stadt und den Haupt¬
strassen, die den Londoner Park in weitem Umkreis um¬
geben, in eine fernabgelegene Landschaft versetzt glaubt;
träumerisch von jenem blauen Hauche, der um den Rand
der Seen und um die Baumkronen flattert, und frisch
von jenem immerwährenden Dufte, den Blume und Wasser
aushaucht. Die Parks von London sind die Lunge, durch
welche dieser Riesenkörper atmet.“
OJ. Rodenberg „Tag und Nacht -in London“ Berlin
1862 S. 44—46.
110
Der älteste aller Londoner Parks ist der St. James
Park, angelegt unter Heinrich VIIL, aber bedeutend
erweitert und mit einer Mauer umgeben unter Karl 11.
An der Nordseite spielte der galante Fürst das Mail-Spiel:
Here a well polisb’d Mall gives ns the joy
To see our Prince bis matcbless force employ.
Evelyn begleitete am 2. März 1671 Karl H. durch
den St. James Park, wobei er eine „vertrauliche Unter¬
haltung zwischen dem Könige und Mrs. Nelly mit-
anbörte. Schon damals entwickelte sich in diesem
Parke ein höchst galantes Treiben. „Wenn Ihr Geschmack
an der Galanterie hättet, so könnten wir eine Tour in
die Gärten des Palastes thun, da sich die Laster und die
Eitelkeit vollend gar bloss geben. Ich verwundere mich,
dass noch ehrliche Leute dahingehen mögen, weil es fast
ein öffentlicher Marckt ist, allwo sich eine unzehlbahre
Menge junger Weibesbilder auft einen Tag, oder eine
Stunde, nachdeme sie bezahlet werden, verkauften, und
nach diesem schändlichen Handel allen denenjenigen, die
sie sehen, ein Greuel sind, nicht sowohl wegen dem
Verlust ihrer Keuschheit, dann diese Tugend ist eben
heut zu Tage nicht sonderlich mehr Mode, sondern weil
ihre Leiber angestecket werden, dass man sich nicht
mehr zu ihnen nahen kann.“^)
Im Jahre 1726 erwähnt Küchelbecker einen
„artigen Kanal“ in St. James Park, auf dessen „beyden
Seiten lustige Alees sind, unter deren Schatten man sich
bey der Sonnen-Hitze rafrichiren kan“.
0 John Tinibs „Curiosities of London“ London 1855
S. 589; S. 592.
2) Mrs. Manie y’s „Atalantis“ S. 721.
3) J. B. Küchelbecker „Der nach England reisende
Curieuse Passagier“ Hannover 1726 S. 124.
' 111
Moritz berichtet von den sehr belebten Promenaden
in diesem Parke am Ende des 18. Jahrhunderts: „Was aber
freilich den St. James Park einigermassen wieder erhebt,
ist eine erstaunliche Menge von Menschen, die gegen
Abend bei schönem Wetter darin spazieren geht. So
voll von Menschen sind bei uns die besten Spaziergänge
niemals, auch in den schönsten Sommertagen nicht, als
hier beständig im dicksten Gedränge auf- und niedergehen.
Das Vergnügen, mich in ein solches Gedränge fast lauter
wohlgekleideter und schöngebildeter Personen zu mischen,
habe ich heute Abend zum ersten Male genossen“.
Archenholtz erzählt, dass die siebzehn Zugänge des
Parkes von Soldaten und Privatpersonen um 10 Uhr Abends
verschlossen wurden. Man konnte aber Schlüssel zu ge¬
wissen Parkthoren für eine Guinee kaufen und so die Nacht
im Parke zubringen. Von dieser Vergünstigung wurde
auch — gewiss meist zu sehr wenig lauteren Zwecken —
reichlich Gebrauch gemacht. So wurden im Jahre 1780
gegen 6500 solcher Schlüssel verkauft. Heute ist dieses
schöne Privileg nicht mehr zu haben. 'Aber noch immer
sind „Liebespaare, welche unter den duftigen Bosquets
zu lange träumten, oft schon die ganze Nacht lang in
den Park eingeschlossen worden.“^) Nach Remo übt
allerdings jetzt die Polizei eine sehr scharfe Aufsicht in
dieser Beziehung aus. Jeden Abend wird der St. James
Park von Polizisten mit Laternen durchsucht.^)
Der Hyde Park, der sich von Piccadilly westwärts
bis Kensington Gardens erstreckt und zwischen den
0 Moritz a. a. 0. S. 15.
2) J. W. Yon Archenholtz „England und Italien“
Leipzig 1787 Bd. III S. 220.
3) J. Rodenberg „Tag und Nacht in London“ S. 51.
F. Re'ino a. a. 0. S. 219.
112
Strassen des Westens und dem Bayswater Viertel liegt,
war ursprünglich ein „Thiergarten“ des alten Eittergutes
Hyde, welches dem Kloster von St. Peter in Westminster
gehörte, bis es im Jahre 1536 dem König Heinrich VIII.
überlassen wurde. Erst im 17. Jahrhundert gewann
der Park seinen eigentlichen Charakter als fashionabler
Vergnügungsort. In „Grammont’s Memoiren heisst es:
„Wie bekannt, ist Hyde-Park der Spazierort für London.
In der milden Jahreszeit ist derselbe sehr belebt; es ist
der Sammelplatz des Luxus und der Schönheit. Alles
was brillante Wagen oder hübsche Augen hatte, drängte
sich dahin, und der König missfiel sich dort nicht“.
Besonders gern feierte man zu jener Zeit den ersten Mai
im Hyde Park. Am 1. Mai 1661 ging Evelyn in den
Hyde Park „um frische Luft zu schöpfen; dort war Seine
Majestät und eine ungeheure Menge von Galans und vor¬
nehmen Kutschen. Denn es war die Zeit der allgemeinen
Festlichkeit und Freude“. Auch wurden damals im Hyde
Park Kennen, besonders Wagenrennen veranstaltet, wie
Pepys und Evelyn berichten.^) Ebenso grosse mili¬
tärische Rennen. — In der „Atalantis“ der Mrs. Manley
kommt der Hyde Park unter dem Namen „Prado“ vor.
„Dies ist der Ort, allwo die Damen, wann sie wohl auff-
geputzt sind, ihre Pracht sehen lassen, und anstatt der
frischen Lufft den Staub einnehmen. Diejenige, so erst
vor kurtzem verheyrathet worden, lassen allhier ihre
Equipage sehen; die fremde Schönheiten, wann sie sich
wollen beschauen lassen, zeigen sich am ersten auff dem
Brato. Ein beglückter Spieler, welchen man nicht lange
J. Timbs „Curiosities of London“ S. 584.
2) Gramraont’s Memoiren S. 118.
3) J. Timbs a. a. 0. S. -584^585.
113
I
vorher ohne Schuhe gesehen, und dessen Eock an den
Einbogen zerstossen gewesen, komt hier in einer schönen
Carosse mit vielen Laquaien begleitet, auffgezogen. Die
Weiber der Kaths- Herren kommen hieher, damit sie die
Moden lernen, und mit ihren Edelgesteinen denen Hof-
Damen Neid erwecken. Die Galans laulfen zu dem Prado
ihre Coquetten zu sprechen, und ein Ehemann würde
wohl übele Zeit haben, wann er zu gewissen Tagen seiner
Frauen nicht erlaubte, in einer Carosse in dem Prado
spazieren zu fahren. Das Frauenzimmer von dem Lande,
wann es von ihrem Ehemanne Erlaubniss erhalten hat,
nach Angela zu kommen, würde nicht vergnügt seyn,
wann zwey ausgemergelte Pferde, nachdem sie durch alle
schlimme Wege durchgetrieben worden, sie nicht auch
durch den Prado führten, allwo sie durch die Hechel
gezogen wird. Diejenige, so nicht im Stande sind, Kutsche
und Pferd zu halten, schmeicheln sich bey andern ein,,
dass sie mit denenselben fahren dörffen. In Summa,
alles will sich auff dem Prado sehen lassen. Es ist noch
nicht lang, dass ein gewisser Edelmann seiner Frauen
erlaubet hat, mit ihrem Amant einen solchen Contract
auffzurichten, dass dieser, gegen etliche Conditiones, der-
selbigen eine Leib-Renten, ein Edelgestein an ihren Halss
zu hängen, und eine offene Carosse auff den Prado zu
fahren, verschaffen sollte. So nothwendig hält man diesen
Auffzug“. Man führte nach Mrs. Manley die Töchter
zur Oper oder in den Hyde Park, damit sie „Amants be¬
kommen sollen“.^) Küchelbecker bemerkt aus dem
zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts über den Hyde Park:
,,Von Kensington gehet ein Weg durch den Hideparck,
„Atalantis“ S. C84.
2) ibidem S. 689.
• Dühren, Das Geschlechtsleben in England.**
8
114
welches eine unvergleichliche Promenade ist, und worinnen
sich die vornehmsten Leute divertiren. Man trifft daselbst
zuweilen über tausend Carossen“. i) Bis auf den heutigen
Tag hat der Hyde Park diesen Charakter eines allgemeinen
Rendezvous der vornehmen Gesellschaft bewahrt.
Einzelne Gegenden und Plätze im Hyde Park haben
einen ganz besonderen Ruf erlangt. Da ist zunächst der
berühmte Reit- und Fahrweg Rotten Row, der sich von
Hyde Pa rk Corner, dem alten berühmten Thor am
Ende von Piccadill}", an der Südseite des Parkes bis nach
Kensington Gardens erstreckt und den Mittelpunkt des
Lebens und Treibens während der Saison bildet. „Rotten
Row, von Hydepark nach Kensington Gardens hinüber¬
führend , gewährt eine der schönsten landschaftlichen
Szenerien, die man sich denken kann. Unter duftschweren
Linden und Kastanien führen die breiten Fahrwege über
Rasengrund, rechts von Wiesenhügeln, an welchen die
Schafe weiden, und in -weitem Umkreis von Palästen be¬
grenzt, die mit ihren phantastisch kühnen Umrissen wie
Memling’sche Miniaturen auf dem blauen Hintergründe
des Himmels verdämmern, und links von der klaren,
breiten Serpentine abgespiegelt, einem zum See erweiterten
Flüsschen, an dessen Ufern dunkle, üppige Baumgruppen
träumen und auf dessen Flut sich weisse Schwäne und
weisse Segel wiegen. Die Stimmung dieser Landschaft
hat etwas unsäglich Traumhaftes. Der sanfte Nebel, der
den Glanz der Sonne in ein blau-weisses Licht auflöst,
mit dem er sich färbt, setzt sich als feine duftige Masse
in das gesättigte Grün der dichtbelaubten Bäume fest —
fern herüber, von Piccadilly, gleichfalls vom Nebel zu
♦
y Kü ch el b e cker a. a. 0. S. 124.
115
einem Scliattenbilde vergeistigt, schaut von ihrem Triumph¬
bogen die Keiterstatue Wellingtons, und so, ganz mit der
Empfindung, die man bei uns in einer Morgenlandschaft
vor Sonnenaufgang hat, lässt man sich — ins hohe Gras
gestreckt — das fashionable Treiben Londons vor Sonnen¬
untergang, die Eeiter und Reiterinnen, die Wagen und
Karossen vorüberziehen. — Die Glorie von Hyde Park ist
Rotten Row; ohne Rotten Row kein Hyde Park! . . Der
Haupttag für Rotten Row ist Freitag und die Stunde fünt
Uhr Nachmittags. Fünf Uhr Nachmittags und Rotten
Row ! Ein Hurrah für Englands Amazonen ! Der Corso
beginnt. Ganz Belgravia scheint sich auf schäumenden,
bäumenden , stolznackigen Stuten durch das Marmor¬
thor bei der Reiterstatue Wellington’s zu ergiessen. So
weit das Auge sehen kann, weit hinaus nach Kensington,
wo die Perspektive des Weges sich in gefiederte Birken
verliert, nichts als schäumende, bäumende Rosse, ihre
Häupter schüttelnd, sich schwenkend, und die blauäugigen,
blondhaarigen Mädchen von Alt-England darauf — schlanke,
biegsame Gestalten, in knapp anschliessendem Tuchgewand
von Dunkelblau, mit Reiterhütchen auf dem Kopf und
Feder daran; mit gelben Stulpenhandschuhen auf den
zarten Händchen und schwarzer Reitgerte zwischen den
langen, feinen Fingern . . . Wie sie das Pferd zügelt!
Und wie das Pferd demütig gehorcht ! Englands Mädchen
solltet Ihr zu Pferde sehen ! Wie lieblich, eine Hand zu
küssen, die so ein Ross zu bändigen weiss. — Welch ein
lustiges Gewimmel und Getrappel und Schnaufen und
Lachen rings um mich ! Dort über die Brücke kommen
die Truppen von Tyburnia — junge Edelleute, wie
Athleten, mit ihren Rossen verwachsen, flüsternd mit den
Damen, so helläugig und so schlank um die Taille, und
8*
116
so anmutig, mit feiner, schmaler Hand ihre feueräugige
Stute führend. ’S ist ein gefährlich Geschlecht, diese
schönen Pferdebändigerinnen — „those pretty horsebrea-
kers“ — diese weiblichen Rarey’s ! Und fern zwischen
majestätischen Ulmen, jetzt in eine Sandung tauchend,,
jetzt in eine sanfte Hebung des Weges hinansteigend,
verschwinden sie im Glanze der untergehenden Sonne.
Aber neue sind da — immer neue hier am Wasser, welches
auf seiner blanken, vom Abendrot goldenen Fläche die
bunte Menge wiederspiegelt, und hier in der grossen
Allee, wo der breite Schatten der Kastanien über ihnen
zittert. Alles lebt und webt von Pferden und jungen
Mädchen und jungen Männern — und Jockey’s mit
gelbem Gurt um den Leib trotten hinterdrein, und
Dandies mit dem Lorgnon im Auge traben lustig vorbei,
hier Galopp, Bauch an der Erde, dorten Schritt — und
die Musikbande von Ihrer Majestät Leibgarde spielt einen
Walzer dazu und im Hintergrund, unter schwermütig
herabhängenden Weiden glänzt der Serpentine und über
seinen goldenen Wogen treibt ein einsamer Schwan und
ein silbernes Segel. — Auf der andern Seite ist die
Fahrstrasse für den Corso auf Rädern. Ich stelle mich
an das Eisengitter, wo die Müssiggänger der Stadt stehen,
mit Pegtop- Hosen und kleinen Dandystöcken, über die
Brüstung gelehnt, die Zuschauer dieses wundervollen
Schauspiels. In jedem Augenblick ein neues Profil, fein,
scharfgeschnitten, elegant und vornehm, in Glas und
Rahmen gesetzt durch das Wagenfenster. Das ist doch
eine andere Gallerie von Schönheiten, begleitet von der
munteren Musik des Lebens, umspannt von dem blauen
Sommerabendhimmel und umduftet von den Wiesen und
Blumen des Parks — eine andere als jene in Hampton
117
Court, auf kalter zweihundertjähriger Leinwand an den
staubigen Wänden des alten Schlosses — trotz meines
Lieblings Nelly Gwynn. Ei, wenn die sich in die bunten
Haufen mischen könnte, mit ihrem blauen Mantel —
welch eine Figur Aväre das ! — Vorwärts rollt die Flut
der Fahrzeuge — Cabriolets mit Kutscher und Tiger
(kein bengalischer Tiger, sondern ein kleiner, harmloser
Page im blauen Jäckchen mit Silberknöpfen) — die alte
ehrwürdige Familienkutsche, vollgepackt mit Kindern,
Gouvernante und Pudel, wie eine Arche Noah, macht ihre
Aufwartung. — Gigs und Phaetons, deren weisse Zügel
von den Händen einer jungen Schönheit regiert werden,
folgen, und Wagen auf Wagen, alle mit dem orthodoxen
gelben Regenschirmgrift vorn, unter dem hohen Kutscher¬
sitz“. 2)
In der Nähe von Rotten Row erhob sich im Jahre 1851
das grossartige, zum grössten Teile aus Glas hergestellte
Gebäude der Weltausstellung. Diese Beziehung erwähnt
W. M. Thackeray in der bekannten ,,May-day Ode“,
die am 1. Mai 1851 in den „Times“ veröffentlicht wurde :
But yesterday a naked sod,
The dandies sneered from Rotten Row,
And sauntered o’er it to and fro.
And see ’tis done!
Zur Zeit der Restauratipn und in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts war der sogenannte Ring eine sehr
Auch E. F. Krause („England. Charakteristisches
über Land und Leute“ Dresden u. Leipzig. Ib92 S. 222 — 223)
schildert diese uralten Karossen von Kotten Row, die mit
2äher Beharrlichkeit samt den gepuderten Bedienten bis heute
beibehalten worden sind.
“) J. Kodenberg „Alltagsleben in London“ Berlin 18G0
S. 22 und „Tag und Nacht in London“ Berlin 1862 S. 54 — 56.
118
viel besuchte Stelle im Hyde Park. Der ,,King“ lag
nördlich vom Serpentine - Gewässer, i) Es war ein etwa
300 m langer Korso, den Karl II. um einen eiiige-
schlossenen Kaum anlegen liess. Hier versammelte sich
Alles, was „funkelnde Augen und glänzende Equipagen^^
hatte. Die funkelnden Augen leuchteten meist unter
Masken hervor und richteten soviel Unheil an, dass 1695
ein Verbot erlassen wurde, fortan mit Masken auf dem
„Ring“ zu erscheinen.^) Pope erzählt in „Spence“ eine
Anekdote über den Komödien dichter Wycherley. Dieser
war ein sehr schöner Mann. Er machte die Bekanntschaft
der berühmten Herzogin von Cleveland auf die folgende
Weise. Eines Tages, als er auf dem „Ring“ spazieren
ging, fuhr die Kutsche der Herzogin an ihm vorbei. Die
Dame lehnte sich aus dem Fenster und rief ihm laut
zu: „Herr, Ihr seid ein Spitzbube und Schuft!“, welche
Worte in einem Liede im ersten Stücke von Wycherley
Vorkommen. Von diesem Augenblicke an hegte der Dichter
die Hoffnung, von der Herzogin erhört zu werden. In
Lord Dorset’s „Verses on Dorinda“ heisst es über
den „Ring“:
Wilt thou still parkle in the box.
Still ogie in the Ring?
Canst thou forget thy age and pox ?
Can all that shines on Shells and rocks
Make tbee a fine young thing?
Ebenso wird bei Ether ege. Gib her und im
J. Timbs a. a. 0. S. 585.
2) K. Baedeker „London und Umgebungen“ 10. Aufl.
Leipzig 1890 S. 231—232.
*) H. B. Wheatley „London Fast and Present“ London
1891 Bd. III S. 163.
119
„Spectator“ der Eeiidez-vous im „Ring“ oft gedacht, i)
Sehr anschaulich beschreibt Wilson das Treiben am
„Ring“ aus dem Jahre 1697 : „Here the people of fashion
take the diversion of the Ring. In a pretty high place,
which lies very open, they have surrounded a circum-
ference of tvvo or three hundred paces diameter witli a
sorry kind of balustrade, or rather with postes placed
upon stakes but three fut from the ground ; and the coaches
drive round this. When they have turned for some time
round one way they face about and turn t’other; so rowls
the World Der „Ring“ war also ein Ranelagh im Freien.
Gegenwärtig ist von diesem altberühmten Platze nichts mehr
zu sehen als einige alte Bäume. Auch das in seiner Nähe
gelegene romantische „Lake House mit dem Bächlein davor,
welches nach seiner Abbildung in „Gentleman’s Magazine“
von 1801 einen sehr pittoresken Anblick gewährt haben muss,
ist verschwunden.
Nach Remo ist heute der Hyde Park nach dem
Sonnenuntergänge, besonders am Sonntage, die „Beute der
Sweethearts, der Verliebten“. „Jusqu’ä une heure avancee,
on les voit ä demi-couches les uns sur les autres, les bras
enlaces, les levres insatiables de levres et jamais repues
du meme long baiser, se becquetant, se caressant, se
„sweetheardant“ (ce neologisme interlinqual, c’est ä dire
anglofrancaise est la meilleure Image de leurs epanche-
ments).“
Westlich schliesst sich an den Hyde Park der
Kensington Garten (Kensington Gardens) an, der von
Wilhelm HI. angelegt wurde, welcher in dem im Parke
gelegenen Palaste gleichen Namens residierte. Hier pflegten
1) H. ß. Wlieatley a. a. 0. Bd. III S, 163.
2) Wilson’s „Memoirs“ London 1719 S. 126.
3) J. Timbs a. a. 0. S. 585; S. 588.
P. Remo a. a. 0. S. 218.
120
schon zur Zeit der Königin Anna die schönen Damen
in aller Frühe zu promenieren, wie Tic keil es schildert:
The dames of Britain oft in crowds repair
To gravel walks and unpolluted air;
Here, while the town in damps and darkness lies,
They breathe in sunshine, and see azure skies ;
Fach walks with robes of various dyes bespread,
Seems from afar a moving tulip-bed,
Wliere rieh brocades and glossy damasks glow.
And Chintz, the rival of the showery bow.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war
Kensington Gardens der Hauptschauplatz der vornehmen
Galanterie, um 1800 sogar den Hyde Park fast ganz ver¬
drängend. Hier konnte man täglich die Lebemänner wie
George Selwyn, den Earl of Queensberry u. A.
lustwandeln und liebäugeln sehen, mit all’ den Schönen,
die hier die Pracht ihres Leibes und ihrer Gewänder zur
Schau trugen. Heute findet man nur noch an den
Dienstagen und Freitagen, während der hier veranstalteten
Konzerte, die bessere Gesellschaft im Kensington Park.
„Über die Rasen- und Wiesenplätze von Kensington rauschen
die Schleppkleider der promenierenden haute -volee,
während unter den Bäumen, zweimal in der Woche, eine
volle Musikbande spielt“.
Der Regent’s Park hat nur vorübergehend in der
Geschichte des galanten High Life eine Rolle gespielt.
Nur im Sommer kann man das Leben und Treiben
des High Life in den Parks und in der Öftentlichkeit
beobachten, und zwar bilden die Monate Mai bis August
die eigentliche „Season“. Herbst und Winter gehören
0 1. Timbs a. a. 0. S. 433 — 434.
2) J. Rodeiiberg „Alltagsleben in London“ S. 20 — 21.
121
in der vornehmen Gesellschaft dem Land- und Badeleben.
In Belgravia, Tyburnia, und den anderen feinen Vierteln
des Westens ist es still, die Häuser sind öde und verlassen,
die Vorhänge herabgelassen, die Thüren verschlossen.
So ist es von jeher gewesen, schon seit der Restauration.
„London“, sagt douy, ,, bietet zwei verschiedene Bilder
dar, welche ein italienischer Dichter oder ein Künstler
mit den Namen „Londra trionfante“ und ,,Londra
abbandonata“ bezeichnen könnte“, i)
England ist berühmt durch die grosse Zahl seiner
id3dlischen adligen Landsitze, die nicht blos für Jagd,
Sport und andere ländliche Vergnügungen bestimmt sind,
sondern auch für die Genüsse der Kunst und Litteratur
in anziehendster Weise eingerichtet sind. Man braucht
nur Werke wie Waage ns ,, Kunstwerke und Künstler in
England“ und Pückler-Muskau’s „Briefe eines Ver¬
storbenen“ zu lesen, um über die grossartigen Schätze
der Kunst und Litteratur in den englischen Adelssitzen
in der ausgiebigsten Weise belehrt und in Erstaunen
gesetzt zu werden. Die wohlthätige, erfrischende Wirkung
des englischen Landlebens rühmt schon Archenholtz:
„Der Eigentümer, ermüdet von den lärmenden Lustbar¬
keiten des Winters, geniesst mitten in einer schönen
Natur die süsseren Vergnügungen des Landes, und der
abgespannteste Wüstling söhnt sich mit der einfachen
Bestimmung der Menschheit wieder aus oder lässt
wenigstens die Sommermonate hindurch seinen Geist neue
Kräfte sammeln, um sie den nächsten Winter desto
glänzender zu verschwenden“. Am schönsten hat
L Joay „LMIermite de Londres“ Bd. II S. 108.
Archenholtz „Annalen der britischen Geschichte“
Hamb. 1799 Bd. III S. 105 — lOG.
Alexander Jung in seinen „Vorlesungen über soziales
Leben und höhere Geselligkeit“ dieses Landhansleben der
englischen Aristokratie geschildert.
„Den reinsten Ausdruck erreicht der höhere ge¬
sellige Verkehr der Engländer jetzt in dem Landhaus¬
leben ihrer Aristokratie. Die Hallen Ossian’s sind hier
verwandelt in die modernsten Prunkzimmer. Die Flamme
des Herdes leuchtet noch jetzt, wie einst, vom Kamin,
aber sie beleuchtet die schönsten Fresken, die ausge¬
wähltesten Fussdecken, die abweichendsten Formen edler
Menschengestalt; ein reiches Comfort erfrischt den Mund
zu immer neuer Kede, und nach aufgehobener Tafel, wenn die
reizenden Damen Altenglands gehen, und die Weine kommen,
rücken die Männer noch immer nach alter, lieber Sitte
zusammen, und nun moussiren die ausgelassensten Geister
der Einfälle um die Wette mit dem Champagner.“
Am prächtigsten entfaltet sich das fashionable
Grossstadtleben während der stillen Saison in den Bädern.
Jetzt giebt es zahlreiche solche Badeorte, allen voran
Brighton. In alter Zeit waren vor Allem zwei Bade¬
plätze die Schauplätze der Galanterie: Bath und Tun-
b r i d g e w e 1 1 s.
Das letztere Bad, nur eine Tagereise südlich von
London, wird uns schon in seinem galanten Charakter in
„Grammont’s Memoiren“ sehr anschaulich vor Augen
geführt.
,, Tunbridge ist von London etwa ebenso weit wie
Fontainebleau von Paris entfernt; zur Brunnenzeit ver¬
sammelt sich dort die schöne und elegante Welt beider
Geschlechter. Immer zahlreich ist die Gesellschaft dort
Al. Jiin^ „Vorlesungen über soziales Leben und
höhere Geselligkeit“ Danzig 1844 S. 82 — 83.
(loch stets gewühlt. Da die Masse der Geniessendea^
die Anzahl der Kranken fortwäh r en d über¬
steigt/) so atmet alles nur Vergnügen und Freude.
Jeder Zwang ist verbannt, Vertrautheit mit dem Bekannt¬
werden eröfthet, und der Lebensgenuss herrscht allmächtig.
— Zur Wohnung hat man kleine, saubere und bequeme
Häuschen, die von einander getrennt die Quellen auf eine
halbe Stunde im Kreise umgeben. Des Morgens ver¬
sammelt man sich am Sprudel. Dort befindet sich eine
grosse Allee von dichtbelaubten Bäumen, worunter man
spazieren gehend den Brunnen trinkt. Auf einer Seite
des Laubgangs ist eine lange Keihe von Buden mit allen
Arten Schmucksachen, mit Strümpfen und Handschuhen
und Spieltische wie auf einem Jahrmarkt. Auf der andern
Seite der Bäume ist der Gemüsemarkt, wo jeder selbst
seine Vorräte einholt und wo deshalb kein widriger Anblick
geduldet wird. Man sieht dort kleine, blonde, frische
Landmädchen mit sehr reiner Wäsche, niedlichen Stroh¬
hüten und in sauberem Schuhwerk; sie verkaufen Wildpret,
Gemüse, Blumen und Früchte. Man erhält so gute Kost,
wie man sie nur wünschen kann. Es wird auch hock
gespielt und die Liebesverhältnisse gehen ihren Gang.
.Sobald der Abend kommt, verlässt jeder sein Schlösschen,
um sich auf dem Easenplatz einzufinden ! Dort tanzt
man, wenn es beliebt, auf einem so sanften, ebenen Gras¬
boden, wie auf dem schönsten Teppich der Welt .
An keinem andern Orte hat je die Liebe ihr Reich so
blühend entfaltet. Die vor der Ankunft von ihr berührt
waren, fühlten ihre Glut steigen und die, welche der
q Gilt das nicht auch von unseren heutigen Luxusbäderii 'i
Viele Kranke werden thatsächlich nicht gesund vor — lauter
Gesunden!
124
Leidenschaft am wenigsten unterworfen schienen, ver-
leugneten ihre natürliche Starrheit und spielten eine ganz
neue Rolle.“ i) Auch in den „Serails de Londres“
(S. 197) wird Tunbridge als ein Ort der Galanterie
erwähnt.
Aber an der Spitze der englischen Badeorte steht
seit den Zeiten der Römer, die schon die warmen Quellen
dieser Stadt kannten, Bath, zeitweilig sogar eine königliche
Residenz. Es ist nach Waagen die „Königin unter
allen Badeorten in der Welt; denn an Schönheit der
Lage können sich gewiss nur wenige, an Stattlichkeit der
Gebäude keiner damit messen.“'^) Freilich zur Zeit der
Restauration war Bath noch nicht die schöne Stadt, welche
„selbst Augen entzückt, die mit den Meisterwerken
-eines Bramante und Palladio vertraut sind, und welche
der Genius von A n s 1 e y und S m o 1 1 e 1 1 , von Francisca
Burney und Johanna Austen zu einem classischen Orte
gemacht hat. “^) Primitive Hütten standen damals, wo heute
imposante Paläste am Ufer des Avon terrassenförmig empor¬
steigen. Erst seit 1730 entwickelte sich Bath zu einem vor¬
nehmen und glänzenden Badeplatze. In einem alten Werke
jener Zeit wird es mehr ein Zufluchtsort für die Gesunden als
für die Kranken genannt. Das Baden werde mehr als
Sport und Unterhaltung betrieben denn als Stärkungs¬
mittel der Gesundheit. Die ganze Stadt ginge auf in
Würfelspiel, Kartenspiel, Besuchemachen, mit einem Wort
in allen Arten der Galanterie und Leichtfertigkeit. Un¬
aufhörlich folgten sich die verschiedensten Vergnügungen.
„Des Morgens holt man Euch in einer geschlossenen
0 Grammont S. 233 — 235.
2^) G. F Waagen „Kunstwerke und Künstler in England“
Berlii/ 1838 Bd. 11 ^5. 322.
0 Macanlay a. a. 0. Bd. II S. 7(5.
125
Sänfte, und trägt Euch gekleidet in Euren Badeanzug
zu dem „Cross Bath“. Dort spielt die Musik, während
Ihr ins Bad tretet, und die Personen, welche Euch be¬
dienen, Euch eine kleine hölzerne Schüssel überreichen,
in der ein Handtuch liegt und ein Blumenstrauss ; und
später kommt noch eine Schnupftabaksdose hinzu. In
einiger Entfernung halten sich die Damen auf, jedes
Geschlecht an einer besonderen Seite. Aber oft mischen
sie sich unter einander, wie in dem „Königs- und Königinnen¬
bade“, und unterhalten sich, da der Platz sehr klein ist,
sehr frei, scherzen, fluchen und lieben sich manchmal. Haben
sie sich so eine oder zwei Stunden amüsiert, so rufen sie nach
ihren Sänften und kehren in ihreWohnungen zurück.“^) Dann
fanden für gewöhnlich die gi’ossen Promenaden auf dem
Kirchhofe statt und man kehrte in den angrenzenden
Läden ein. Am Nachmittage fand gewöhnlich eine
Theateraufführung statt, wobei weniger diese letztere als
die Unterhaltung unter den Zuhörern in Betracht kam.
Abends gab es, wenigstens zweimal in der Woche, Bälle
in der grossen Stadthalle. Auch wird — wie man
sieht, ein altes Lied — der grosse Nutzen von Batli für
die Beförderung der — Conception hervorgehoben. —
Mrs. Elizabeth M o n t a g u beschreibt ebenfalls das Leben
in Bath um 1740 sehr anschaulich. Des Morgens heisse
es von allen Seiten : How do you do? Des Abends: Was
ist Trumpf? Die Frauen im „Lady’s Coffee House“
sprächen nur von Krankheiten. Die Männer, ausgenommen
Lord Noel Somerset, seien alle abscheulich. Nicht
ein Guter sei unter ihnen. Unter den excentrischen Damen
befand sich eine sehr grosse und starke, verwittwete
0 „The Foreigaer’s Guide through London etc.“ London
1730. S. 202.
126
Herzogin, welche heim Baden in dem „Cross Bath‘‘ bei¬
nahe ein paar Frauen ertränkte. Sie befahl nämlich ös
so mit Wasser zu füllen, dass es ihr bis ans Kinn reichte.
So mussten alle die, welche kleiner waren an Statur und
Rang, herausgehen, wenn sie nicht ertrinken wollten.
Doran berichtet, dass man im Wasser promenierte, und
zwar beide Geschlechter gemeinsam. Man war im Bade¬
kostüm und spazierte, das Wasser bis zum Halse, umher.
Es sah aus, als wenn die Köpfe der kleinen Leute auf
dem Wasser schwammen. Man scherzte, liebkoste sich
oder amüsierte sich auf andere Weise. Das ,, Cross Bath‘^
war das vornehmste Bad. Schöne lackierte Schalen
schwammen vor den Damen umher, gefüllt mit Konfekt,
■oder parfümierten Ölen und Essenzen. Bisweilen schwamm
ein solches Schälchen von seiner Eigentümerin fort, und
der Anbeter der Dame hinterher, brachte es ihr zurück,
und legte sich wohl bei guter Laune auf den Rücken
und that so, als wenn er in die Tiefe sänke, vor lauter
Vergnügen, ihr dienen zu können. Die Zuschauer auf
der Gallerie lachten und applaudierten, bis die Stunde
des Geschlossenwerdens des Bades kam. Dann trug man
die Schönen in Sänften nach Hause. 2)
Auch Archenholtz gedenkt dieses lustigen Treibens
in Bath, um dessen Verschönernng sich besonders der
berühmte Stutzer Nash verdient machte, der auch den
bedenklichen Unfug in den Bädern beseitigte. Noch immer
ist Bath ein vielbesuchter Badeort, dessen Schönheit
Swinburne in den „Poems and Ballads“ besingt:
Like a cjueen enchanted who may not laugh or weep,
Glad at heart and guarded from change and care like
ours.
Doran „A Ijady of the last Century“ London 1873 S. 21.
Ö ibidem S. 22 — 23.
127
Girt about witli beauty by days and nigths that
creep
Soft as breatliless ripples tliat softly shore ward
sweep,
Lies tlie lovely city wliose grace no grief deflowers.^)
Nach Remo sind englische Bäder noch heute
,,stations d’amour^‘, wohin alle diejenigen flüchten, welche
ihre ,,lasciven Träume“ verwirklichen wollen. Jetzt be¬
hauptet Brighton den ersten Rang unter ihnen als Ort
des allgemeinen Rendez-vous, von den „brocanteurs d’amour,
les ecumeurs de vierges et les debaucheurs d’amour“ bis
zu den ,,platoniciens qui vont echanger les serments
eternels devant l’infini de la mer comme temoin.“ Kein
Wunder daher, dass die Londoner Serails hier in Gestalt
von Filialen vertreten sind. Remo erwähnt ein von
einer Holländerin geleitetes, fashionables Bordell in Brighton.
Sie fuhr mit ihren Mädchen in einem ,,four-in-hand“,
einem vierspännigen Wagen spazieren, und erwarb sich
ein grosses Vermögen. ‘^)
Der allgemeine Charakter der Lebewelt des acht¬
zehnten Jahrhunderts zeigt gegenüber derjenigen der
Restaurationsperiode eine entschiedene Verfeinerung
und Veredlung. Ein Roche ster und Dorset
erscheinen trotz ihrer eminenten Geistesgaben als rohe
Patrone neben den Selwyn und March mit ihren ge¬
schliffenen Manieren und elegantem, weltmännischen Auf¬
treten. Der Geist des Rokoko beherrscht auch* diese
Gesellschaft. Die leichte, gefällige Causerie kommt auf,
freilich nicht ohne ihren ständigen Begleiter: den Klatsch.
1) A. Cb. Swinburne „A Bailad of Bath“ iu: Poems
and Ballads, Third Series 5th edit. London 1897 S. 80—82.
2) F. Re'mo „La vie galante en Angleterre“ S. 267 — 268.
128
Dem französischen „Demi-monde‘^ des neunzehnten Jahr¬
hunderts stellt das achtzehnte in England die sogenannten
„D emi-reps“ entgegen, was wohl nicht mit einander
zu identifizieren ist. Denn die „Demi-reps“ waren solche
Damen, deren Ruf nicht ganz tadellos war und recht
häufig an den „Theetischen in Gefahr geriet verloren
zu gehen oder vernichtet zu werden.“ ‘^) Die klatschenden
Weiber Londons bilden ein beliebtes Thema bei den
moralisierenden Schriftstellern des 18. Jahrhunderts, bei
Addison, Steele, Sterne. Besonders eindringlich
warnt der gute Richard King in seinen „Frauds of
London“ vor ihnen und ihrem zerstörenden Werke.
Aristokratie und Volk waren im 18. Jahrhundert
strenger von einander geschieden als im 17., wo noch
eine Art von patriarchalischem Verhältnisse zwischen den
beiden herrschte. Archenholtz berichtet sogar, dass
der Hof es verschmähte, die gewöhnlichen — Bordelle
zu besuchen, sondern sich seine eigenen Freudenhäuser hielt,
„Es giebt noch andre Häuser und zwar ganz nahe
beim Palaste zu St. James, wo man Nymphen in zahl¬
reichen Banden für die Hofleute unterhält. Eine kleine
Gasse, die aber ganz aus zierlichen Häusern besteht, und
King’s Place heisst, hat keine anderen Bewohner als
Priesterinnen der Venus, die unter der Aufsicht von wohl¬
habenden Matronen leben. Sie besuchen alle öfientlichen
Belustigungsörter, selbst die theuersten, und diese in den
kostbarsten Kleidern. Jedes dieser Klöster'^) hat eigene
Equipagen und Livreebediente, denn die Mädchen gehen
q Von „Demi-reputation“ = halber Ruf.
2) G. Hill a. a. 0. Bd. 1. S. 343.
3) R. King „The Frauds of London“ S. 30.
Über diese Bezeichnung der Bordelle yergl. Bd. I dieses
AVerkes S. 257.
129
nie zu Fasse, ausser bei ihren Spaziergängen im Park. Sie
bezahlen für Wohnung und Kost, und werden ganz als
Pensionärs behandelt, die sich jedoch den Regeln des
Hauses unterwerfen müssen. Der liohe Preis, der selbst
mit dem Eintritte in diese Tempel verbunden ist, hält
den grossen Haufen ab, sie zu besuchen, dagegen sich
Reiche und Vornehme desto häufiger einstellen. Der be¬
rühmte Fox w^ar selbst, bevor er Minister wurde, unter
diesen besuchenden Freunden, und nicht selten verliess
er diese Altäre, um ins Parlament zu eilen, und durch
seine grosse Beredsamkeit alles zu erschüttern. Es ist
sonderbar, dass dieser Mann, so lange er der Venus opferte
und Bacchanalien beiwohnte, wegen seiner Rechtschaffen¬
heit und seines wahren Patriotismus verehrungswürdig
w'ar; allein sobald er sich den politischen Mysterien ganz
weihete, so entsagte er mit seinen Ausschweifungen auch
jenen Tugenden gänzlich“ ^). Letzteres ist eine interessante
psychologische Beobachtung. Tugenden und Fehler des
einzelnen Menschen hängen nämlich aufs innigste mit seinem
Sexualleben zusammen. Will man jene erkennen, so soll
man nicht vergessen dieses zu untersuchen. Und was
vom einzelnen Individuum in dieser Beziehung gilt, gilt
auch von der Gesellschaft. Auf diesen Umstand habe ich
besonders in meinem Werke über den „Marquis de Sade“
wiederholt und mit Nachdruck hingewiesen.
Mittelpunkte des High Life waren im 18. Jahrhundert
die grossen Maskenbälle, deren Blütezeit in diese
Epoche fällt.
9 Archenholtz „England“ Bd. II. S. 260 — 261.
9
130
Die Vorläufer der Maskenbälle waren die „Masken-
spiele“ des 17. Jahrhunderts, als deren drei berühmteste
Verfasser Daniel, Campion und BenJonsonzu nennen
sind. Letzterer ist nach Tai ne der eigentliche Erfinder
dieser Maskenzüge , bei denen eine üppige Pracht entfaltet
wurde.
„Seine Hände schütteln alles durcheinander: die
griechischen Götter, den ganzen Olymp des Altertums,
die allegorischen Gestalten — die von den damaligen Malern
in ihren Gemälden angebracht werden, — alle Welten:
die göttliche und die menschliche, die abstracte und die
wirkliche, die antike und die moderne. AIP dies bringt
er auf die Bühne, um daraus Kostüme, harmonische Gruppen,
Gesänge und Sinnbilder zu brauen, mit denen er die
künstlerischen Sinne der Beschauer anregt oder berauscht.
Die Elite des Keiches steht da auf der Bühne; nicht
Possenreisser, die sich in erborgten, ihnen schlecht sitzen¬
den Gewändern unbeholfen geberden, sondern Hofdamen,
hohe Herren, Königinnen im vollen Glanze ihres Banges
und Stolzes, mit echten Diamanten. Sie sind bemüht, ihren
Luxus zur Schau zu tragen, so dass die ganze Pracht des
nationalen Lebens sich, wie Juwelen in einem Schmuck¬
kästchen in der Oper concentrirt, die sie einander geben.
Welcher Putz! Welche Herrlichkeit! Welche Vereinigung
bizarrer Personen! Welche Menge von Zigeunern, Zauber¬
ern, Göttern, Helden, Priestern, Gnomen u. dgl.! Welche
Verwandlungen, Tänze, Hochzeitslieder und Kämpfe! Welche
Abwechslung von Landschaften, Bauten, schwimmenden
Inseln, Triumphbogen und symbolischen Kugeln ! Das Gold
funkelt, die Juwelen schimmern, der Purpur fängt in seinen
reichen Falten die Strahlen der Kronenleuchter auf, die
zerknitterte Seide wirft das Licht zurück, flammensprühende
131
Diamantenfransen zieren die Ernst der Damen, Perlen-
■schnüre bedecken die mit Silber ausgenähten Brokatkleider,
■die Goldstickereien schlagen ihre bizarren Arabesken in
•einander und besäen die Kleider mit Blumen, Früchten
und allerlei Gestalten, — ein Gemälde im Gemälde schaffend.
Auf den zum Thron führenden Stufen stehen Gruppen von
Liebesgöttern, deren jeder eine Fackel trägt. In den Lauben
•spielen Musikanten, die mit scharlachenen und purpurnen
Gewändern angethan und mit Lorbeern bekränzt sind.
Maskenreihen gehen in fortwährend anders verflochtenen
“Gruppen auf und nieder; die Einen sind silberfarben und
rötlichbraun, die Anderen meergrün und orangegelb ge¬
kleidet: die kurzen weissen Röcke sind goldgestickt, alle
Kostüme und Juwelen weisen einen ausserordentlichen
Reichthum auf. Der Thron gleicht einem Lichtmeer“ ^).
Diese Maskenspiele des 17. Jahrhunderts blieben in¬
dessen blosse Schaustücke, und w^aren insofern verschieden
von den Maskeraden des 18. Jahrhunderts, an denen
•die ganze vornehme Gesellschaft in corpore teilnahm.
Die Maskenbälle bilden einen so wesentlichen Bestandteil
in dem farbenreichen Bilde des englischen High Life im
18. Jahrhundert, dass Fitzgerald sie mit Recht als
„the note“ des allgemeinen Geschmackes bezeichnet, und
.auf die grossen Gebäude hinweist, die allein zu diesem
Zwecke errichtet wurden, wie Ranelagh^), das Pantheon)^,
Almacks und das berühmte Gebäude der Madame Cor-
nelys am Soho Square^).
1) Taine a. a. 0. Bd. I S. 460 — 461.
2) Vgl. Bd. 1, S. 319—324.
3) ibidem S. 307 — 308.
P. Fitzgerald „Life of George IV.“ Bd. I. S. 52.
9*
132
Die Maskeraden dienten in einem hohen Grade der
Verbreitung der Immoralität. Schon früh erhoben sich
lebhafte Klagen über die bei solchen Festen begangenen
Ausschweifungen. Im Jahre 1726 predigte der Bischot
von London öffentlich gegen die Maskenbälle. Drei Jahre
später erklärte die „Grand Jury of Middlesex“ die Mas¬
keraden für die hauptsächlichen Beförderer von Laster und
Sittenlosigkeit 1). Zu grossen Skandalen gab oft das Ver¬
halten des Pöbels Veranlassung, über das Archen-
holtz die folgenden Mitteilungen macht: „Der englische
Pöbel nimmt an den Maskeraden auf eine sehr sonderbare
Art teil, die so viel Unangenehmes hat, dass man er¬
staunen muss, wie unter solchen Umständen delikate Damen
einem so theuer erkauften Vergnügen nachjagen können.
Die ungeheuere Menge der Kutschen verursacht, dass viele
auf der Strasse warten müssen. Diese Zeit über sind die
Masken dem Spotte des Pöbels ausgesetzt. Alle Wagen,
welche halten, werden mit Pechfackeln von diesem Aus¬
wurfe der Nation beleuchtet. Man betrachtet und ver¬
spottet die Masken mit Fischmarktswitz, Zoten und wiehern¬
dem Gelächter, wobei kein Wort verloren geht. Die Kutschen¬
räder werden bestiegen, und die Fackeln den darin Sitzenden
unter die Augen gehalten. Ueber die Grenzen dieser
brutalen Neugier und Spötterei geht die Belustigung nicht
hinaus“ ^).
Die Costüme der Teilnehmer und Teilnehme¬
rinnen an diesen Maskeraden waren meist von verschwen¬
derischer Pracht. Oft aber auch zeichneten sich Damen
H. D. Traill „Social England“ London Bd. V.
S. 141—142.
2) Archenlioltz „England“ Bd. III S. 21ä — 216.
133
durch — Costümlosigkeit aus. Entrüstet beschreibt Lady
Elisabeth Montagu das Gewand der Miss Chudleigh
bei einer Maskerade im Jahre 1750: „Miss Chudleigh's
Kleid oder vielmehr Nichtkleid (undress) war bemerkens¬
wert. Sie war Iphigenie vor dem Opfer; aber so nackt,
dass der Hohepriester mit Leichtigkeit die Eingeweide
des Opfers inspiciren konnte. Die Ehrendamen, die nicht
gerade zu den sittenstrengsten gehörten, waren so beleidigt,
dass sie mit ihr nicht sprechen wollten.“^) Auch der
Spleen fand oft Gelegenheit, sich in eigenartiger Weise
zu bethätigen. Der König Georg IIL, der die Masken¬
bälle nicht sonderlich liebte, veranlasste einmal den Colonel
Luttrel im Jahre 1771, eine grosse Maskeradengesell¬
schaft dadurch zu stören, dass er in einem Toten¬
kleide und Sarge erschien und alle Anwesenden, besonders
die Damen, in Schrecken setzte, aber schliesslich von
einem als Matrose gekleideten Manne hinausbefördert
wurde.
Die berühmtesten Maskenbälle des 18. Jahrhunderts
waren die in Almack’s und die von der Madame
Cornelys (oder Cornelis) veranstalteten.
Almack’s führt seinen Namen nach einem Schotten
Almack, der dieses Ballhaus im Jahre 1764 an der
Südseite von Kingstreet, St. James’s, errichten Hess und
dasselbe am 12. Februar 1765 mit einem glänzenden
Ballfeste, dem auch der Herzog von Cumb erlan d, der
Sieger von Culloden, beiwohnte, eröffnete. Der grosse
' Saal dieses Ballhauses fasste 1700 Personen. Die Maske¬
raden von „Almack’s“ wurden durch ein Comite vornehmer
Damen arrangirt und geleitet, welches nur Personen aus
1) Doran „A Lady of the last Century“ S. 57.
2) Archenholtz „England“ Bd. III S. 213 — 214.
134
den vornehmsten Kreisen den Zutritt gestattete. Gillj
Williams schreibt unter dem *22. Februar 1765 an
George Selwyn: „Es ist jetzt in Almack’s, in drei
sehr eleganten, neuerbauten Bäumen, eine 10 Guineen-
Subscription eröffnet, wofür man zwölf Wochen lang einen
Ball und ein Abendbrot einmal in der Woche hat. Nach
der Summe kann man annehmen, dass die Gesellschaft eine
auserlesene ist.‘‘ In Luttrell’s „Julia“ (Letter I) heisst
es über diesen Club und seine Zulassungsbedingungen:
All on that magic List depends;
Farne, fortune, fashion, lovers, friends :
’Tis that which gratifics or vexes
All ranks, all ages and both sexes.
If once to Almack’s you belong,
Like monarchs you can do no wrong;
But banished thence on Wednesday night,
By Jove you can do nothing right.
Almack’s hielt sich bis über die Mitte des 19.
Jahrhunderts hinaus und hiess dann nach dem späteren
Besitzer auch Willis ’s. Noch um 1850 zeichneten sich
die dort veranstalteten Feste durch ihre vornehme Exclu-
sivität aus. Seitdem ging der Buf dieses altberühmten
Etablissements durch „plebejische Invasion“ immer mehr
zurück und hörte schliesslich im Jahre 1863 auf zu
existiren.^)
0 H. B. Wheatley „London Fast and Present“ Bd. 1
S. 37—38.
2) „Almack’s“ hatte schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts
auch als Concerthaus gedient. Hier gaben Mrs. Billington,
Mrs. Br ah am und Signor Naldi xon 1803 — 1810 Concerte
als Rivalen der Catalani, die in den „Hanover Square Rooms“
sang. Hier ^veranstaltete Charles Kemble 1844 seine be¬
rühmten Shakesi^eare - Vorlesungen. — Vgl. J. Timbs
„Curiosities of London“ S. 3.
135
Glänzender noch als die Bälle von „Almack’s“ waren
die weit und breit berühmten Maskeraden der Madame
Cornelys (Cornely) oder Cornelis, der „Kaiserin
des Geschmackes und der Wollust“,^) einer der merk¬
würdigsten Abenteurerinnen des 18. Jahrhunderts.
Madame Cornelys, wie sie sich in London nannte,
hiess ursprünglich Teresa Im er, stammte aus Deutsch-
Tirol und war die Tochter des Schauspielers Im er, dessen
Truppe in Italien im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts
Theater- Aufführungen veranstaltete. Teresa war eine
blendende Schönheit und knüpfte schon früh Beziehungen
zu den vornehmen Lebemännern Italiens, z. B. dem vene-
tianischen Senator Malipieri an, in dessen Hause
Casanova sie im Jahre 1740 kennen lernte. Wie wissen
aus des Letzteren „Memoiren“, dass sie zeitweilig seine
Geliebte war und dass er ihren 1746 geborenen Sohn
adoptirte, den er ihr nach ihrer üebersiedelung nach
London im Jahre 1763 zuführte.
Das anschaulichste Bild von dem Wesen und Treiben
der Cornelys gewinnen wir, wenn wir uns mit den
Schilderungen einiger Zeitgenossen bekannt machen.
Archen hol tz berichtet: „Eine Deutsch-Tirolerin, von
niederer Herkunft, verstand sich in London emporzuscbwin-
gen durch Concerte, die sie, obgleich sie eine mittelmässige
Sängerin war, gab. — Nach Bekanntschaft mit vornehmen
y „Serails de Londres“ S. 215.
2) Vgl. Victor Ottmann, „Jakob Casanova von Seingalt*
Sein Leben und seine Werke“. Stuttgart 1900. S. 19— 20; 22 —
23; 62; 76.
136
Damen, mietete sie ein sehr grosses und schönes Haus^),
und Hess es fürstlich möbliren. Die Vergnügungen in
demselben bestanden in Konzerten, Bällen und Maskeraden.
Niemand als Subscribenten wurden dazu gelassen, und diese
mussten erst von einer der präsidirenden Damen eine schrift¬
liche Einwilligung bringen ; sodann durften sie aber nicht
weniger als 12 Billets nehmen, die anfangs nur 6 Guineen
kosteten, aber endlich bis auf 9 erhöht wurden. Im ersten
Jahr hatte sie schon 2700 Subscribenten. Der Stiftungs¬
tag des Instituts wurde alljährlich durch eine Maskerade
gefeiert, wozu jedermann ohne Unterschied den Zutritt
hatte. Das Billet kostete alsdann 2 Guineen, wofür aber
auch um 2 Uhr nach Mitternacht eine herrliche Nacht¬
mahlzeit gegeben wurde. Ich weiss von ihr selbst, dass
an solchen Tagen mehr als einmal 8000 dergleichen Billets
verkauft worden sind.
Keines dieser Feste war dem andern gleich, denn hier
zeigte sich das erfindungsreiche Genie dieser Frau auf eine
bewunderungswürdige Weise. Man sah hier illuminirte
Säulengänge und Triumphbogen, Säle in Gärten verwandelt,
mit Orangerien und Springbrunnen gezierte, labyrinthische
Blumenbeete, transparente Gemälde und Inschriften, Treppen
und Zugänge mit farbigen Lampen in Pyramidal- und
andern Formen gestellt, und mit Guirlanden festonartig
geschmückt; amphitheatralisch gestellte Esstafeln, die einen
so sonderbaren als schönen Anblick gewährten ; eine Reihe
H Dieses Haus hiess „Carlisle House“ und lag am Soho
Square in der jetzigen Greek Street. Vgl. Henry Sampson
„A History of Advertising“, London 1874. S. 483 — 484 und
Jouy „L’hermite de Londres“, Bd, I, S. 6.
137
von Zimmern, deren jedes vollkommen nach dem Costüm
eines orientalischen Volkes aufs prächtigste möblirt war;
persianisch, indisch, chinesisch u. s. w.; hei allen diesem
herrschte eine Ordnung, die den Glanz der Feste noch
mehr erhöhte. Am Stiftungstage brannten in den Sälen
und Zimmern gewöhnlich 9000 Wachskerzen, und auch
diese mussten durch mannigfaltige Stellungen und Figuren
das Auge ergötzen.
Die Cornelys war nicht geldgierig, steckte immer in
Schulden und musste nach jedem Feste zuletzt ins Gefängnis,
bis schliesslich die Vergnügungen ein Ende nahmen und
sie, die man die „Kaiserin des Geschmacks“ genannt hatte,
von Wohlthaten ihrer Freunde lebte“ i).
Casanova entwirft in seinen Memoiren keine sehr
günstige Schilderung von seiner ehemaligen Geliebten.
Dieselbe erscheint vielmehr als eine kalte , gefühllose
Spekulantin. Man erzählte ihm, dass die Cornelys drei
Sekretäre, zweiunddreissig Dienstboten, sechs Pferde, eine
Meute und eine Gesellschaftsdame habe. Casanova
machte einen der grossen Bälle bei der Cornelys mit,
dem u. a. auch der Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand
von Braunschweig beiwohnte. Aber „die ganze grosse
Gesellschaft schien mir kalt und steif“ ^).
Jedenfalls musste ein fashionabler Gentleman ab¬
wechselnd zu Almack’s und zur Cornelys gehen ^), und
selbst Sterne versäumte dies nicht und besorgte auch für
1) Archenholtz „England“ Bd. II, S. 206 — 211.
2) Casanova ’s Memoiren Bd. XV, S, 91, S. 108 — 109.
3) W. Wroth und A. E. Wroth „The London Pleasure
Gardens of the eigliteenth Century“. London 1896. S. 27.
138
seine Freunde Eintrittskarten^). Auch Tobias Smollett
scheint die Maskeraden der Cornelys aus eigener An¬
schauung gekannt zu haben. Im „Humphrey Clinker“
beschreibt Lydia Melford der Freundin Londons Herrlich¬
keiten, Ranelagh und Vauxhall und die glänzenden Ge¬
sellschaften der Cornelys. „Ich bin in der Gesellschaft
bei Mss. Cornelys gewesen. Räume, Teilnehmer, Kostüme
und Dekorationen spotten jeder Beschreibung. Da ich aber
keine Neigung zum Kartenspielen habe, habe ich den „Geist“
des Hauses nicht richtig kennen gelernt“ ^). Aus letzterem
Grunde mochte auch wohl Henry Fielding’s Bruder>
der Friedensrichter Sir John Fielding urteilen, dass die
Londoner die Maskeraden am Soho Square nicht nötig
hätten, so lange sie Ranelagh mit seiner Musik und Feuer¬
werken und Marybone Gardens mit den Konzerten, Wein
und Plumpudding geniessen könnten^). Deshalb sah sich
wohl die spekulative Abenteurerin veranlasst, zur Verstärkung
der Anziehungskraft ihrer Soireen , dieselben zeitweilig
in einen jener grossen Vergnügungsgärten zu verlegen.
So veranstaltete sie am 23. Juni 1775 einen wunderbaren
„Regatta-Ball“ in Ranelagh, zu dem die Künstler Cipriani
und Bartolozzi die einen Neptun auf dem Meere mit
Nereiden, Najaden und Tritonen darstellende Eintritts¬
karte gezeichnet hatten,^) während die Cornelys allein
700 Guineen für das Abendessen empfangen hatte, das
Fitzgerald, „Life of George IV“. Bd. II, S. 52.
2) F. Smollet, „Humphrey Clinker“, London 1796, ßd. I,.
S. 136.
W. und A. E. Wroth, „The London Pleasure Gardens“,
S. 96.
0 Siehe die Abbildung derselben bei W. u. A. E, Wroth
a. a. 0. S. 214.
139
indessen recht dürftig ausfiel. Dem Feste, das in einem
glänzenden Balle im Neptuntempel von Eanelagh seinen
Mittelpunkt hatte, wohnte u. A. die Herzoge von Gloucester
und Northumberland, die Herzogin von Devonshire,
Lord North, Sir Joshua Reynolds, die Schauspieler
Garrick, Colman und Samuel Foote bei. Eine
Musikkapelle von 240 Personen, unter Leitung von Giardini
spielte in der Rotunde, während Vernon und Reinhold
die Gesellschaft mit dem Vortrage von Liedern ergötzten,
darunter mit den auf die Scenerie bezüglichen Versen:
Ye lords and ye ladies who form this gay throng,
Be silent a moment, attend to our song.
And while you suspend 3mur fantastical round,
Come, bless your sweet stars that your’re none of
you drowned.^)
Die Soho-Maskeraden blieben etwa 20 Jahre en vogue,
während welcher die Cornelys wiederholt ins Schuld¬
gefängnis wandern musste, um endlich nach einem totalen
Bankrott für immer von der Bildfläche zu verschwinden.
Das berühmte Haus am Soho Square Nr. 20 und 21
existirt noch, sogar mit einigen Resten seiner einstigen
Herrlichkeit in der inneren Einrichtung. Es beherbergt
aber jetzt die auf ihrem Gebiete ebenfalls berühmte — -
„Pickles“-Firma Crosse & Blackw eil I’'^)
Das im „Humphrey Clinker“ als besondere Attraction
der Cornelys erwähnte Pharaospiel gehörte zu den un-
y Wroth a. a. 0. S. 213 — 214.
y Eine sehr anschauliche Schilderung eines Maskenballes
unter Georg IV. giebt Adrian „Skizzen aus England“ Frank¬
furt a. M. 1830 Bd. I S. 82 — 124 ; ferner Pie ree Egan in seinem
„Life in London“ ed. Hotten, London 1900 S. 230 — 250 mit
dem „Maskeraden-Liede“ S. 240 — 242.
140
umgänglichen fashionablen Vergnügungen der vornehmen
englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts und fand
besonders in den Kreisen der feineren Demimonde leiden¬
schaftliche Liebhaberinnen. Einen Begriff von der geradezu
ungeheuerlichen Verbreitung dieses Lasters unter der
Damenwelt bekommt man am besten aus George Selwyn’s
Briefwechsel, der lebhafte Schilderungen dieser Art ent¬
hält.^) Dies wird durch die Darstellung in „Casanova’s
Memoiren bestätigt.
Ueberhaupt können sich die vornehmen eng¬
lischen Courtisan en des 18. Jahrhunderts in jeder
Beziehung mit den französischen Maitressen vergleichen,
nach denen sie sich ohne Zweifel gebildet hatten. Der¬
selbe Geist, dieselbe Eleganz und Üppigkeit, aber auch
bisweilen dasselbe Kaffinement. Die Genusssucht hat auch
die weibliche Welt nicht minder als die männliche er¬
griffen. Lady Mary Wortley Montagu schreibt in
einem ihrer Briefe: „Ich bedauere den Verfall des Ehe¬
standes, welcher von unseren jungen Mädchen gegenwärtig
so sehr verspottet wird, wie dies sonst von seiten der jungen
Herren gebräuchlich war. Beide Geschlechter haben die
Unbequemlichkeiten desselben erkannt, und die Benennung
Wüstling schmückt jetzt nicht weniger eine junge Frau
als einen jungen Mann vom Stande. Es erregt gar keinen
Anstoss zu sagen: Miss So und So, das Hoffräulein, hat
ihre Entbindung glücklich überstanden“ ^).
Die geistvollste dieser englischen Hetären, das Pro¬
totyp der ganzen Gattung, war ohne Zweifel die schöne
1) A’gl. E. J. Roscoe und Helen Clergue, „George Selwyn,
his Leiters and his Life“, London 1899, S. 18.
2) Citirt nach Johannes Scherr, „Geschichte der eng¬
lischen Litteratur“. 2. Aufl. Leipzig 1874, S. 125.
141
Schauspielerin Miss Anna Bell am y, deren Haus ein
„Bureau d’Esprit, ein Sammelplatz von allen vornehmen
und gelehrten Männern und selbst Damen vom ersten
Rang“ war, i) wie sie denn auch in der Geschichte der
Fraueuemancipation eine rühmliche Erwähnung verdient^).
Anderseits war sie eines der galantesten und unzüchtigsten
Mädchen ihres Zeitalters. Sie wurde als uneheliche Tochter
des Lord Tyrawley, eines alten Roue, im Jahre 1731
geboren, wurde Schauspielerin am Covent Garden Theater
und starb 1788, nachdem sie vorher noch ihre mit Recht
berühmten „Memoiren“ verfasst hatte ^).
Archenholtz entwirft die folgende Schilderung von
der B eil a my :
„Ein Frauenzimmer dieser Art (vornehme Hetäre)
war die vor dreissig Jahren auf den Londoner Theatern
glänzende Schauspielerin Bellamy, die kürzlich ihr merk¬
würdiges und lehrreiches Leben selbst beschrieben hat,
und noch lebt. Sie war zwar nicht ganz eine Aspasia;,
allein vielleicht mehr wie eine Maintenon. Ihre Schönheit,
ihr Witz, ihr grosser Verstand, ihre Talente, ihre gross-
mütige Denkungsart und feinen Sitten rissen alles an
sich, was sich ihr nur näherte. Ihr Haus war der Sammel¬
platz grosser und verdienstvoller Männer in allen Fächern.,
Sie war eine vertraute Freundin von Young, Thomson,
Littleton, Garrick und Chesterfield. Staatsminister,
L „Die Geschlechtsausschweifungen unter den Völkern der
alten und neuen Welt u. s. w.“. Neue Auflage o. 0. u. J.
S. 137.
2) Vgl. Bd. I dieses Werkes, S. 76 und S. 104 — 105.
3) Vgl. P. Fitzgerald, „The Roinance of the Englisch
Stage‘‘, London 1874, Bd. T, S. 106; Archenholtz, „Annalen‘‘
Bd. I, S. 402; Walter Thornbury „Haunted London“ ed..
Walford, London 1880 S. 317 — 318.
142
Generale und Gesandten besuchten sie tägdich und nahmen
an ihrer Tafel Platz, wo der Geist so reichliche Nahrung
fand, und wo die auserlesensten Speisen und sinnreichen
Gespräche beständig die gesellschaftlichen Vergnügungen
verfeinerten. Sie nahm thätigen Antheil, sowohl an
Promotionen und Gnadenbezeugungen des Hofes als an
Parlaments wählen. Zwar war sie bei vielen weiblichen
Tugenden kein Muster der Sittlichkeit; denn sie hatte
immer einen begünstigten Liebhaber, mit dem sie lebte.
Allein so gross war die Macht ihrer ausserordentlichen
Vorzüge, und ihrer so oft erprobten höchst edlen Sinnesart,
dass selbst Damen vom ersten Bange und von strenger
Tugend, nicht allein mit diesem liebenswürdigen Frauen¬
zimmer vertraut umgingen, sondern auch ihren Töchtern
diesen Umgang zur Bildung ihres Verstandes und Herzens
gestatteten“ i).
In ihren Memoiren hat dieBellamy sich selbst
sehr treu und wahr geschildert. Man fühlt sich an den
Geist von SchlegePs „Lucinde“ erinnert, wenn man
Stellen wie die folgende liest, bei welcher die Verfasserin
ihre glühend erotische, aber dabei auch für geistige Ge¬
nüsse höchster Art empfängliche Natur offenbart: „Cette
soiree que je passai avec mylord, fut delicieuse: la nuit
^') Archenholtz „England*^ Bd. II, S. 255 — 256.
2) Am häufigsten ist die auch von mir benutzte französische
Übersetzung „Memoires de miss George Anne Bellamy, actrice
du theätre de Coyent-Garden“, trad. de Panglais, par Benoist
et Delamarre, Paris an VII (1799), 2 Bände — Neuausgabe
mit biographischer Notiz von Thiers, Paris 1824, 2 Bände. —
Als Ergänzung dazu: „An apology for tlie life of George
Anne Bellamy, actress, with her letters to S. Calcraft,
esq.“ London 1785, 5 Bände. — Vgl. die Analyse der „Memoiren“
bei Fit z g eral d „Romance of Englisch Stage“ Bd.I. S. 104— 105.
143
qui lui succMa fat un voluptueux delire. Dans un esprit
sensible aux charmes de la litterature, une conversation
savante donne toujours une espece d’extase; comme Circe,
eile desemprisonne räme, et la transporte dans les Champs-
Elysees“^).
Es ist von grossem psychologischem Interesse, dass
diese vielliehende und vielgeliebte Frau, die sogar mit dem
berühmten Fox ein Liebesverhältnis hatte ^), am Ende
auch zu der Erkenntniss kam, die keinem Lebemann
oder galanten Frau erspart bleibt: „Les jouissances que
la vie offre ä nos sens, ä de grands intervalles, sont souvent
perfides, presque toujours equivoques et jamais durables;
mais les peines sont süres, elles semblent plus
s’identifir avec notre exist en ce“ ^). Es ist schade,
dass dem grossen Philosophen des Pessimismus, der un¬
zählige Aussprüche dieser Art anführt, dieses durch Her¬
kunft aus solchem Munde doppelt bemerkenswerte Beispiel
entgangen ist.
Neben der Bellamy gelten Kitty Fisher und
Fanny Murray als die vollendetsten Hetären ihrer Zeit,
die man vielfach in Schriften jener Zeit zusammen erwähnt
findet^), die als ausserordentliche Schönheiten von den her-
Miss Bellamy „Me'moires“ Bd. IS. 161.
2) „Memoires“ Bd. I S. 260 u. ö.
3) ibidem Bd. 11. S. 27 — 28.
Z. B. in einer 1785 in Genf erschienenen Schrift „Les
Amours et les aventures du lord Fox“, wo am Schlüsse die
folgende bemerkenswerte Reflexion vorkommt: „Les femmes
qui, dans des siecles plus recule's, ont fait commerce de leur
vertu, peuvent-elles se comparer ä celles de nos jours? Les
Flora, les Lais, etc. ont ve'cu dans l’eclat et la magnificence;
encore laisserent-elles apres leur mort d’immenses richesses.
Flora, en mourant, a le'gue au Se'nat de Rome une somme
144
vorragendsten Zeitgenossen gefeiert wurden und an Geist,
verwegener Galanterie und Luxus miteinander wetteiferten.
Von Kitty Fisher berichtet Arche nholtz: „Eines
von diesen Mädchen, Namens Miss Fisher, die vor 25
Jahren glänzte, machte sich durch die eigene Art, womit
sie der Venus opferte, berühmt. Von der Natur in hohem
Grade mit Schönheit, Verstand, Witz und Munterkeit begabt,
war sie ein Gegenstand der Verehrung und der Begierden
aller derer, die den Hain von Amathunt allen andern
Lebensfreuden vorzogen. Die Priesterin kannte ihren
Wert und setzte daher die Gunstbezeugungen einer Nacht
auf 100 Guineen fest; dennoch fehlte es ihr nicht an
Verehrern, die durch die Grösse der Summe nicht ab¬
geschreckt wurden. Der verstorbene Herzog von York,
Bruder des jetzigen Königs, trat auch in die Reihe derselben.
Nach einer mit ihr durchwachten Nacht, gab er ihr eine
Banknote von 50 Pfund Sterling, weil er nicht mehr bei
sich hatte. Miss Fisher, beleidigt, verbat sich alle
ferneren Besuche von ihm, und, um ihre Verachtung für
ein Geschenk landkundig zu machen, schickte sie die
Banknote (die, wie bekannt, von ganz ausnehmend dünnem
Papier sind) sogleich zu einem Pastetenbäcker, der sie
in eine Pastete thun musste, und verzehrte sie sodann
beim Frühstücke.“^) Diese in etwas an die Geschichte
von der Perle der Kleopatra erinnernde Anekdote^)
considerable pour l’iDstitution d’une fete annuelle sous le nom
de Jeux Floraux, En Angleterre, une contemporaine de
Fanny Murray et de Kitty Fisher devint assez riche ,pour
se donner 30000 livres st. de reute.“
Archen ho Itz „England“ Bd. II S. 251 — 252.
2) Deshalb hat auch wohl Reynolds sie als „Kleopatra‘‘
gemalt. Vgl. Bd. I dieses Werkes S. 60.
145
entspricht ganz den übrigen Berichten über den ungemessenen
Stolz dieser „Flora von London“, wie man Kitty Fisher
auch nannte. Sie suchte ihre Liebhaber nur unter
Männern vornehmsten Standes, wie dies gelegentlich einer
Erkrankung besonders zu Tage kam, indem sich nicht
weniger als sechs Mitglieder des Hauses der Lords in die
Liste der theilnehmenden Besucher eintrugen. In ihrem
äusseren Auftreten suchte sie durch Luxus und Ver¬
schwendungssucht die adlige Gesellschaft noch zu über¬
treffen. Sie verschaffte sich z. B. zu dem enormen Preise
von 20 Guineen ein einziges Mal das Vergnügen, im
Winter frische Erdbeeren zu essen. Auch Hess sie sich
eines Tages, zum Erstaunen des Publikums, in ihrer
Theaterloge während der Vorstellung Thee serviren. Kurz
sie hatte Anlagen zu einer englischen Dubarry.^)
Fanny Murray, f 1770, war die Tochter eines
Musikers in Bath; sie war vermählt mit einem Mr. Ross.
Ihre Ruhmeszeit fällt in die Jahre 1735—1745. Horace
Walpole erwähnt sie in einem Briefe an Conway im
Jahre 1746 als eine „berühmte Schönheit“. Sie war u. a.
die Geliebte von John Spencer und Beau Nash. In
einer sehr fragwürdigen Weise wmrde ihr Name verewigt
durch die Rolle, welche der bekannte politische Agitator
und Schriftsteller John Wilkes sie in seiner obscönen
Satire „An Essay on Woman“ spielen lässt, indem er ihr
nicht nur diese Schrift widmete, sondern sie auch in
geschlechtlicher Thätigkeit darin darstellt.
0 „Tableau descriptif, moral, philosopbique et critique
de Londres en 1816“, Paris 1817, Bd. I S. 118.
Vgl. „Wilkes and the Essay on AVoinan“ in: Notes and
Queries Series No. 79, July 4, 1857, S. 1, No. 80, July 11,
S. 21 und No. 81, July 18, 185 u. S. 41. — Eine deutsche
10
146
Die Eolle, welche KittyFisher und F a n n y M u r r a y
in der vornehmen englischen Gesellschaft um die Mitte
des 18. Jahrhunderts spielten, beleuchtet in drastischer
Weise eine Anekdote aus dem Leben des Lordkanzlers
Hardwicke. Dieser durchstreifte eines Tages die
Nachbarschaft von Wimpole und sah ein sehr elegantes
Landhaus, das seine Aufmerksamkeit in einem solchen
Grade erregte, dass er den Eigentümer, Mr. Montagu,
Bruder des Lord Sandwich, um eine Besichtigung bat.
Der Besitzer führte ihn selbst durch die herrlich ausgestatteten
Räume, die eine Menge von schönen Gemälden enthielten,
die aber dem sehr wenig kunstverständigen Lord weder
ihrem Inhalt noch ihrem künstlerischen Wert nach bekannt
waren. Zuletzt zeigte Mr. Montagu auf zwei weibliche
Porträts, auf denen die Schönen mit all ihren natürlichen
Reizen dargestellt waren und bemerkte: „Diese Damen
müssen Sie ohne Zweifel kennen und erkennen, denn es
sind sehr treue Porträts.“ Als der Lord wieder seine
Unkenntnis bekannte, sagte Montagu: „Wie, wo und
in welcher Gesellschaft haben Sie denn gelebt, dass Sie
nicht einmalFanny Murray undKitty Fisher kennen?“^)
Noch mehrere andere durch Geist und Schönheit
ausgezeichnete Courtisanen glänzten in der vornehmen
Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, so z. B. die auch in
den „Serails de Londres“ und in anderen Hetären -Ver¬
zeichnissen öfter erwähnte Lucy Cooper, ferner die
Mrs. Harriet Errington, welche ihre zahlreichen meist
Schrift „Geschichte der berühmten Miss Fanny Murray“. Aus
dem Englischen, Nürnberg 1780, war mir nicht zugänglich;
ebensowenig das englische Original.
„Notes and Queries. Series“. 1857. No. 79, S. 1.
147
•dem Soldatenstand angeliörenden Geliebten nait dena Ge¬
schenke ihrer Locke zu beglücken pflegte/) Miss Pars o ns,
die Geliebte des Herzogs von Grafton.
Fast immer versammelten diese Priesterinnen der
Yenus ausser ihrem sie aushaltenden Galan eine grosse
Schaar von Anbetern um sich, die manchmal in ernster
nachhaltiger Liebe zu ihnen erglühten und von der
Eifersucht zu so verzweifelten Schritten getrieben wurden,
wie wir dafür in Miss Ray’s Ermordung durch den
Prediger Hackman ein so tragisches Beispiel haben,
welches nähere Erwähnung verdient.
James Hackman, Sohn eines Officiers und zuerst
■ebenfalls Officier, später Prediger, lernte bei einer Gesell-
■schaft in Lord Sandwich’s Haus in Minchinbroke Miss
Martha Ray kennen, die Tochter eines Handwerkers
in Holywell Street in London. Sie war mit 18 Jahren
die Maitresse von John Montag u, viertem Earl of
Band wich geworden, von dem sie dann mehrere Kinder
hatte. Sie war ein ungewöhnlich liebliches Mädchen,
•welches alle Welt bezauberte, durch ihre Schönheit und
Vergl. „The Memoirs of Mrs. Harriet Er-g-n, containing
■her amours, intrigues and tete-ä-tetes, with the colonel M-n^
■colonel T-l-n, captain Sm-th etc.“ London 1780 — 90, Auf dem
Titelbild ist die Heldin dargestellt, wie sie die Scheere hält,
mit der sie soeben ihre auf einem Stück Papier liegenden Haare
für ihre Galans abgeschnitten hat,
2) Memoirs of the amours, intrigues and adventures of
-Charles August du Fitz-Roy, duke of Grafton, with miss
Parsons“. London 1769; auch unter dem Titel: „Intrigues ä
la mode. Biographical memoirs of the Duke of Grafton
including some particulars in the life of the celebrated misg
Anna Bella Parsons“ London o. J. mit colorirtem Porträt
■der Parsons.
10*
]48
ihre herrliche Stimme, welche durch Giardini für die
Bühue ausgebildet worden war. Hack man verliebte
sich sofort leidenschaftlich in dieses aussergewöhnlich an¬
ziehende Mädchen und verfolgte sie mehrere Jahre un¬
aufhörlich mit Heiratsanträgen, die aber von ihr zurück¬
gewiesen wurden. Zuletzt schoss er ihr, als sie am 7.
April 1779, nach der Vorstellung von „Love in a Village“
das Covent Garden-Theater verliess, in einem Anfalle von
jäher Eifersucht eine Kugel durch den Kopf, die sie auf
der Stelle tötete, und richtete dann die Pistole gegen sich
selbst, ohne sich jedoch ernstlich zu verletzen. Die Sache
machte das allergrösste Aufsehen. Der Bericht darüber
erschien schon am folgenden Tage in allen Zeitungen
Londons. Ebenso schnell erfolgle die Sühne, indem
Hackman am 19. April 1779, 27 Jahre alt, am Galgen
von Tyburn endete. Miss Ray war 34 Jahre alt gewesen.^)
Auch die englische T h e a t e r w e It stellte ihr Contingent
zum Hetärenthum des 18. Jahrhunderts, und die Theater¬
damen erlaubten sich in sexueller Hinsicht die grössten
Freiheiten, die in den kleinen Städten und bei den auf
dem Lande von Ort zu Ort wandernden Schauspielertruppen
1) Vgl. „Dictionary of National Biography“ ed. Stephen u.
Lee, London 1890, Bd. 10,8.422—423; J. B. Jess e„George Selwya
and bis contein[)oraries“, London 1882, Bd. IV S. 59 — 65 (mit.
Bildnis der Ray von Dance auf S. 59). — Boswell beschreibt
im Leben Johnson’s die Hinrichtung Hackman’ s, den er
nach Tyburn begleitete. — Einen lictiven Briefwechsel zwischen
Hackman und Miss Ray veröffentlichte 1780 Sir Herbert
Croft unter dem Titel: ,,Love and Madness — a story too
true; in a Series of Letters, between parties whose names would
perhaps be mentioned were they less known or less lameuted'L
London 1780, 8^.
149
sich bis zur wirklichen, schamlosen Prostitution steigerte^).
Von der berühmten Sängerin Mrs. Billington (Druiy
Lane und Covent Garden) berichtet der Verfasser von
„London und Paris“: „Selten haben sich so viele Götter
und Göttinnen zur Verherrlichung eines einzigen Weibes
so geschwisterlich vereinigt und wechselseitig die Hand
geboten, als bei dieser musikalischen Pandora. Apollo
überschüttete sie mit allen Zaubermitteln der Tonkunst
und der theatralischen Declamation im überschwenglichen
Maasse; Bacchus schälte zehn seiner feistesten Mänaden
und Faunessen die Irischen, rundlichen Conturen ihrer
Gliedmassen ab, und knetete sie zu einer malerischen,
mit Rosen gefütterten Fleischniasse für seine treue
Dienerin; die Göttin von Cypern schickte ihr zum Lohn
für die Wolken von Weihrauch, den die gefällige Priesterin
ihr schon so lange auf geheimen Altären angezündet hatte
(die Billington sah königliche Prinzen, Herzöge und
Lords an ihrem Triumphwagen gespannt. Als sie zuerst
in Dublin ihre Zaubernetze ausspannte, fing sich selbst
der Herzog von Rutland, Vicekönig von Irland, darin.
Mit dem Manne, dessen Namen sie mit ihrem sächsischen
Geburtsnamen Weichsel vertauschte, hat sie sich schon
längst zu gegenseitiger Toleranz abgefunden. „Her obliging
temper cannot resist the importunities of afflicted swains“
sagt der Verfasser der geheimen Theaterchronik: „Secret
History of the Green Room“, London, 1795, 2 Bände,
Bd. H S. 73, wo Liebhaber auch ihre Rollen in den
Gardinenscenen verzeichnet finden), die jüngste ihrer
Kammerzofen und Grazien zu, um die prallen, wider-
1) Vgl. darüber „A Secret History of the Green Room“
(by Hazzlewood) London 1795 ßd. I S. 318.
150
spenstig aufquellenden Glieder in schmückende Fesseln
zu legen, Hals und Armgelenke mit orientalischen Perlen¬
schnuren und Topasengehängen, Finger und Hände mit
brillantenen Ringen, und jeden Überfluss der Taille mit
elastischen Gürteln zu bändigen; Minerva, die Schutzgöttin
der bildenden Künste, Hess sie von hundert Malern und
Kupferstechern abkonterfeien. (Ihr Bild war während des
letzten Winters in kleinen und grossen Kupferstichen, in
Aquatinta und schwarzer Kunst, die Lieblingin in den
Londoner Kupferstichläden, wurde in zwei Sammlungen
ihrer Favorit-Arien, wovon die eine selbst den lobenden
Titel Billington führte („The Billington, or new pocket
harmonist for 1802“) als Titelkupfer vorgestochen und
erhielt selbst im Pantheon -Geschmack, in der Leipziger
eleganten Zeitung eine Nische). Und Merkur endlich führt
ihr den Gott des Reichthums ins Haus, den Gott Plutus,
ohne zu besorgen, dass der blinde Gott nicht auch noch
im Finstern dies ziemlich fühlbare Schätzchen ertappen
werde. “B
/
Auf eine sehr bewegte Laufbahn blickte eine andere
galante Heldin der Bühne zurück, Mrs. Abington (Fanny
Bar ton). Tochter eines Soldaten war sie zuerst Blumen¬
mädchen (die „Nosegay Fan“), hatte viele Liebschaften,
die zu der unausbleiblichen venerischen Infektion führten,
und wurde dann von der Demimondäne und Kupplerin
1) Böttiger „London und Paris“ Weimar 1805 Bd. IX.
S. 73 — 75. Vgl. auch die „Secret History of the Green Room“
Bd. II S. 67 — 76, wo ihre Liebschaft mit dem Impresario Da ly
geschildert und erzählt wird, wie ihr Gatte sie in flagranti
dabei ertappte. Ferner wird über ihre Liaisons mit dem
Herzog Yon Rutland, dem alten Mr. Morgan u. A. da¬
selbst berichtet.
151
Sali Parker, die in Spring Gardens zu jener Zeit ein
fashionables Bordell hielt, in die vornehme Welt einge¬
führt. Hier wurde Miss Bar ton die Freundin der be¬
rüchtigten Bordellbesitzerin und Courtisane Charlotte
Hayes und machte sich als solche wohl bekannt „at the
genteel houses about Covent Garden.“ Im Jahre 1752
trat sie zuerst im Haymarket-Theater als „Miranda“ in
„The Busy Body“ auf, mit grossem Erfolge, verheiratete
sich mit dem Kapellmeister Abington, mit dem man
sie schon vorher im zärtlichsten tete-ä-tete überrascht
hatte. Ein sehr tragikomischer Zwischenfall ereignete
sich an ihrem Hochzeitstage oder vielmehr in der Hoch¬
zeitsnacht. Kurz vor ihrer Heirat hatte sie eine Liaison
mit einem reichen und verschwenderischen Kreolen an¬
geknüpft. Zufällig kam dieser von einer Keise gerade
am Hochzeitsabend der Abington nach London zurück
und beschloss, einige glückliche Stunden mit seiner Ge¬
liebten zu verleben. Um Mitternacht klopfte er an ihre
Thüre, erhielt aber auf seine Frage nach Miss Bar ton
von dem Dienstmädchen den Bescheid, dass diese sich in
eine Mrs. Abington verwandelt habe und augenblicklich
mit ihrem Gemahl der Ruhe pflege. Der unglückliche
Kreole machte einen Höllenlärm und bestand darauf, die
Treulose zu sprechen. Sie erschien endlich, notdürftig
bekleidet, versicherte ihm, dass das Dienstmädchen ihm
die Wahrheit gesagt habe, dass sie aber nichtsdestoweniger
ihn fortan jeden Abend besuchen und die ganze Nacht
bei ihm bleiben würde ! Er aber bedachte sie mit einigen
kraftvollen Epitheta und verliess sie für immer. Ihr
Gatte musste sich schon bald von ihr trennen, als sie in
Irland zwar Lorbeeren des Ruhmes, aber noch mehr der
Liebe sammelte, und auch durch ihre schamlose Tracht,
152
indem sie den Busen völlig entblösst den lüsternen Blicken
darbot, unliebsames Aufsehen erregte.^)
Wie Mrs. iVbington war auch die Schauspielerin
Mrs. Edwards früher eine Prostituierte in einem Covent-
garden-Bordell gewesen und von dort direkt zur Bühne
übergegangen.*'^)
Die Schauspielerin Mrs. Williams von Drury Lane
war eine ständige Besucherin der fashionablen Freuden¬
häuser in Duke und Berkley Street, wo ihre Privatein¬
nahmen sehr beträchtliche waren^), Mrs. Curtis, ein
sehr „lasterhaftes“ Weib, die Schwester der berühmten
Schauspielerin Si ddons, hielt in Dr. Gr ah am ’s berüch¬
tigtem „Tempel der Gesundheit“ Vorlesungen über gewisse
Themata, welche zu nennen alle „anständigen Menschen
erröten müssen.“^) Mrs. HaiTowe vom Covent Garden-
Theater war durch ihre zahlreichen Liebschaften mit
Greisen verrufen, litt also offenbar an dem Zustande, den
1) „Secret History of the Green Room“ ßd. I, S. 41 — 58.
Nach Baker war Fanny Abington der capriciöse Quälgeist
Garrick’s. „Like all theatrical managers Garrick was a
martyr to the ladies of his Company, but F an n y Ab in gt o n
was the greatest plague of all, the most capricious and unrea-
sonable. How full of inischief and espiegierie is the face
that still peeps at you out of Sir Joshua’s canvas; it is Miss
Pr u e herseif, just as C o n gr e t e conceived her.“ Die Abing¬
ton gehörte zu den spielwütigsten Damen ihrer Zeit und
verbrachte oft ganze Nächte am Spieltische. Trotz ihres durch
Liebe und Spiel aufgeregten Lebens erreichte sie das hohe
Alter von 84 Jahren. Vgl. H. Bar ton Baker „Stories of the
Streets of London“ London 1894, S. 312 — 313; Thornbury
„Haunted London“ S. 318.
2) ibidem Bd. I S. 248.
3) ibidem ßd. I. S. 353.
4) ibidem Bd. II. S. 18.
153
V. Krafft-Ebing neuerdings als „Gerontopbilie“ be¬
zeichnet.^)
Schon dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, der
galanten Zeit der Eegentschaft und Regierung Georgs IV,
gehört die Schauspielerin und Courtisane Harriet Wilson
an, die „englische Ninon“, die bereits mit 15 Jahren die
Maitresse des Lord Craven war, seitdem unzählige Lieb¬
schaften mit hochgestellten Persönlichkeiten wie z. B. mit
dem Herzog von Wellington , dem Herzog von Argyle
u. A. hatte und ihre ausserordentlich abwechslungsreiche
Hetären-Laufbahn in ihren berühmten „Memoiren“ be¬
schrieben hat, die ein sehr anschauliches Bild von dem
frivolen Treiben der Lebewelt unter Georg IV. liefern.^)
Unter der victorianischen Aera hat die früliere sexuelle
Freiheit der Schauspielerinnen aufgehört, welche übrigens
von der berühmtesten Schauspielerin des 18. Jahrhunderts,
9 ibidem Bd. II. S. 262 — 264.
9 „Memoirs of the extraordinary life and adventures of
Harriet Wilson, the celebrated Courtezaii and Deinilioop
of the time of George IVk, interspersed with curious and
amatory anecdotes of distinguished persons, particulary the
Duke of Wellington, Lord Byron, Duke of Ar gy 1 e etc.“
London s. a., oft wiederholt. — Französische Uebersetziing :
„Me'moires d’IIenriette Wilson etc “ Paris 1825, 8^ 6 Bände. —
Deutsche Uebersetziing: „Denkwürdigkeiten der Miss Henriette
Wilson, Englands Ninon.“ Aus d. Englisclien, Stuttgart 1825,
8°, 3 Bände. — In Amerika erschien „Harriet Wilson; or,
Memoirs of a Wonian of Pleasure,“ wAlil ein Neudruck oder
Auszug des Originalwerkes. — Im eisten Kapitel des zweiten
Bandes von „The Amours, Adventures, and lutrigues of Tom
Johnson“ (London ca. 1870, auch unter dem Titel „The gen¬
uine and remarkable Amours of the celebrated author Peter
Aretin“) erzählt der Held ein Abenteuer, welches er mit „der
berühmten Harriet Wilson“ hatte.
154
Mrs. Siddons (1755 — 1831) verurteilt wurde, der vollen¬
detsten Darstellerin der Lady Macbeth, die Georg III.
durch ihr bewunderungswürdiges Spiel zu Thränen rührte,
von Samuel Johnson ehrerbietigen Handkuss empfing,
dem Advokaten Erskine als Vorbild der Beredsamkeit
diente und endlich von Sir Joshua Keynolds auf dem
bekannten Gemälde als „tragische Muse“ verewigt wurde. i)
Ja, die Unnahbarkeit mancher Schauspielerinnen war so
gross, dass leidenschaftliche Liebe zu verzweifelten Mitteln
griff, wie denn z. B. auf die schöne Tragödin Miss Kelly
zwei Mal von zurückgewiesenen Liebhabern vom Zuschauer¬
raum aus geschossen wurde. In der heutigen englischen
Gesellschaft führen die Schauspielerinnen ein höchst ehr¬
bares Familienleben. Nur die ganz gering besoldeten
Choristinnen und Balleteusen sind feil. Im übrigen sind
die schönsten Theaterdamen meist „de simples et bonnes
bourgeoises.“^)
Gelegenheit, die Bekanntschaft der vornehmen He¬
tären zu machen, gab es ausser in den Theatern, Eanelagh,
Vauxhall, auf den Maskeraden und Promenaden, besonders
in den feineren Conditoreien wie bei Hickson in
Piccadilly, wo es wunderbare Torten gab, die man im
Stehen ass, dabei die Blicke über die Gallerie hier ver¬
sammelter Schönheiten schweifen lassend und die innere
Hitze bisweilen an dem seit 1810 Mode gewordenen Soda-
Wasser kühlend.^) Ebenso waren die sogenannten „Alpha-
Cottages,“ die „petites maisons“ der vornehmen englischen
Gesellschaft, welche zwischen Paddington und Eegent’s
0 Thornbury „Haunted London“ S. 319 — 320.
2) ibidem S. 336.
Remo „La vie galante en Angleterre“ S. 179. Vgl. auch
„Ans der Londoner Gesellschaft“ Leipzig 1885 S. 309.
4) Jouy „L’hermite de Londres“ Bd. I. S. 336.
155
Park gelegen waren, Eendez-vous-Orte für galante Aben¬
teuer.^)
Die allergewölinlichste Gelegenheit aber, ihre Keize
zur Schau zu stellen, boten den galanten Damen des 18.
und des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts die Abend¬
gesellschaften oder Eouts, diese „Arena der Fashion in
den höheren Kreisen“, wie der Verfasser der „Döings in
London“ sagt, mit ihrer üeberfüllung und Hitze, mit
ihren Liebeleien und ihrer Spielwuth. „Warum giebt es
so viele Weiber hier?“ fragt Peregrine seinen Mentor,
worauf dieser mit den Worten Cooly’s in seinem „Pride
shall have a Fall“ antwortet:
„What are your slupless midnights for, your routs,
That turn your skin to parchment? Why, for man!
What are your cobweb rohes, that spite of frost,
Show neck and knee to winter ? Why, for man !
What are your harps, pianos, rimpering songs,
Languish’d to lutes? All for the monster, man!
What are your rouge, your je weis, walzes, wigs,
Your scoldings, scribblings, eatings, drinking^ for?
Your morn, noon, night? For man! ay, —
Man, man, man!“^)
Anschaulicher kann der wahre Zweck dieser Eouts
nicht geschildert werden als es in diesen Versen geschieht.
Nach Hüttner allerdings war das Spiel die Hauptsache.
Aber wie ich schon in Bd. I (S. 404) erwähnte, gehören
Liebe und Spiel zusammen.
0 ibidem Bd. II. S. 162.
„Döings in London; or Day and Niglit Scenes of the
Frauds, Frohes, Manners and Depravities of the metropolis“
London o. J. S. 262.
156
Hüttner schildert einen „Rout“ des 18. Jalirhunderts
folgendermassen :
„Um eine recht zahlreiche Gesellschaft dieser Art zu-
sammenzubringen, sendet die Frau vom Hause gewöhnlich
Einladungsbillete 14 Tage, oder 3 Wochen vorher an die
Personen, welche sie zu sehen wünscht; und je grösser
die Zahl ihrer Gäste ist, desto mehr findet sich ihr Stolz
geschmeichelt, desto glücklicher scheint sie zu sein . . .
Lassen Sie uns etwas näher treten , und die bunte Scene
genauer betrachten; ich wette, Sie werden das arme Weib,
das wochenlang sich darauf vorbereitet und gefreut hat,
herzlich bedauern. Zwei, drei, auch mehr Visitenzimmer
stehen zum Empfiinge der Geladenen offen. Vor zehn Uhr
des Abends erscheint keiner der Geladenen, und um 12
oder 1 Uhr fangen die Zimmer gewöhnlich erst an sich
zu füllen. Eine Menge Menschen werden von den Bedienten,
die auf den Treppen und am Eingänge der Zimmer stehen,
um die Einlassbillete zu empfangen, hinter einander mit
lautschreiender Stimme angekündigt, schweben in die Zimmer,
und setzen sich an einen, oder den anderen der zahlreichen
Spieltische, während die Frau vom Hause aus einem Zimmer
in das andere fliegt, um ihre Gäste zu bewillkommnen und
sich allen zu zeigen. Eine wahre herkulische Arbeit. Zwei
oder dreihundert, ja oft eine beträchtlich grössere Anzahl
von Gästen finden sich nach und nach ein und scheinen
sich wenig um die erschöpfte Wirtin zu bekümmern. Sie
steht, sobald das Spiel seinen Anfang genommen hat, mitten
im Gewühle, als ob sie von jedermann verlassen wäre, und
scheint keinen andern Sinn, als ihr Gehör zu haben. Ihre
ganze Unterhaltung besteht im Anhören der Namen, die
unaufhörlich die Treppe herauf schallen, in Verneigungen
gegen die Gestalten, die wie Schatten bei ihr vorüber
157
schweben, und in einigen lächelnden Blicken, die sie Ge¬
legenheit hat, ihren näheren Bekannten von Zeit zu Zeit
zuzuwerfen. Doch lassen Sie uns einen Blick auf die Reihen
von dichtbesetzten Spieltischen werfen, die hier stehen. Völlige
Gleich neit herrscht an diesen Altären der Thorheit. Alter,
Rang, Charakter und Geschlecht machen nicht den ge¬
ringsten Unterschied. Alte runzlige Damen sind hier die
Nebenbuhlerinnen blühender Mädchen. Die Karten machen
alle einander gleich. Whist, Casino, Faro, Rouge und
Noir etc. verschliessen die Augen der Männer gegen den
Anblick der halbnackten Grazien, die um sie herumschweben,
und machen das geschwätzigste Weib stumm wie eine
Statue. Die schönsten Gesichter, auf denen noch kurz
vorher jeder Liebreiz thronte, verwandeln sich in Furien-
Physiognomien. Hier wird eine Rosenwange auf einmal
lilienweiss. Dort scheint Fieberfrost eine greise Matrone
zu schütteln, obgleich die Luft in den Zimmern tötlich
warm ist, als ob ein Sirocco wehte. Wilde Leiden¬
schaften schaffen Engelgestalten zu Teufeln um, und
Schadenfreude, Betrug, Angst, Verzweiflung, rasender
Leichtsinn und grinsende Habsucht scheinen hier um die
Oberherrschaft zu kämpfen. Man wird lebhaft an die
Hölle, wie sie unsere alten guten Prediger zu beschreiben
pflegten, erinnert. Gegen Anbruch des Tages werden
endlich die Zimmer wieder leer, und die Gesellschaft eilt
nach Hause, der eine mit vor Freude hüpfendem Herzen,
der andere mit Gedanken an Gift, Dolch, Strick oder
Pistole.“
J. C. Hüttner „Sittengemälde von London“ Gotha,
1801 S. 127 — 130.
1
158
Aus dem 19. Jahrhundert haben Jo uy^) und O.v. Kosen¬
berg uns ausführliche Darstellungen des Treibens auf
den Routs gegeben. Besonders v. Rosenberg schildert
sehr drastisch und sarkastisch das modische, fashionable
Gebahren der jungen Leute bei solcher Gelegenheit, die
Koketterie der Schönen und die cynische Blasiertheit
jugendlicher Greise.
„Um einen mit Kupferstichen und Carricaturen
(Einige Buch- und Kupferstichhändler als Ackermann
etc. halten zu diesem Zwecke eine grosse Sammlung
Carricaturen, Handzeichnungen, Skizzen, Kupferstiche etc.
nur, um sie für solche routs auszuleihen. Man zahlt für
den Abend 3, 4 — 5 Guineen) beladenen Tisch sitzen
mehrere Herren und Damen und disputieren über Licht
und Schatten, Haltung und Farbengebung, über Rubens,
Raphael, van Dyk etc., überhaupt sind Haltung und
Farbengebung wohl zwei Sonnen der Aufmerksamkeit aus¬
gezeichneter Talente, welche englische Damen vor dem
Spiegel ausbilden; denn die engen Schnürleiber halten
sie gehörig aufrecht und die feinste chinesische Schminke
giebt ihnen Farbe genug, um bei Kerzenlicht nicht von
ihren Mitschwestern in den Schatten gestellt zu werden.
Dort wühlt eine unlängst aus der Schule entlassene No¬
vize unter zierlich gebundenen Bänden, und nimmt den
Augenblick wahr, in welchem Mama abwesend ist, um
eine oder die andere verbotene Stelle aus Byron ’s Don
Juan zu lesen. Hier liegt ein wohlgewachsnner, aber
übelgezogener Halbgott in hohem Kragen und steifer
Halsbinde der Länge nach auf einer Ottomane und lorg-
nettiert frech die um ihn stehenden Huldgestalten, welche,
1) J o u y a. a. 0. Bd. I S. 145 ff.
2) Otto v. Rosenberg „Bilder aus London“ Leipzig
1834 S. 72—79.
159
vor Müdigkeit fast ohnnaächtig, die halbe Welt für den
vierten Teil eines Stuhles geben würden. Alle Mittel,
welche Schönheit und ein beredtes Auge erfinden können,
werden aufgeboten, diesen liegenden Adonis aus der
Fassung oder vielmehr von dem so bequemen Platze zu
bringen, doch vergebens. Er bleibt kalt — ■ und liegen!“
Das ist eine ganz gute Charakteristik des britischen
Don Juan, der im High Life des 18. Jahrhunderts und
der dazu gehörigen Zeit Georgs IV. eine sehr hervor¬
stechende, aber keineswegs schöne Rolle spielt. Das Stu¬
dium des britischen Don Juanismus gewährt aber höchst
interessante psychologische Einblicke in Charakter und
Eigenart der englischen Lebemänner, die für den fran¬
zösischen und deutschen Roman des 1 9. Jahrhunderts vor¬
bildlich geworden sind.
Ein Hauptcharakterzug der britischen Don Juans, der
sie durchweg von den Wüstlingen der romanischen und
der anderen germanischen Länder unterscheidet, ist die
kalte, eherne Ruhe, mit der sie dem Lebensgenüsse
fröhnen, der ihnen viel weniger eine Sache der Leiden¬
schaft als des Stolzes und der Befriedigung ihres Macht¬
bewusstseins ist. Den französischen, den italienischen Don
Juan treibt eine glühende Sinnlichkeit v(m Eroberung zu
Eroberung. Das ist das Hauptmotiv ihrer Handlungen
und ihrer Lebensweise. Der englische Don Juan verführt
aus Princip, des Experimentes halber, er treibt die Liebe
als Sport. Die Sinnlichkeit spielt erst in zweiter Linie
eine Rolle und mitten im Genüsse blickt die Herzenskälte
auf eine schreckliche Weise durch.
1) Queensberry schreibt 17G6 au Selwyn: „Bully
(d. h. Lord Eolingbroke) kommt wieder in die Welt und
schwört, dass er irgend ein unschuldiges Mädchen Yerfüliren
will. Ich zweifle nicht darao, dass er es thut.“ Vgl. Jesse
„George Selwyn“ Bd. II S. 66.
160
Das ist der der Typus des Lovelace,^)
den Ricliardson mit unvergleicliliclier Meisterschaft
in seiner „Clarissa Harlowe“ gezeichnet hat. Von dieser
Verkörperung des britischen Don Juanismus sagt Tai ne:
„Welcher Charakter! Wie sehr englisch! Wie ver¬
schieden von dem Don Juan Mozarts oder Moliere’s ! Un¬
beugsamer Stolz, das Streben, Andere zu bezwingen, ein
herausfordernder Kampfessinn, das Bedürfnis zu tri¬
umphieren, beherrschen ihn zunächst; erst dann kommt
die Sinnlichkeit. Er verschont ein junges, unschuldiges
Mädchen, weil er weiss, dass sie leicht zu erobern ist,
und weil die Grossmutter ihn bittet, es nicht zu verführen.
Sein Wahlspruch ist, die Stolzen zu demüthigen. „Ich
liebe die Opposition,“ schreibt er in einem seiner Briefe.
Im Grunde ist Stolz, unendlicher, unersättlicher, un¬
sinniger Stolz die erste, die einzige Triebfeder seines
ganzen Seins. Er gesteht irgendwo, dass er sich dem
Caesar ebenbürtig glaubt und dass er aus blosser Laune
sich zu privaten Eroberungen erniedrigt. „Ich will ver¬
dammt sein, wenn ich die vornehmste Prinzessin von der
Welt heirate, sobald ich weiss oder nur vermute, dass sie
bei ihrer Wahl einen Augenblick zwischen mir oder einem
Kaiser geschwankt hat.“ Man findet ihn als einen
lustigen und brillanten Plauderer; aber diese Ausgelassen-
Richard Lovelace war übrigens eine historische
Persönlichkeit, ein Dichter des 17. Jahrhunderts, der im Jahre
1658 in grösster Armut in der Gnnpowder Alley in London
starb und am Westende von St. Bride’s Church seine Ruhestätte
fand. Er war ein iMann von ausserordentlicher Schönheit und
Liebenswürdigkeit, dabei von grösster Ehrenhaftigkeit, und
hatte mit dem Lovelace des späteren Romans nur das gemein,
dass er von den Frauen vergöttert wurde. Vgl. J. H. Jesse
„London and its celebrities“ London 1850 Bd. I, S. 438 — 439.
161
heit natürlichen Humors ist nur äusserlich; er ist roh
und ungesittet, er scherzt wie ein Henker mit kalter
Grausamkeit über das Böse, das er gethan hat oder thun
will. . . Man muss sagen, dass in diesem Lande die
Lebemänner jener Zeit das menschliche Fleisch auf deu
Schindanger warfen. Irgend ein vornehmer Freund von
Lovelace entführt ein junges, unschuldiges Mädchen,
macht sie betrunken, bringt die Nacht mit ihr in einem
öffentlichen Hause zu,^) lässt sie dort als Bezahlung für
die Zeche und reibt sich ruhig die Hände, als er nach
vierzehn Tagen erfährt, dass man sie ins Gefängnis ge¬
worfen hat, wo sie an Wahnsinn gestorben ist. In Frank¬
reich waren die Wüstlinge nur leichtsinnige Schelme,,
hier waren sie gemeine Schurken; Büberei vergiftete bei
ihnen die Liebe. Lovelace hasst Clarissa noch mehr als-
er sie liebt. “^)
Nicht viel besser macht es im „Midnight Spy“ (S. 62)
der Don Juan BamweH, der Sohn eines Apothekers in Red.
Lion-Square, der systematisch junge Mädchen verführte und
sie dann seinen Freunden zuführte. So hatte er allein eine
ganze Schaar von Prostituirten geschaffen.
2) H. Taine a. a. 0. Bd. II, S. 406 — 407, Interessant ist
auch das Urteil Mercier’s über Richardson’s Lovelace:
„Les heros du vice sont pre'sente's avec de si brillantes Coul¬
eurs dans tout le cours de l’ouvrage], ils re'unissent tant
d’avantages, ils ont des succes si flatteurs qu’ils interessent
vivement. Les auteurs leur pretent des plaisanteries sur la.
vertu qui la rendent ridicule; ils echauffent par leurs peintures
Pimagination, enüamment les sens et remplissent les personnes
les plus vertueuses d’ide'es romanesques qu’elles cherchent ä
reallser! Les jeunes gens, e'pris des rares qnalites de Lovelace
et de ses pareils, sont plus seduits par l’eclat de ses succes,.
qu’ils ne sont effrayes ä l’aspect de sa fin tragique.
11
162
Wenn man hört, dass im 18. Jahrhundert ein un¬
verheirateter junger Mann mit 2000 Pfund Sterling Ein¬
künften davon 1800 für seine Vergnügungen verwendete,
worunter die Mädchen der „erste und letzte Artikel“ sind,i)
dann wird man sich nicht über das wundern, was Lich¬
te nb erg von der Beschäftigung eines solchen „Eake“
sagt.
„Der eigentliche Bake trinkt, spielt, h..t, spricht
von galanten Pillen und Bougies, wie unser einer von
candirtem Anis und Gerstenzucker ; macht aus Nacht
Tag und aus Tag Nacht. Daher ein ewiger Oftensivkrieg
mit Gassenlaternen und seine Activ- und Passivprügelei
mit der Wache; ruiniert unschuldige Geschöpfe, die ihn
Les plus grands scelerats eu galanterie exciteut de meme
uü vif inte'ret. Ou ne voit pas les malheurs de leurs victiines.
L’e'clat de l’entreprise, des difficultes de la conquete, Tliabilete
du seducteur frappent seul l’esprit du lecteur.“ Mercier de
Compiegiie „Manuel des Boudoirs“ (Brüsseler Neudruck), S.
228 — 229. Vortreffliche Nachahmungen des Lovelace-Typus
findet man in einem französischen Roman von Cuisin „Le
Bätard de Lovelace etc.“ Paris 1806, 4 Bände, indem der Held
Falselace zwar „doue de la plus gründe perversite“ ist, aber
noch von der Marquise Dolerie in „galanterie corruptive“
übertroffen wird. — Vorzüglich wird auch die Herzenskälte
eines englischen Don Juan in einer deutschen Schrift aus dem
bekannten Verlags-Bureau in Altona (1874, 3 Bändchen) mit
dem Titel „Liebesnächte. Geheimnisse der Tausend und Einen
Nacht einer schönen Frau“ (obwohl weder von Liebesnächten
noch gar von 1001 solcher das Geringste vorkommt) in der
Person des Lord Brougham geschildert, der seine Liebschaften
alphabetisch geordnet und aufs Papier gebracht hat, und
durchweg als „Eiszapfen“ ujid als Mann mit dem „kalten,
eisernen Gesicht“ figurirt.
^) Archenholtz „England“ Bd. 11, S. 266.
163
Hiebten, und schiesst sich mit Leuten, deren Ehre er ge¬
kränkt hat; wirft überall Geld und Geldeswert weg, eigenes
^nd fremdes durcheinander, und nicht selten sich selbst
'hinterdrein, und in all diesem sucht er eine Ehre.“^)
Gewöhnlich stand ein solcher vornehmer Lebemann
-gegen Mittag, ja oft erst um 3 Uhr Nachmittags auf,
frühstückte, begab sich dann auf die Promenade oder zu
•seinem ßeitstall, dinierte mit einigen Freunden um 8 Uhr,
■worauf er bis 1 1 Uhr mit ihnen zechte, begab sich sodann
nach Vauxhall, um dort weitere 20 Pfund für schlechten
Wein auszugeben und stattete zum Schluss einem oder
mehreren Bordellen seinen Besuch ab, um gegen 4 Uhr
früh nach Hause zurückzukehren.
Diese abendlichen Bordellbesuche gehörten zum guten
Ton. Wir treffen dort alle die berühmten Lebemänner
•des 18. Jahrhunderts an, einen Foote, Selwyn,
•George Alexander Stevens, Lord Pembroke,
'Gilly Williams u. A.
Gay hat in „The Beggar’s Opera“ in der Person
•des Macheath einen solchen Elegant parodiert, der ein halbes
Dutzend Frauen, ein Dutzend Kinder hat, die Bordelle
‘besucht, liebenswürdig gegen die Schönen, die er dort an-
frifft, ist, ringsherum elegante Verbeugungen und für jede
•eine Artigkeit bereit hat:
„Mistress Slammekin! So ungezwungen und anmutig
wie immer! Ihr feinen Damen alle, die Ihr Eure Reize
»kennt, liebt das Neglige. . . Wenn eine von den Damen
■ein Gläschen wünscht, so wird sie hoffentlich so gütig
0 L i c h t e n b e r g ’ s Erklärungen der H o g a r t h ’ sehen
'Kupferstiche herausgeg. von Kotten kamp, Stuttgart 1882,
:S. 224 (zum ersten Blatt von „The Rake’s Progress.“)
-) Jouy a. a. O. Bd. I, S. 330 — 331.
11*
164
sein, es zu bestellen. — Ich trinke nie starke Likörey
ausgenommen ich habe die Kolik. — Gerade die Ent¬
schuldigung der vornehmen Damen! eine Dame vom Stande-
hat immer die Kolik, “i)
Eine auffallende Erscheinung in der englischen Lebe¬
welt war und ist die Häufigkeit des Selbstmordes.
Schon Montesquieu war dies aufgefallen. Ar che n-
holtz ist ganz erstaunt über die Häufigkeit der Selbst¬
morde unter den Londoner Wüstlingen. „In anderen
Ländern sind die Beispiele höchst selten, dass junge Leute-
von Vermögen und Ansehen, ja mit grossen Keichtümern
beglückt, des Lebens satt werden. Dies ist in England
nichts Ungewöhnliches, wo bei der grossen Freiheit, alle-
Leute zu befriedigen, ohne dass sich, wie in Paris, ein
Polizeilieutenant darein mischt, die Nerven dieser Wollüst¬
linge abgespannt werden, und sodann die Sättigung ein-
tritt, die endlich zu tragischen Scenen führt.“ Auch
V. Schütz macht weniger das Klima und die Ernährungs¬
weise als die Uebersättigung, die tiefe Melancholie, die
aus der Enttäuschung über die Nichtigung aller Sinnen¬
genüsse entspringt, für diese Erscheinung verantwortlich*
„Der Luxus ist, wie b3kannt, in London ausserordentlich,,
und der Jüngling, der auf solche Art in immerwährendem
Taumel seiner Leidenschaften herumgeschwärmt, und die-
Jahre des Mannes erlangt hat, ist dann selten geschickt,
die Widerwärtigkeiten des Lebens zu erdulden, die oft die
Folgen seiner jugendlichen Thorheiten und Ausschweifungen
sind, und so ist es also nicht zu bewundern, wenn er
Citirt nach Tai ne a. a. 0. Bd. II. S. 207. — Kolik ist
ein bei Prostituierten sehr häutiges Leiden.
2) Taine a. a. 0. Hd. II. S. 203.
3) Archenholtz „England“ ßd. III. S. 128.
165
seinen unangenehmen Gefühlen ein Ende zu machen sucht.“
Sicherlich spielt aber auch die hypochondrische Anlage,
das Düstere, Schwere im englischen Charakter eine grosse
Rolle unter den Ursachen dieser Selbstmorde, die sich,
wie Rosenberg angiebt, besonders im November, dem
berüchtigten Nebelmonat, häufen. Nicht selten ge¬
schahen diese Selbstmorde direkt im Bordell! So begab
sich z. B. ein Sohn des Lord Milton in ein fashionables
Bordell, liess sich zwölf der schönsten Freudenmädchen
kommen, denen er alles, w^as sie wünschten, aufzutischen
befahl. Hierauf wurden die Thüren verschlossen. Sie
mussten sich entkleiden und ihn in dieser Nymphentracht
durch wollüstige Stellungen und Tänze einige Stunden
■ergötzen. Darauf beschenkte er sie reichlich und erschoss
sich ^).
In den 1874 erschienenen „Liebesnächten“ wird in
•der Person des Lord Brougham ein solcher des Lebens
■ überdrüssiger englischer Lebemann sehr naturgetreu ge¬
schildert. Er sagt zu seiner letzten Geliebten, der schönen
Narwa: „Diese Welt ist öde. Hat man die Länder, die
Menschen, die Kunstwerke, hat man Alles gesehen, dann
bleibt uns nur noch die Unterwelt oder der Himmel übrig,
das heisst der Tod. Auf das Eine bin ich nur noch neu¬
gierig, was man für ein Gefühl hat, wenn man tot ist . . .
Gemessen ist ein sehr zweideutiger Begriff. Genuss ge¬
währt nur die stete Unbefriedigung, die Sehnsucht nach
Genuss — also eigentlich ist der Genuss im Momente
•des Genusses schon tot“. Dieser philosophische Lebemann
1) V. Schütz a. a. 0. S. ]71 — 172.
2) Y. Rosenberg a. a. 0. S. 80.
Archenholtz „England“ ßd. III S. 131 — 132.
166
hat sich für das letzte Jahr seines Lebens — es ist das-
zweiundvierzigste — nur noch einen einzigen Genuss auf-
hewahrt, das ist die — platonische Liebe. Freilich ver¬
wandelt sich diese bald in eine sehr irdische, und nach,
einem Jahre schreitet Brougham zum letzten Genüsse. Er
vergiftet sich vor den Augen seiner Maitresse mit Cyankali.
Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
war unter den englischen Lebemännern keine mehr durch.
Geist, Witz, Humor, fasliionables Wesen, Liebe zum Sport
und zu allen Lebemannsfreuden hervorstechende Persön¬
lichkeit als George Selwyn, der in den Correspondenzen,.
Memoiren, galanten Schriften und Tagesblättern jener Zeit
uns überall entgegentritt und dessen eigene hinterlassene
Papiere von einem Kenner wie Thackeray als die treueste^
Schilderung der Zeit bezeichnet werden ^).
George Augustus Selvvyn wurde den 11. August
1719 in Mahon als Sohn eines vornehmen Landedelmannes¬
geboren und zusammen mit dem Dichter Gray und
Horace Walpole in Eton erzogen. Nachdem ihm 1751
nach einer in Müssiggang verbrachten Jugend durch den
1) „Wenn wir Selwyns Briefe lesen, oder Reynolds-
herrliche Illustrationen jener pomphaften Zeit, jener üppigen
Menschen sehen, so glauben wir die Stimme der toten Ver¬
gangenheit zu hören, das Gelächter und den Trauerchor, den
Toast bei den schäumenden Gläsern, das Jubelgeschrei bei den
Wettrennen oder am Spieltisch, die heitern Scherzreden an
der Seite der schönen Damen. Wie schön waren jene Damen
und sie lauschten dennoch auf so unschöne, gemeine Witze,
und wie vornehm war die Herrenwelt. . . Gerade in Selwyns-
Briefen finden wir die treusten Originale von Damen und
Herren aus der ersten Zeit von Georgs 111. Regierung.“ W. M.
Thackeray „Die vier George.“ Deutsch von J. Augspurg,.
Leipzig (Reklam) S. 77 und 79.
167
Tod seines Vaters dessen Vermögen zugefallen war, wurde
er in die Lage versetzt, in der vornehmen Welt eine be¬
deutendere Rolle zu spielen und bald den Ton für eine
raffinirt fasbionable Lebensweise anzugeben, welcher er
vierzig Jahre hindurch mit erstaunlicher Beharrlichkeit
huldigte. Er starb, nachdem er in den letzten Jahren
an der Krankheit der englischen Lebemänner, der Gicht,
gelitten hatte, den 25. Januar 1791, im 72. Jahre, in
Cleveland Row, St. James’s.i)
Selwyn ist, was die eigenartige Mischung der Cha¬
rakterzüge betrifft, ohne Zweifel eine der interessantesten
Gestalten des an bizarren und wunderbaren Naturen so
reichen 18. Jahrhunderts. Ausgestattet mit einem glän¬
zenden Witz, einem überaus feinen Verständnis für den
Humor und das Lächerliche, ein gründlicher Kenner der
Welt und der menschlichen Natur, verband er mit diesen
Eigenschaften ein ausgezeichnetes Wissen im Bereiche
der classischen Litteratur und einen erlesenen künstler¬
ischen Geschmack. Auf der anderen Seite war Selwyn
eine durch und durch sinnliche Natur, leidenschaftlich
allen Freuden des Lebens und der Gesellschaft hingegeben,
Rone, Spieler, Trinker, dabei gutherzig, alle Herzen im
ersten Augenblicke gelängen nehmend. Im äusseren Leben
erinnert er vielfach an die Persönlichkeit des Marquis
de Sade, der bekanntlich ebenfalls eine fascinirende
Erscheinung war, auch eine gewisse Gutherzigkeit nicht
verkennen lässt und wie Selwyn ein leidenschaftlicher
Kinderfreund im guten Sinne des Wortes war. Endlich
9 Vgl. .1. H. Jesse „George Selwyn and his contem-
poraries ; ^vith memoirs and notes.“ .New edition, London
1882 Bd. I. S. 1 — 30. E. J. Roscoe and Helen Clergue^
„George Selwyn, his Leiters and his Life.“ London 1899 S. 1
168
springt die merkwürdige Übereinstimmung ihrer Naturen
aufs deutlichste in die Augen durch die beiden gemein¬
same wollüstige Grausamkeit, die sich bei Selwyn in einer
eigentümlichen Begierde nach dem Anblicke vom mensch¬
lichen Leiden und Martern, speciell in seiner Leidenschaft,
Hinrichtungen beizuwohnen, äusserte, worüber im
dritten Bande (Kapitel 7) Näheres mitgeteilt werden wird.
Neben dem natürlichen Witze Sei wy n’ s,Ü der haupt¬
sächlich zu seiner grossen Beliebtheit beitrug, war seine
grosse Vorliebe tür Kinder und kindliches Wesen allgemein
bekannt. ü Lr war niemals verheiratet, und so bildete
diese leidenschaftliche Liebe zu Kindern einen seltsamen
Gegensatz zu seiner ausschweifenden Lebensweise.
Die grösste, innigste, selbstloseste Liebe, die er jemals
empfunden hat, concentrierte sich auf die kleine Maria
Fagniani (1771 — 1856), die er seine kleine „Mie-Mie“
nannte, die Tochter einer italienischen Dame, der Mar-
chesa Fagniani, die sich eine Zeit lang mit ihrem
Gatten in England aufhielt. Der Ursprung des Interesses,
welches Selwyn an dem Kinde nahm, ist dunkel. Die
Geschichte dieser Neigung ist aber sehr merkwürdig und
erwähnenswert.
*) Seine „Bonmots“ circulierten in ganz London. (Vgl.
Jesse a. a. 0. I, 15 — 22). Als Dichter trat er nur ein einziges
Mal auf, in einem Epigramm auf ein Paar Schuhe, die auf
dem Bette einer Lady gefunden waren:
„Well may suspicion shake its head;
Well may Clorinda’s spouse be jealous;
Wlien the dear wanton takes to bed
Her very shoes, — because they’re fellows.“
'^) Jesse a. a. 0. Bd. I, S. 6; Roscoe und Clergue
a. a. 0. S. 4 und 8.
169
Schon aus einem Briefe der Marchesa Fagnianian
Selwyn aus dem Jahre 1772 erhellt, dass das damals
erst ein Jahr alte Kind bereits mehrere Monate bei ihm
gewesen war, und 1774 wünscht ihm Lord Carlisle dazu
Olück, dass „Mie-Mie“ nun für immer bei ihm bleibe.
Er erwähnt seinen Liebling zuerst in einem Briefe vom
23. Juli 1774, wo er sich selbst schildert. Er sitzt vor
der Thür, hält das liebliche, fremdartig aussehende Kind¬
chen in seinen Armen und ist glücklich über die allge¬
meine Aufmerksamkeit, die es erregt. Als sie 4 Jahre
alt war, nahm er sie bei Besuchen mit. Zu jener Zeit
beschäftigte sich aber auch der Earl of March (Duke
of Queensberry) viel mit Maria, und so tauchten in London
seltsame Gerüchte über den Vater des Kindes auf. Bald
hielt man Selwyn, bald Queensberry für denselben.
Die grössere Wahrscheinlichkeit spricht für den Letzteren.
Selwyn’s Interesse entsprang einzig und allein seiner
ungewöhnlich stark entwickelten Vorliebe für Kinder. Er
freute sich an der Beobachtung ihrer Entwickelung und
fand Vergnügen an Mie-Mie’s Erziehung und Trost an
ihrer Gesellschaft im nahenden Alter. Als er sie zuerst
gesehen hatte, hegte er sogleich den Wunsch, sie zu
adoptieren ; und bis ans Ende seines Lebens blieb sie sein
erster und letzter GedankeA)
9 Vgl.Roscoe und Clergue a. a. 0. S. 8 — 9. Maria
Fagniani verheiratete sich 1792, ein Jahr nach Selv^yn’s
Tode, mit dem Earl of Jarmouth, späterem dritten Marquis
of H ertfo rd. Sie führte von 1802—1807 ein sehr fashionables,
vergnügungssüchtiges Leben und bereiste in Gesellschaft des
Marschalls An dro che den Continent. Sie starb, mit Hinter¬
lassung von 3 Kindern, im Jahre 1856, 85 Jahre alt, in der
Rue Tailbout zu Paris.
170
George Selwyn war der „allgemeine Freund“ in
der englischen vornehmen Gesellschaft der zweiten Hälfte-
des 18. Jahrhunderts. Er war in gleicher Weise zu Hause
mit Politikern, mit Kunstliebhabern, mit Kindern. Er
war eine so umgängliche, liebenswürdige Natur, dass es
jedem, dem Staatsmann, dem Wüstling, dem Schuljungen,
in seiner Gesellschaft behagte.
Doch lässt sich sein Verkehrskreis in zwei Gruppen
scheiden. Die erste Gruppe setzte sich aus Männern von
seinem Alter zusammen : Walpole, Edgecombe, Gilly
Williams und Lord March. Sie bilden mit Sei wyn
die berühmte „Strawberry Hill- Gruppe“, weil sie sich in
Horace Walpole’s schöner Villa Strawberry Hill
zu treffen pflegten. Keynolds hat in einem bekannten
Gemälde diese „out-of-town party“ Walpole’ s verewigt.
Es war eine höchst freie, cultivierte, dem Vergnügen sich
widmende Vereinigung. Keiner von ihnen heiratete.
So etwas galt für „unfashionable“, wenn nicht unpopulär.
Freilich haben sich diese Lebemänner auch wohl kaum
zu einer Ehe geeignet, da sie ihr Lebensglück in einem
völlig freien ungebundenen Leben suchten und fanden.
Ein Edgecombe, der den grössten Teil seines 45jährigen
Lebens am Spieltische verbrachte, ein March mit seinen
zahllosen Geliebten bis ins höchste Greisenalter, waren
wahrlich keine Figuren für die Ehe. “
Die zweite Gruppe des Sei wyn ’ sehen Verkehrskreises
gehört einer jüngeren, moderneren Generation an. Man
könnte sie nach der hervorragendsten Persönlichkeit in
ihr die „Fox- Gruppe“ nennen. Die Mitglieder dieser
Gruppe trieben Politik, spielten bei Brooks, wobei sie
ihr Geld mit der Gleichgültigkeit wahrer Freunde verloren,
und erfreuten sich an der gegenseitigen Verstandesschärfe.
171
Zu dieser Gruppe gehören Charles Fox, der Earl of
Carlisle, Hare, Fitzpatrick und Störer^).
Ober die Lebensweise Selwyn^s findet sich eine
interessante Notiz in einem Briefe seines Freundes Lord
Carlisle, wo es heisst: „Sie stehen um neun Uhr auf,
spielen bis zwölf Uhr mit Ihrem Hunde, schlendern dann
langsam nach White, bringen fünf Stunden am Esstische
zu, schlafen danach bis zur Abendmahlzeit und lassen sich
dann für einen Schilling drei Meilen weit in einer Sänfte
tragen mit drei Mass Claret im •Magen“-).
Als Freund wird Selwyn von eben demselben
Carlisle in begeisterten Ausdrücken gepriesen^) und bei
seinem Tode schrieb Horace Walpole an Miss Berry:
„Ich habe meinen ältesten Freund und Bekannten ver¬
loren, George Selwyn, ich habe ihn wahrhaft geliebt,
nicht nur wegen seines unvergleichlichen Witzes, sondern
auch wegen einer Menge guter Eigenschaften““^). Von
seiner Beliebtheit zeugt auch der folgende warme Nachruf^)
in den Zeitungen:
If, this gay favourite lost, they yet can live,
A tear to Selwyn let the Graces give !
With rapid kindness teach Oblivion’s pall
O’er the sank foibles of the man to fall;
And fondly dictate to a faithful Muse
The prime distinction of the friend they lose.
’Twas social wit, which, never kindling strife,
Blazed in the small, sweet courtesies of life ;
Those little sapphires round the diamond shone,
Lending soft radiance to the richer stone I
L Ros CO e und Clergue a. a. 0. S. 12.
2) Thackeray, „Die vier George“ S. 86. — Selwyn
war ein grosser Verehrer von Kuchen und Ale, — ibidem S. 86.
ibidem S. 85.
‘^) ibidem S. 85 — 86.
Jesse a. a. 0. Bd. I. S. 31.
172
Erwähnung verdienen einige berühmte Porträts von
Selwyn. Das bekannteste ist das sogenannte „Strawberry-
Hill Picture“, von Sir Joshua Reynolds gemalt, jetzt
im Besitz des Right Hon. Henry Labouchere. Dieses
herrliche Gemälde stellt George Selwyn in einem
Bibliothekszimmer dar, während seine Freunde Richard
Edgecombe und Gilly Williams vor ihm an einem
Tische sitzen G- Ferner malte Reynolds ein Bild, dar¬
stellend „George Selwyn, Friedrich, fünften Earl
of Carlisle und den Hund Baton“ (um 1770). Das
Gemälde befindet sich im Besitz des Earl of Carlisle,
in Castle Howard, Yorkshire‘G- Ein drittes Porträt
Selwyn ’s stammt von einem irischen Künstler, Hugh
Douglas Hamilton und ist gleichfalls im Besitz des
Earl of Carlisle^.
Am meisten Ähnlichheit mit den Don Juans der
romanischen Länder in Beziehung auf die Unersättlich¬
keit der sinnlichen Leidenschaft hat Selwyn ’s Freund
und treuer Genosse, der unter dem Spitznamen „Old Q“
oder „Lord Piccadilly“ oder „Piccadilly Ambulator“
bekannte und berüchtigte Herzog von Queensberry,
dessen Leben wirklich eine einzige Kette von Liebes¬
abenteuern und galanten Schäferstündchen darstellt G-
William Douglas, dritter Earl von March und vierter
Herzog von Queensberry wurde 1724 geboren und ent-
0 Reproducirt bei Jesse, Bd. I S. 1.
G Roscoe a. a. 0. S. 28.
G Es ist das Titelbild in dem Buche von Roscoe und
C 1 e r gu e.
Die folgende Darstellung im wesentlichen nach J e s s e a.
a. 0. Bd. 1. S. 194 — 210 und dem „Dictionary of National
Biography“ ed. Stephen. Bd. XF, London 1888, S. 373 — 374.
173
wickelte bereits als Schulknabe bedenkliche Neigungen zu
Extravaganzen auf sexuellem Gebiete, in welchen er später
alle übrigen Lebemänner seiner Zeit übertreffen sollte, wobei
eine hohe Stellung und ein fürstliches Vermögen ihm gewiss
nicht wenig zu Hülfe kamen. Wir übergehen die That-
sache, dass er in jeder Beziehung ein eleganter Weltmann
war, leidenschaftlich dem Turf und dem Spiele huldigte,
als Kunstkenner und Kunstmäcen hervortrat, in Beziehung
auf Kleidung und sonstiges äusseres Auftreten vorbildlich,
auch gutherzig, wohlthätig und jovial wie sein Freund
Selwyn war. Alle diese Dinge verschwinden vor den an
Zahl wahrhaft ungeheuerlichen geschlechtlichen Ausschwei¬
fungen dieses berühmten Wüstlings. Je älter er wurde,
desto toller trieb er es in dieser Hinsicht. Sein Haus in
Piccadilly (jetzt No. 138 nahe Park Laue) und seine
Villa in Richmond bildeten das Capri dieses modernen
Tiberius. Auf der Veranda oder an dem Fenster seines
Hauses in Piccadilly konnte man ihn in den letzten Jahren
seines Leben Tag für Tag noch sitzen sehen, den Greis
von 86 Jahren, wie er die vorübergehenden Schönheiten
mit verliebten Blicken musterte ^). Sein Groom stand
immer vor der Thür, um ein Mädchen, das ihm bekannt
war oder besonders gefiel, hereinzurufen. Wie viele Scenen
glänzenden Lasters, wahnsinniger Excentricitäten auf dem
Gebiete des Geschlechtsgenusses hatten sich in diesem
1) „Der runzelige, gelähmte, zahnlose alte Don Juan starb
ebenso verderbt und ebenso verstockt, wie er es in den feurigsten
Zeiten seiner Jugend und Leidenschaft gewesen war. In einem
Hause in Piccadilly pflegte man ein niedriges Fenster zu zeigen,
wo der alte Queensberry bis zu seinem Ende zu sitzen
pflegte, um die vorübergehenden Frauen mit lüsternen Augen
zu betrachten“, Thackeray „Die vier George“ S. 85.
174
Hause abgespielt, die von den Zeitgenossen nur scheu an¬
gedeutet werden, aber aus den Bezeichnungen „orientali¬
sche Wollust“, „raffinirte Sinnlichkeit“ zur Genüge er¬
schlossen werden können. Das Weib war ihm alles, In¬
begriff des Lebens und Daseins, obgleich er zuletzt auf
einem Ohre taub und auf einem Auge blind wurde und
seinem französischen Leibarzte Elise e (früherem Leibarzt
Ludwigs XV.) für jeden Tag, um welchen dieser sein
Leben verlängerte, eine grosse Summe zahlte. Auch musste
der Arzt zugleich ihm bei der Anknüpfung seiner Lieb¬
schaften und bei dem Arrangement der Liebesfeiern be-
hülflich sein. Old Q starb nicht an der Liebe, sondern
an reichlichem Obstgenusse, über 86 Jahre alt, am 23.
Dezember 1810, dem Tod kalt und ruhig ins Auge blickend,
in dieser Beziehung ganz das Gegenteil des frommen
Samuel Johnson. Er war gleich S e 1 w y n nie ver¬
heiratet und hinterliess seine immensen Reichtümer seinen
Verwandten, vermachte aber über 1 Million Pfund Sterling
der Dienerschaft und mehreren ehemaligen Geliebten i).
Sir Nathanael Wraxall, der Old Q in den letzten
Jahren seines Lebens persönlich kannte, sagt von ihm :
„Er suchte den Genuss in jeder Gestalt und ebenso eifrig
mit 80 Jahren als er es mit 20 gethan hatte. Nachdem
er alle Vergnügungen des menschlichen Lebens erschöpft
hatte, setzte er sich in sein Haus, nahe Hyde Park Corner,
wo er Zuschauer jener bewegten Scenen wurde, welche
0 Verzeichnis der Legate bei Jesse a. a. 0. I, 206—210^
Der Apotheker Füller in Piccadilly verlangte nachträglich
10000 Pfund für 9340 Besuche, die er dem Herzog in den letzten
7^2 Jahren gemacht haben v^mllte, sowie für 1215 Nächte, die
er bei ihm gewacht hätte I Das Gericht sprach ihm 7000 Pfund
zu. (Gentleman’s Magazine Bd. 81 Th. H S. 81.)
175
Johnson „den vollen Strom des Menschenlebens“ genannt
hat. Ich stand während der letzten 7 Jahre seines langen
Lebens in fast täglichem Verkehr mit ihm. Sein Körper
war eine Ruine geworden, aber nicht sein Geist. Es ist
mne Thatsache, dass, als er im December 1810 im Sterben
lag, sein Bett mit mindestens siebenzig Billets Doux
und Briefen bedeckt war, welche Frauen und Mädchen
von verschiedenster Natur und aus den verschiedensten
Ständen, von Herzoginnen an bis herab zu Weibern zweifel¬
haftesten Genres, an ihn gerichtet hatten. Nicht mehr
im Stande, die Briefe zu öffnen oder durchzulesen, befahl
sie uneröffnet auf sein Bett zu legen, wo sie bis zu
seinem Tode liegen blieben. — Viele fabelhaften Geschichten
über ihn wurden in der Stadt verbreitet und geglaubt, so
z. B. dass er ein Glasauge hätte, dass er Milch-Bäder ge¬
brauchte (weshalb nach Jesse die Londoner Jahre hindurch
eine unüberwindliche Abneigung gegen Milchgenuss hatten)
und andere unsinnige Erzählungen. Es ist jedoch eine
Thatsache, dass der Herzog in seinem Ankleidezimmer
die Scene von Paris und den Göttinnen aufführte. Drei
der schönsten Mädchen, die man in London finden konnte,
erschienen hier vor ihm in demselben Kostüm wie die
homerischen Göttinnen vor Paris auf dem Berge Ida,
während er, wie jener als Hirt gekleidet, dasjenige Weib
mit einem vergoldeten Apfel beschenkte, welches er als
das schönste erkannt hatte. Diese classische Scene fand
in seinem Hause gegenüber dem Green Park statt. Weder
der von Pope erwähnte Herzog von Buckingham, dessen
Leben eine einzige wollüstige Ekstase war, noch irgend
«iner der ausschweifenden Edelleute, die seine Zeitgenossen
waren, haben jemals so extravagante Handlungen begangen,
wie sie in dieser verlotterten Periode vorkamen“ ^).
Jesse a. a. 0. Bd. I. S. 200 — 203.
176
Aus Old Q’s Leidenschaft für die Musik erklärt
sich die Bevorzugung, die er bei seinen Liebschaften den
Ballettänzerinnen und Opernsängerinnen zu Teil werden
Hess. Seiner Leidenschaft für die Primadonnen und
Tänzerinnen verdankte die italienische Oper in London
eine namhafte Unterstützung mit Geldmitteln. Unter
diesen Geliebten des Herzogs von Queensberry ist be¬
sonders die Tänzerin Zamparini bekannt (geboren zu
Venedig 1745), deren schöne Züge der Maler Hone fest¬
gehalten hat (Reproduktion des Bildes bei Jessell, 69).
Im Jahre 1766 schreibt Old Q an seinen in Frankreich
sich aufhaltenden Freund Selwyn: „Ich liebe dieses kleine
Mädchen ; aber wie lange diese Liebe dauern wird, kann
ich nicht sagen. Sie kann zunehmen, oder auch zu Ende
sein, bevor Sie zurückkehren“ Q. Diese Äusserung ist
charakteristisch für den englischen Don Juanismus jener
Zeit. Freilich war auch „Lord Piccadilly“ verrufen
wie kein Anderer wegen der grossen Zahl der jährlich von
ihm „absolvirten“ Liebschaften und seiner ausserordent¬
lichen Erfahrung in erotischen Dingen, weshalb er auch
in der englischen galanten und pornographischen Litteratur^)
Jesse a. a. 0. Bd. H S. 106.
2) Zunächst kommt hier in Betracht das interessante Werk
Ton J. P. Henstone „The Piccadilly Ambulator, or Old
containing Memoirs of the private life of the evergreen votary
of Venus“, London 1808 (mit einem Bilde des Herzogs auf der
Veranda seines Hauses in Piccadilly). — Ferner wird Old Q
erwähnt in den Memoiren der Bellamy Bd. I S. 59 (der
französischen Ausgabe), in Thackeray’s „Virginians“, wo er
als Earl of March auftritt, in den „Serails de Londres“ und
einem anderen Eroticum „The Wedding Night; or Battles of
Venus, a Voluptuous Disclosure etc.“. London ca. 1880, wo
sich eine längere Schilderung des Herzogs findet, in Wraxall’s
177
Wie schon die beiden Freundesgruppen um George
Selwyn erkennen lassen, schieden sich die englischen
Don Juans des 17. Jahrhunderts in zwei Gruppen: die
adelige und die bürgerliche. Die erstere zeichnete sich
durch einen gewissen Kosmopolitismus i) in ihren Ver¬
gnügungen aus, während die zweite an der Scholle haftete,
hier aber desto eifriger und toller dem Treiben der Vor¬
nehmen nacheiferte, so dass die Wege oder besser Abwege
beider. Teile sich häufig kreuzten.
Der ersten Gruppe gehören Männer an wie George
James Williams, besser bekannt als G i 1 1 y W i 1 1 i a m s ,
der intime Freund S el wy n’ s, beinahe so witzig wie dieser, 2)
Lord Fe der ick CaiTisle, der sich und sein wildes
Treiben im fashionablen Spaa so aufrichtig in den Briefen
Memoiren, Horace Walpole’s Briefen, Wheatley’s „Round
about Piccadilly“. — Wertlos sind die „Memoirs of the Life of
the Duke of Queensberry“. — Jesse hat dem vierten Bande
seines grossen Werkes über die Epoche von George Selwyn
ein Titelbild beigegeben, welches uns, nach einem Stiche von
J. Cook, die Züge des berühmten Old Q vor Augen führt.
Es ist ein jovial lächelndes Gesicht mit einer grossen Adler¬
nase, welche letztere wiederum den alten Volksglauben zu be¬
stätigen scheint, dass Männer mit grossen Nasen auch gross
in der* Liebe seien.
1) „Man belustigte sich in Versailles, man wohnte den
Wettrennen in den Ebenen von Sablons in der Nähe von Paris
bei, man brachte eine Menge Gemälde und Marmorstatuen von
Rom und Florenz, Gebäude und grosse Galerien wurden zu
dem Empfang dieser Kunstschätze erbaut, singende und tanzende
Damen erschienen von allen europäischen Opern in England,
denen die edlen Lords Tausende hinopferten und dabei ihre
ehrenhaften Frauen und Kinder zur traurigen Einsamkeit der
verödeten heimatlichen Schlösser verdammten.“ Thackeray
„Die vier George“ S. 82.
Jesse a, a. 0. Bd. I. S. 121 — 122.
12
178
an Selwyn schildert^), TopliamBeauclerk, der Freund
Jolinson’s und wie der folgende ein grosser Bücher¬
freund'^), Lord Pembroke, den Barth old sich am
liebsten unter dem Bilde des genusssatten Edelmannes auf
der zweiten Platte der „Mariage ä la Mode“ von Hogarth
vorstellen möchte ^), der sich und seinesgleichen aber noch
viel besser in Casanova’s Memoiren geschildert hat.
Dieser erzählt nämlich:
„Am nächsten Tage empfing ich den Besuch des
Lord Pembroke.
„Goddam“, sagte er „der König wohnt nicht besser
in St. James. Drei Wohnungen, das ist Überfluss! Wer
hindert Sie denn, in den oberen Etagen Weiber aufzu¬
nehmen?“
„Mylord, das ist es eben, was ich suche. Kennen
Sie nicht irgend eine hübsche Frau, welche disponibel ist?“
„Ich könnte sie Ihnen dutzendweise nachweisen, allein
es wäre nicht passend, dass Sie meine Überbleibsel aus
meinen eigenen Händen empfingen.“
„Sie sind also sehr wankelmütig?“
„Ich habe nie zwei Mal bei derselben Frau schlafen
können.“
„Sind Sie nicht verheiratet?“
„Darüber bin ich eben wütend. Das hindert mich
übrigens nicht, als Gar9on zu leben. Ich sehe täglich ein
neues Gesicht. Ich gebe deshalb auch ungeheuer viel aus,
1) Thackeray a. a. 0. S. 86.
2) Dictionary of National Biography, London 1885 Bd. IV.
S. 36. (Der Katalog der 30000 Bände umfassenden „Bibliotheca
Beauclerkiana“ befindet sich im British Museum).
F, W, Barthold „Die geschichtlichen Persönlichkeiten
in Jacob Casanova’s Memoiren“ Berlin 1846 Bd. II. S. 223.
179
denn jeden Abend ausserhalb zu speisen, das richtet einen
zu Grunde“ 1).
Eine eigentümliche Mischung von Lüderlichkeit, Spleen
und gelehrten Neigungen nebst dem von der Mutter ver¬
erbten Wandertriebe finden wir in dem Charakter des in
einer Schrift von Coat es als der „britische Don Juan“
verherrlichten Edward Wortley Montague, des Sohnes
der berühmten Lady Mary Wortley Montague. Sein
Leben (1713 — 1776) bildete eine Ketfe von seltsamen
Abenteuern in allen Ländern Europa’s und auch in Asien.
Schon als Knabe entfloh er mehrere Male dem elterlichen
Hause, ging einmal zu einem Schornsteinfeger in die Lehre,
wurde ein andermal Schiffsjunge oder Mauleseltreiber in
Spanien ^). Seine Eltern, die ihm mehrere Male verziehen,
sagten sich zuletzt von ihm los, und seine Mutter hinter-
liess ihm nach ihrem Tode — eine Guinee!^) Nach dem
Tode seiner Eltern verliess er England ganz, besuchte
besonders den Orient, wechselte öfter seine Keligion und
starb als Muhamedaner. In allen Ländern hatte er zahl-
Casanova’s Memoiren Bd. XV. S. 114 — 115. — Der¬
selbe Lord Pembroke, dessen Bibliophilie schon erwähnt
Avurde, hat eine beute sehr gesuchte Ausgabe der obscönen
Poesien des Yenetianischen Patriciers Giorgio Baffo ver¬
unstaltet („Raccolta universale delle opere di Giorgio Baffo,
Veneto“, Cosmopoli 1789, 4 Bände). Vgl. Octave Uzanne
„Nos Amis, les Livres.“ Paris 1886, S. 60; Victor Ottmann
„Jacob Casanova“ S. 21.
2) Henry Coat es „The British Don Juan; being a nar¬
rative of the singulär amours, entertaining adventures, remar-
kable Iravels, etc., of the Hon. Edward W. Montague, son
of the celebrated Lady Mary Wortley Montague“ London 1823.
3) Arclienholtz „England“ Bd. III. S. 81 — 82.
0 Do ran „A lady of the last Century“ S. 130.
12*
180
reiche Liebesabenteuer und von verschiedenen Frauen
mehrere Kinder. Zuletzt sehnte er sich aber nach einem
legitimen Erben. Sein Plan war, ein armes Weib zu heiraten,
das bereits schwanger war und dann das während der Ehe
geborene Kind zu adoptiren. Denn er war von seiner
eigenen Unfähigkeit in dieser Beziehung, wegen seines
Alters und seiner Schwäche, zu sehr überzeugt, als dass
er noch sich auf ein eigenes Kind Hoffnung machen
konnte^). Daher kündigte er wenige Monate vor seinem
Tode den Entschluss an, „eine Wittwe oder alleinstehende
Dame von guter Geburt und feinen Manieren, aber bereits
im fünften, sechsten, siebenten oder achten Monate der
Schwangerschaft befindlich“ zu heiraten“). — Seine Cousine
Elizabeth Montague sagt über diesen seltsamen Kauz:
„Als ich ihn zuerst kennen lernte, einen Wüstling und Stutzer,
ahnte ich nicht, dass er sich eines Tages mit rabbinischen
Studien beschäftigen und dann den ganzen Orient als der
grosse, reisende Gelehrte der Welt durchstreifen würde“^).
Ein Seitenstück zu Edward Montagu stellt der
berüchtigte Baltimore dar, dessen türkischer Harem in
London schon in Bd. 1. (S. 270 — 272) geschildert worden
ist. Nach dem gegen ihn angestrengten Prozesse wegen
Notzucht, der aber mit seiner Freisprechung endigte, ver-
liess er England, um nie wieder dahin zurückzukehren.
Casanova traf ihn in Neapel. Von diesem spleenigen
0 Coates a. a. 0. S. 209.
0 The Encyclopaedia Britannica 8^^ edition, Edinburg
1860 Bd. XV. S. 506.
Doran a. a. 0. S. 130. — Er schrieb ausser mehreren
Abhandlungen für die Royal Society auch grössere Werke, u.
a. ein Buch „On the Rise and Fall of the x4ncient Republics“..
181
Wüstling giebt Barth old nach Lanaberg’s „Menaorial
d’un mondain“ folgende Schilderung.
„Ein britischer Sonderling, fast so toll, aber noch
ausschweifender als Lord Wortley Montagne, der
Verehrer unseres deutschen Abbah, lockte nach wenigen
Tagen unsern Keisenden in sein „Pays de Cocagne“ nach
Neapel. Lord Baltimore, dessen „blasirte“ Natur den
gefälligen deutschen Cicerone Winkelmann zur Ver¬
zweiflung gebracht hatte, zog seit mehreren Jahren rastlos
durch Europa, und war entschlossen, nie zu reisen auf¬
zuhören, weil er den Ort nicht wissen wollte, wo man ihn
begraben würde. Ein Sultan in eigener Weise, reiste er
im Jahre 1769 mit acht Frauen, einem Arzte, zwei Negern,
welche er seine Corregidores nannte, weil sie die polizei¬
liche Aufsicht in seinem wandernden Serail ausübten. Mit
Hülfe seines Aeskulaps sammelte er eigentümliche Erfahr¬
ungen über seine Houris; er nährte die Fetten nur mit
Säuren, die Mageren mit Milchspeisen und Fleischbrühen.
Als er mit seinem Gefolge nach Wien kam, ersuchte ihn
unser bekannter Graf von Schrottenbach um die An¬
gabe, welche von den acht Signoras seine Gemahlin sei?
Der Lord liess antworten: er sei ein Engländer und da,
wo man ihn um Eechenschaft wegen seiner Ehe angehe
und er nicht die Sache durch einen Faustkampf ausfechten
könne, reise er stehenden Fusses ab“ ^).
Man wird nach diesen Schilderungen der hervor¬
stechendsten Typen der adligen englischen Lebemänner des
18. Jahrhunderts die Überzeugung gewonnen haben, dass es
sich bei ihnen doch um eine höchst besondere und eigen¬
artige Gattung der Don Juans handelte, indem die Excen-
9 R W. ßarthold a. a. 0. Bd. II. S. 305-306.
182
tricitäten des englischen Charakters ihren Abenteuern und
ihrem ganzen Treiben einen unverkennbar speci fischen
Stempel aufgeprägt haben. Dies konnte um so deutlicher
in die Erscheinung treten, als jene Koue’s meist über im¬
mense Reichtümer verfügten, die ihnen die unbeschränkte
Befriedigung ihrer sonderbaren Gelüste und Liebhabereien
gestatteten.
Neben diesen Lebemännern adliger Herkunft spielten
diejenigen aus dem Bürgerstande eine verhältnismässig
geringere Rolle, wenn sie auch als Bordellhabitnes, Be¬
sucher der öffentlichen Promenaden, Parks, Vergnügungs¬
gärten, Theater und Rennbahnen nicht weniger eifrig
waren als ihre adligen Nebenbuhler.
Zu diesen bürgerlichen Lebemännern gehörten u. a.
Charles James Fox, der berühmte Staatsmann, einer
der „bestgekleideten Männer seiner Zeit“, ein Führer der
„Maccaronis“, dabei ein Wüstling von schlimmstem Rufe.
„In allen lasterhaften Neigungen, in wahnsinnigem Luxus,
in wilden Spässen, in der Jagd auf Weiber und den Excessen
der Flasche übertraf Fox sehr schnell die berüchtigsten
Wüstlinge von Brookes’ und Whites’.“i). Ferner ist
hier Samuel Foote zu nennen (1720 — 1777), der
„moderne Aristophanes“, Schauspieler am Haymarket-
Theater und dramatischer Dichter, ein sehr verschwende¬
rischer, lustiger Lebemann, der an allen tollen Streichen
der Taugenichtse seiner Zeit sich eifrig beteiligte. In den
„Serails de Londres“ wird ein Besuch, den er, George
Selwyn und Price dem Bordell der Hayes machten,
geschildert, nachdem Price den beiden ersteren durch
eine lange Schilderung der ihrer dort harrenden Genüsse
L Jesse a. a. 0. Bd. II. S, 220.
2) „Serails de Londres“ S. 34 — 46.
183
den Mund wässrig gemacht hatte. Hier machen sie die
Bekanntschaft einer berühmten spanischen Courtisane, der
„Gräfin von Medina“, welche ihre an galanten Abenteuern
reiche Lebensgeschichte zum Besten giebt. Samuel
Foote hält eine kleine Rede an Mrs. Hayes, in welcher
er die vortrefflichen Einrichtungen ihres Bordelles rühmend
hervorhebt und George Selwyn macht sich an die
Untersuchung der — Virginität der Insassinnen.
Eifrig wurden die Bordelle auch von einem anderen
galanten Freundes-Trio frequentirt, von Tracey, Derrick
und George Alexander Stevens, dem geistreichen
Schriftsteller und Verfasser der „Lecture on heads“, als
welchen wir ihn noch im 10. Kapitel kennen lernen werden.
Sie verkehrten vielfach im Bordell der VVeatherby, wo
die Courtisane Lucy Cooper sich mit ihnen und mit
dem Schauspieler Palmer u. a. Rendezvous gab. Tracey,
der auch Charlotte Hayes aushielt, war „einer der
ausschweifendsten jungen Männer des Jahrhunderts“ in Be¬
ziehung auf seinen Verkehr mit dem schönen Geschlecht.
Er war 5 Fuss 9 Zoll hoch, hatte den Wuchs eines Herkules
und ein sehr angenehmes Aussehen, das in Verein mit
seiner eleganten Kleidung ihm den Beinamen des „schönen
Tracey“ verschaffte. Er war gebildet, wissbegierig, besass
eine gute Bibliothek, und pflegte seine Bücher zu lesen,
während der Friseur mit seinen Haaren beschäftigt war.
Dies motivirte er damit, dass man, gleichzeitig mit der
Verschönerung des Äusseren seines Kopfes auch für dessen
Inneres sorgen müsse ! Durch seine Auschweifungen ruinirte
Tracey seine Gesundheit noch vor seinem dreissigsten
Jahre und starb früh. — Derrick war oft so arm, dass
er weder Schuhe noch Strümpfe hatte. Als er eines Tages
sich im Cafe Forrest in Charing Cross befand, zog er sich
184
mehrere Male in den Tempel der Venus Cloacina zurück,
um seine Strümpfe in Ordnung zu bringen, deren grosse
Löcher immer wieder zum Vorschein kamen. Das bemerkte
der berühmte Schriftsteller Tobias Smollett und gab
dem armen, schäbigen Elegant eine Guinee, damit er sich
Strümpfe und Schuhe kaufe ^).
Indem wir uns die Schilderung eines Georg IV. und
seines Freundes George Brumm eil, die als typische Ver¬
treter der englischen Lebewelt an der Wende des 17. und
18. Jahrhunderts stehen, für das nächste Kapitel versparen,
machen wir den Beschluss dieser langen Reihe englischer
Don Juans mit einigen Worten über Lord Byron, über
dessen Liebesieben ein so erbitterter, heute aber völlig
entschiedener Streit getobt hat.
Von Byron kann man trotz seiner leidenschaftlichen
Feuerseele, trotz seiner früh erwachten Liebesregungen, die
ihn schon mit 8 Jahren zu Mary Duff, mit 12 Jahren
zu seiner reizenden Cousine^) Margareth Parker in
- - 0
Serails de Londres S. 7 — 9 und 15 — 16.
Die Cousine ist sehr häufig Gegenstand einer ersten
oder frühen Liebe im Leben der grossen Dichter gewesen, wie
z. B. Heine’s. Georg Brandes nennt die Cousinenliebe
das „in der Regel erste und vorläufige Stadium auf der Liebes-
bahn, ein gewissermassen nur als Einweihung in das eigent¬
liche erotische Leben geltendes Vorspiel“. G. Brandes „Die
Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts“ 6. Aufl.
Leipzig 1899 S. 134. — Von der Cousinenliebe sagt Richepin:
Aux pres de l’enfance on cueille
Les petites amourettes
Qu’on jette au vent’feuille ä feuille;
Ainsi que des päquerettes.
On cueille dans ces prairies
Les Yoisines, les cousines,
Les amourettes fleuries
Bt qui n’ont pas des racines.
185
zärtlicher Neiguno’ erglühen Hessen, nicht behaupten, dass
■er ein „vielliebender“ Mann, ein typischer Don Juan ge¬
wesen sei. Er war mehr ein „vielgeliebter“ Mann, dem
die Frauen in seinem Leben stets mehr zugesetzt haben
als er ihnen. Sein Genie, seine Leidenschaft, seine Schön¬
heit rissen die Frauen hin und gewannen ihm ihre Herzen
im Sturme. Aber das seine blieb in den meisten Fällen
kalt, wie das Verhältnis zu Lady Caroline Lamb und
auch zur Mutter seines Kindes Allegra, der schönen
Jane Clara Clairmont bezeugt. Im „Don Juan“ XV,
12 — 15 und XII, 74 hat er sein Leben in der englischen
Gesellschaft vor dem Eingehen seiner Ehe geschildert.
Brandes sagt von dieser Zeit: „So sehen wir Childe
Harold in Person sich in Don Juan verwandeln. Der einsame
Pilger ward zum Salonlöwen. Ebenso sehr wie Byron’s
Poesie, machten natürlich sein hoher Rang, seine Jugend
und seine seltene Schönheit Eindruck in den Damen¬
kreisen“ ^). Walter Scott sagte von Byron’s Äusserem:
,Sein Gesicht war Etwas, wovon man träumen konnte“.
Und eine der berühmtesten Schönheiten Englands rief,
als sie ihn zum ersten Male sah, aus: „Dies blasse Gesicht
ist mein Schicksal“. Auch Ackermann, der neueste
Byron -Biograph kommt bei Betrachtung des Liebeslebens
von Lord Byron zu dem Ergebnis, dass er in vielen Fällen
„die reinste Verzauberung auf seine Anbeterinnen ausübte“,
dagegen selbst kein Sklave des Weibes war^). Die Memoiren
des Francis AnnKemble geben den gewaltigen Zauber
deutlich wieder, den dieser schöne, schwermütige Mann
H Brandes a. a. 0. Bd. IV. S. 303.
Richard Ackermann „Lord Byron. Sein Leben,
seine Werke, sein Einfluss auf die deutsche Litteratur“ Heidel¬
berg 1901 S. 59.
186
auf das weibliche Geschlecht ausübte. Hieraus kann man
entnehmen, wie schwer es Byron werden musste^, in seinen
Beziehungen zu den Frauen sich von den gewöhnlichen
Grundsätzen des ehrsamen Spiessbürgers leiten zu lassen,
wie leicht er den von allen Seiten an ihn herantretenden
Versuchungen unterliegen musste und wie noch leichter
die Eifersucht der sich für zurückgesetzt haltenden Frauen
durch Verleumdung und böswilligen Klatsch die moralische
Persönlichkeit des Dichters zu verunglimpfen suchte. So
ist Lord Byron in den Geruch eines lasterhaften Don
Juan gekommen, von dem sich aber die prüde englische-
Gesellschaft erst dann abwendete, als die einst so rätsel¬
hafte Tragödie seiner Ehe mit Annabella Milbanke
ausgespielt war. Diese verliess bekanntlich nach einem Jahre
plötzlich ihren Gatten, und es wurde auf Grund einer
„geheimen Mitteilung“ einer Spionin die Ehescheidung
beantragt. Welches diese geheime Mitteilung war, ist
auch noch nicht aufgeklärt^). Sicher ist jedenfalls, dass
Lady Byron erst viel später gegen ihren Gatten die
entsetzliche Anklage erhob, dass er mit seiner Stiefschwester,.
Mrs. Augusta Leigh, blutschänderischen Verkehr ge¬
pflogen habe. Diese Geschichte, die selbst Jeaffreson
für „monströs und absolut falsch“ erklärt^) erzählte sie
Mrs. Har riet Beecher Stowe, welche wiederum die
ihr gemachten Enthüllungen in ihrem verleumderischen
Buche vor das litterarische Publikum brachte^). Die gänz¬
liche Nichtigkeit dieser Anklage ist zur Genüge durch die-
Vgl. Ackermann a. a. 0. S. 74 — 75.
J. C. Jeaffreson „The real Lord Byron“ London
1883 Bd. II. S. 355.
H. Beecher Stowe „Lady Byron yindicated etc.“^
London 1870.
187
besten Byron-Biographen wie Elze, Jeaffreson, Acker¬
mann u. A. clargethan worden.
Einen eigenartigen Beitrag zur Frage nach dem Grunde
der Trennung Lady Byron’s von ihrem Gatten liefern
zwei ohscöne Dichtungen, die in den Jahren 1865 — 1866
erschienen, die natürlich bezüglich des Hauptpunktes mit
aller Vorsicht aufzunehmen sind, aber doch in der Ge¬
schichte dieses Eheklatsches nicht fehlen dürfen, weshalb
sie eingehender besprochen seien ^). Der Titel dieser in
einem Bande vereinigten Gedichte lautet:
„Don Leon; A Poem by the late Lord Byron,
Author of Childe Harold, Don Juan, etc., etc. And forming
Part of the Private Journal of his Lordship, supposed to
have been entirely destroyed by Thos. Moore.
„Pardon, dear Tom, tliese tboughts on days gone by;
Me men revile, and thou must justify.
Yet in my bosom apprehensions rise,
(For brotlier poets liaye their jealousies)
Lest linder false pretences thou should’st turn
A faithless friend, and these confessions bnrn“.
To which is added Leon to Annabella; an epistlc
from Lord Byron to Lady Byron. London: Printed for the
Booksellers. 1866.“
Das erste Gedicht „Don Leon“ besteht aus 1455
Versen und ist eine begeisterte Apologie der Päderastie.
Lord Byron beschreibt darin seine verschiedenen päde-
rastischen Liebschaften, entschuldigt und verteidigt darin
seine Neigung zur Pädikation. Als Ursache des Ehekonfliktes
wird darin die an seine Gattin während ihrer Schwanger¬
schaft versuchte und vollzogene Pädikation angegeben :
3) Nach Pisanus Fraxi „Index librorum prohibitornm*^
London 1877 S. 189-193.
188
Ah, fatal hour! for thence iny sorrows date:
Tlience sprung the source of her undying hate.
Fiends from her breast the sacred secret wrung,
Then called me monster; and, with evil tongue,
Mysterious tales of false Satanie art
Devised, and forced us evermore to part.
Zu seiner Entschuldigung führt Lord Byron haupt-
-sächlich den Grund an, dass er wegen der vorgeschrittenen
Gravidität seiner Gattin nicht auf legitime Weise den Coitus
habe vollziehen können.
Das zweite Gedicht „L e 0 n to Annabell; an epistle
from Lord Byron to Lady Byron, explaining the real cause
of eternal Separation, and forming the most curious passage
in the Secret History of the Noble Poet“. Hier wird zu¬
nächst das Urteil des Rechtsanwaltes der Lady Byron,
Lushington, angeführt: „Lady Byron kann niemals
wieder mit ihrem Gatten zusammen leben. Er hat ihr
eine Veranlassung zur Trennung gegeben, die niemals ent¬
hüllt werden kann. Aber die weibliche Ehre verbietet
jeden weiteren Verkehr.“ In dem Gedichte wird die Ur¬
sache der Trennung in decenter Weise folgendermassen
.angedeutet :
Oh, lovely woman! by your Maker’s hand
For man’s deiight and solace wisely planned.
Thaukless is she who nature’s bounty mocks,
Nor gives Love entrance wheresoe’er he knocks.
* *
Matrons of Rome, held ye yourselves clisgraced
In yielding to your husband’s wayward taste?
Ah, no! — By tender complaisance ye reign’d :
No wife of wounded modesty complained“ ^).
Ein Neudruck yon „Leon to Annabell“ erschien unter
•dem Titel : „The GreatSecret Revealed! Suppressed Poem
by Lord Byron, never before published, Leon to Annabella.
189
Natürlich ist keins der beiden Gedichte wirklich von
Lord Byron verfasst. P i s a n u s F r a x i erfuhr von einem
mit dem Verleger, William Dugdale, bekannten Herrn,
dass Dugdale beim Ankauf des Manuscriptes im Jahre
1860 wirklich glaubte, dass die Gedichte von Lord Byron
selbst stammten und daher sich an die noch lebende Lady
Byron wenden wollte, um eine beträchtliche Summe
Geldes für das Versprechen der Nichtverölfentlichung her¬
auszuschlagen. Er unterliess dies aber infolge einer War¬
nung jenes Herrn. Letzterer fand bei einer Prüfung der
Gedichte Anspielungen auf mehrere Thatsachen, die sich
erst nach dem Tode Lord Byron’s ereignet hatten.
Jedenfalls ist es sehr merkwürdig, dass bereits vor
der Anklage der Mrs. Beecher Stowe bereits eine andere
Beschuldigung gegen Byron veröffentlicht wurde. Beide
Male handelt es sich um ein geschlechtliches Verbrechen.
Es mag aber dahin gestellt bleiben, ob Blutschande oder
Pädikation als die schwerere Anklage anzusehen ist. Für
die Begründung beider lässt sich nicht der geringste that-
sächliche Anhaltspunkt beibringen, ebensowenig für die
angebliche Homosexualität, über die Moll sich ver¬
breitet i). Was Jeaffreson über Byron’s „Harem“ in
Venedig berichtet^), dürfte bei der Parteilichkeit dieses
Autors und seiner Vereingenommenheit gegen Byron,
Lord Byron to Lady Byron, An Epistle explaining the Real
Cause of Eternal Separation, And Justifying the Practice which
led to it. Forining the most Curious Passage in the Secret
History of the Noble Poet, Influencing the Whole of Ilis Future
Career, etc.“ — Ein noch späterer Neudruck erschien 1875 in
Brüssel.
A. Moll „Die konträre Sexualempfindung“ 3. Auflage,
Berlin 1899 S. 136—137.
2) J. C. Jeaffreson a. a. 0. Bd. II. S. 68.
190
ebenfalls cum grano salis zu nehmen sein, wenn auch
nicht zu leugnen ist, dass der Dichter in Venedig sich
ausserordentlichen sexuellen Ausschweifungen ergab, die
hauptsächlich die Veranlassung zu der grossen Litteratur
seiner ,, Liebesabenteuer“ gegeben haben ^).
Mit Georg IV. (f 1830), der bis in seine letzten
Lebensjahre sein liederliches Leben fortgesetzt hatte, gelangte
diese ganze galante Zeit, welche die zweite Hälfte des
18. Jahrhunderts und das erste Drittel des 19. umfasst,
zu ihrem Abschlüsse; und es folgte — abgesehen von der
kurzen Kegierungszeit des Königs Wilhelm IV. — die
auf beinahe 65 Jahre sich bis zur unmittelbaren Gegenwart
erstreckende lange victorianische Aera, in welcher auch
der äusserliche Charakter der vornehmen Gesellschaft ein
durchaus anderer, man darf sagen moralischerer wurde,
wenn dies letztere Epitheton auch, wie wir kurz darlegen
werden, eine gewisse Einschränkung erfahren muss.
Stets ist der Einfluss und die Haltung des Hofes
von grösster Bedeutung für den Charakter und das sitt¬
liche Verhalten der vornehmen Gesellschaft, und da diese
wiederum vom Bürgerstande nachgeahmt wird, für das
ganze gesellschaftliche Leben überhaupt. So konnte das
mustergültige, glückliche und reine Familienleben der
Königin Victoria nicht ohne Wirkung bleiben und musste
dem wilden Treiben der Kegentschaftsepoche ein jähes
Ende bereiten. An die Stelle der Spielhöllen, der galanten
Promenaden von ßanelagh und Vauxhall, des Tavernen-
und Bordelllebens traten die streng moralischen fashionablen
9 Z: B. „The Loves of Byron, his Intrigues with Celebrated
Women;“ „Amours of Lord Byron“ London 1848; „Private In¬
trigues of Lord Byron“ ; „Privae Life of Lord Byron“ ; C. Reiter
„Lord Byrons Liebesabenteuer“ ca. 1858, 2 Teile.
191
Klubs, an die Stelle der so viel Gelegenheit zu Liebeleien
und zur Verführung bietenden Routs die unschuldigen
Receptions und Gard en-Parties. Das Duell wurde
aufgehoben, das Theater gründlich reformiert, und so war
und ist die heutige vornehme Gesellschaft äusseiTich
ein Bild der sittlichen Reinheit. Nur schade, dass ab und
zu grelle Blitze eine dunkle Kehrseite erhellen !
Solche grelle Blitze sind die immer sich wiederholenden
skandalösen Ehebruchsprozesse, solch ein fürchterlicher Blitz
war die Enthüllung der „Pall Mall Gazette“ über die
epidemisch grassirende Deflorationsmanie der SOiger Jahre,
die in ihrer Art wirklich einzig und specifisch englisch
ist, solche Blitze schleudert in jedem Jahre die sogenannte
„E lopement Season“, die Entführungssaison, in der
irgend eine vornehme Lady von ihrem Reitknecht oder
Kutscher sich entführen lässt.
Und auch das galante Leben ist nicht völlig erloschen.
Nur sucht der heutige vornehme Don Juan seine Liebes¬
abenteuer mehr in Paris als in London, und besonders
zur Zeit des zweiten Kaiserreichs waren die vornehmen
und reichen Engländer ein von den berühmten Pariser
Lionnes sehr begehrter Artikel. Dennoch fehlt es auch
in der heutigen vornehmen Gesellschaft nicht an jenen
mysteriösen Wesen aus jener anderen Welt, die man die
halbe nennt. Es giebt sogar gewisse elegante Damen, die
eine vornehme Wohnung innehaben, von ihren Revenuen
leben und doch weder ehrbare bürgerliche Frauen noch
wirkliche Kokotten sind. „C’est une femme qui garde sa
liberte et sa dignite, qu’on n’approche que difficilement,
qui choisit ses compagnons de tendresse non sur la livree
nais d’apres son goüt. Elle garde son independance, ne
dedaigne ni les cadeaux ni l’argent offert, mais ne lie pas
192
son existence. Elle aime le plaisir on femme du monde^
exquise et raffinee, et flanquerait ä la porte le goujat qui
se permettrait des plaisanteries grossieres. Elle ne ruine
pas les hommes comme nos sauteuses parisiennes, et se
livre ä l’amour pour Pamoiir, y apportant tont autant de
feu que le partenaire“ i). Hier haben wir also eine Ver¬
wirklichung des Ideals der „freien Liebe“.
Neben diesen Frauen giebt es immer noch vornehme
Kokotten, die man zur Promenadenzeit in Bond Street
und im Hyde Park trifft und die von dem Umgänge mit
anständigen durchaus nicht gänzlich ausgeschlossen sind.
Das Bild, welches in einem bekannten Buche „Aus
der Londoner Gesellschaft von einem Heimischgewordenen“
(Leipzig 1885) ein fremder Diplomat von dem englischen
High Life gezeichnet hat, ist im allgemeinen ein treues.
Auch er vergisst nicht, die hinter der Prüderie sich ver¬
bergende Frivolität zu kennzeichnen, die besonders in den
heiklen Gesprächsthemen oftmals deutlich ans Tageslicht
tritt ‘^). Grelle Streiflichter auf diesen dunklen Untergrund
des englischen Gesellschaftslebens lässt auch die Verfasserin
eines Buches fallen, welches 1861 in dem bekannten Berliner
Verlage von Otto Janke erschien und den Titel führt:
„Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin“. Diese
Denkwürdigkeiten, welche durchaus authentisch sind und
wirkliche Erlebnisse und Eindrücke wiedergeben, enthalten
auch einige erschreckende Schilderungen der sittlichen
Verderbtheit in gewissen englischen Adelskreisen, auf die
an anderen Stellen noch Bezug genommen werden wird..
Re 1110 „La vie galante“ en Angleterre“ S. 44 — 45.
„Aus der Londoner Gesellschaft“. S. 118.
193
Es dürfen diese Schattenseiten in dem Leben der
vornehmen englischen Gesellschaft um so weniger ver¬
schwiegen werden, als sie für gewöhnlich durch jene schon
so oft erwähnte Prüderie verdeckt werden und als ihnen
auf der anderen Seite ein so hoher und edler Lebensgenuss
gegenübersteht, wie er nur in England möglich ist. Und
deshalb schliesse ich gern diese Schilderungen mit dem
freundlichen Bilde jener verfeinerten Lebenskunst, wie es
uns der Kunstkenner Wagen gezeichnet hat^).
„Fasst man alles zusammen, so kann man wohl be¬
haupten, dass niemand das Leben auf eine so edle und
mannigfaltige Weise geniesst als Engländer aus den höheren
Kreisen der Gesellschaft, welche sich neben dem Reichtum
auch einer allgemeinen geistigen Bildung erfreuen. Nimm
zu jenen würdigen erhebenden Umgebungen bildender Kunst,
zu jenen musikalischen Genüssen den bequemsten Gebrauch
von allen Schätzen der Litteratur, welcher ihnen durch
ihre trefflichen Privat - Bibliotheken geboten wird, den
Aufenthalt auf den reizendsten Landsitzen, oder die Reisen
in den schönsten Gegenden Europa’s, endlich die viel¬
seitigste und interessanteste gesellige Berührung, so wirst
Du mir zugeben, dass ihnen nicht viel zu wünschen
übrig bleibt“.
3. Lady Emma Hamilton.
Als eine ausserordentliche Erscheinung unter den vielen
schönen und galanten Frauen des 18. Jahrhunderts tritt
9 Wagen „Kunstwerke und Künstler in England“ Bd. II
S. 78.
13
194
uns ein Weib entgegen, das nicht nur in ilirem Äusseren
den verkörperten Typus der wunderbaren englischen Frauen¬
schönheit darstellt, („that incarnation of healthy animal
beauty“) ^), sondern auch selbst eine Bildnerin der Schön¬
heit und des Schönen war, welches sie selbstherrlich ge¬
staltete, mit einem sehr eigenartigen Gestaltungsmaterial —
dem eignen Körper. Dieses Weib war Emma Damilton,
deren wunderbares Leben und Schicksal zugleich einen
merkwürdigen Beitrag zur Sittengeschichte der vornehmen
englischen Gesellschaft jener Zeit bildet und daher wohl
einer näheren nnd besonderen Betrachtung wert ist.
Emma Lyon wurde 1761 in der Grafschaft Chester
als Kind armer Eltern geboren, kam mit 12 Jahren als
Kinderwärterin in die Familie des Arztes Thomas zu
Hawarden, welcher sie stets ein dankbares Andenken be¬
wahrte. Mit 16 Jahren trat sie einen Dienst bei einem
Krämer in London an, kam dann zu einer reichen Dame,
bei welcher sie ihre grosse Leselust befriedigen konnte und
alle möglichen schlechten Eomane durcheinander las, was
ihre Phantasie frühzeitig erhitzte und verwirrte. Ihre sich
immer mehr entwickelnden körperlichen Reize verschafften
ihr eine Stellung in einer Familie, in welcher sie an allen
Gesellschaften und Vergnügungen derselben teilnahm, und wo
auch ihr Sinn für die mimischen Künste geweckt wurde.
Ihre fernere Laufbahn wurde bestimmt durch ihre
unvergleichliche Schönheit. Ein Zeitgenosse schildert
uns ihre äussere Erscheinung folgendermassen.
„Mit dem anmutsvollsten Wüchse verband sie eine
vollkommen regelmässige Gesichtsbildung und etwas unbe¬
schreiblich Liebliches und Anziehendes im Ausdrucke ihrer
9 Trail „Social England“ Bd. Y. S. 299.
195
'Gesiclitszüge und Mienen. Ihre zephyrartige Gestalt lieh
jeder ihrer Bewegungen eine seltene Grazie, lieicht und
tändelnd hatte ihre Kegsamkeit nichts ungestünaes und
die Heiterkeit, die sie umschwebte, war weit entfernt von
dem Ausdruck anlockenden Leichtsinns. Ihre Silberstimme,
ihr ausdrucksvoller, durch das richtigste Gehör geleiteter,
natürlicher Gesang fing schon an, im häuslichen Kreise
zu bezaubern und bald ward sie als thätige Teilnehmerin
an den dramatischen Spielen des Hauses ein Gegenstand
allgemeiner Bewunderung und einstimmigen Lobes. Schon
begann sie, jene Kühnheit und Sicherheit in ihrer Haltung
und ihrem ganzen Wesen zu zeigen, welche ihr vorwaltender
Charakterzug blieb“
Palumbo hat ihr Wesen in reiferen Jahren geschildert,
in dem eindrucksvollen italienischem Idiom, welches uns
menschlicheBeize noch treuer malt als jede andere Sprache'-^).
Emma knüpfte die ersten galanten Beziehungen auf
eigentümliche Weise an. Ein Verwandter von ihr wurde
zum Matrosen gepresst, und als sie sich bei dem Kapitän
John Willet Payne für dessen Freilassung verwendete.
9 „Geschichte der Lady Emma Hamilton“ Leipzig 1816
S. 25—26.
„Emma, giä adolescente, era dotata di singolare bellezza
che attraeya lo |sguardo di chi si recava in quella bottega.
Le sue forme gentili, la dolcezza del suo sguardo seducente,
la grazia semplice ed elegante, un tono di voce insinuante e
che scendera al cuore, i modi nrbani e familiari, facevano di
lei una di quelle bellezze che quando riuniscono in se un
animo sensibile e passionato, quadagnano a prima vista il
piü anstero degli uomini; ella potea dirsi appartenere al
numero delle piü attraenti bellezze inglesi del sno tempo“.
Palumbo „Maria Carolina: suo carteggio con Lady Emma
Hamilton“ Neapel 1877 S. 8.
13*
196
erlangte sie diese nur um den Preis ihres eigenen Körpers.
Sie wurde die Geliebte des Kapitäns. Darauf verliebte sich
Sir Henry Feathersto n, ein reicher und angesehener
Edelmann in sie, und sie wurde diesem von ihrem ersten
Liebhaber abgetreten, worauf sie auf Featherston’s Land¬
sitz in Sussex einige Monate lang in Glanz und Genuss lebte.
Im Herbst führte der Edelmann sie nach London, verliess
sie aber bald gänzlich, so dass sie der Armut preisgegeben
war. Da machte sie zufällig die Bekanntschaft des be¬
rüchtigten Charlatans Dr. Graham, des Besitzers jenes
berühmten „Tempels der Gesundheit“, den wir im 5. Kapitel
kennen lernen werden. Graham, von ihrer Schönheit
entzückt, fasste, um „den beschreibenden Erklärungen
seiner Lehre neues Leben zu geben und den sich schon
beschränkenden Kreis seiner Schüler auszudehnen“, den
kühnen Entschluss, ihnen in seinen Vorlesungen als „Er¬
läuterungsmittel“ ein junges weibliches Wesen vorzuführen^
welches zum vollkommenen Vorbilde der Gesundheit und
Schönheit geeignet wäre. Er suchte und fand — Emma,
die von dem Bande des Elends plötzlich zur Kepräsentantin
der segensreichsten Gottheiten erhoben, im einfachsten
Naturgewande den ganzen, schnell anwachsenden Kreis
lernbegieriger Schüler entzückte und mehreren berühmten
Malern und Bildhauern zum Muster diente. Mehrere-
damals verfertigte schätzbare Kunstwerke beider Gattungen
waren Nachbildungen dieser lieblichen Formen. Die Zahl
ihrer Verehrer ward immer grösser und beeiferte sich, sio
auch in ihrer äusseren Lage über jeden Mangel zu erheben“^).
Besonders der exzentrische Maler Eomney benutzte
ihre charakteristischen Darstellungen zu artistischen Nach-
1) „Geschichte der Lady Emma Hamilton“ S. 29 — 1^0..
197
bildungen. „Ein zweiter Apelles er, der früher schon
ein edles Weib und zwei Kinder verlassen, ward Emma
seine Campaspe; und oft sah man ihn mehrere Werke ver¬
nachlässigen, um sein Idol in irgend einem neuen Charakter
oder in einer neuen Stellung zu zeichnen ... Er fühlte
sich entzückt im Anschauen der wunderbaren Gewalt, mit
welcher sie ihre beredten Gesichtszüge zu beherrschen
wusste; und unter allen, oft sonderbar wechselnden Um¬
ständen, worin das Schicksal sie versetzte, suchte sie einen
edeln Stolz darin, ihm als Modell zu dienen. Und immer
belebten und veredelten die Kraft und Mannigfaltigkeit
des Ausdrucks ihrer Empfindungen die Werke des Künstlers.
Eins der ersten Gemälde, welches er nach dem beseelten
Modell entwarf, war Circe in Lebensgrösse, mit ihrem
Zauberstabe. Er malte es ungefähr um das Jahr 1782,
und die Wirkung, die es hervorbrachte, war ausserordent¬
lich. Eine Calypso, eine Magdalene, eine Wald-
n y m p h e , eine Bacchantin, die Pythische
Priesterin auf dem Dreifuss und eine heilige
Cäcilia verdankten dem nämlichen schönen Urbilde ihren
Ursprung“ ^).
Unter den zahlreichen, von Komney gemalten Bild¬
nissen Emma ’s stellt eines der lieblichsten sie dar, wie
sie mit einer gemischten Empfindung der Bewunderung
und des Entzückens auf eine Sensitive schaut, wobei die
Idee des Künstlers war, in ihr eine Gottheit des Gefühles
zu bezeichnen ^).
1) a. a. S. 31—32.
2) Vgl. Chesneau „La peinture angiaise“ S. 50 — 51
H. D. Traill „Social England“ Bd. V. S. 299.
198
Ein sehr kunstliebender Edelmann Sir Charles-
Greville, aus dem Hause Warwick, machte ebenfalls
Emma zu seiner Geliebten, bildete ihre Talente weiter
aus und führte sie nach Eanelagh, damals „dem Lieblings¬
aufenthalt der Fröhlichkeit und Galanterie, wo ihre Nymphen¬
gestalt die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, und
solche Bewunderung erregte, dass sie sich veranlasst sah,
dem um sie versammelten Kreise mehrerer Freunde ihres
Geliebten den Genuss einiger höchst anziehender Proben
ihrer musikalischen und mimischen Talente zu geben“ i).
Sie nahm ihre Mutter zu sich, nannte sich jetzt Emma
Harte und wurde von Sir Greville Mutter von drei
Kindern, zwei Töchtern und einem Sohn, für deren Tante
sie galt.
Sir Charles Greville war der Neffe des berühm¬
ten Diplomaten und Kunstkenners Sir William Ha¬
milton, des britischen Gesandten am Hofe von Neapel,
des von Winkelmann und Goethe gepriesenen Freundes
und Gönner aller nach Italien wallfahrtenden Künstler.
Wraxall schildert Sir William Hamilton als eine
Gestalt dem Sennor Rolando, dem Räuberhauptmann in
Gil Blas ähnlich, mit langem, magerem, dunkelbiaunem
Gesichte und einer grossen Adlernase, mit zwar etwas
gemeinen, doch geistreichen Zügen.
Hamilton gehört zu der Zahl jener gelehrten
englischen Epikuräer, die sich seit der Mitte des
18. Jahrhunderts im sonnigen Italien niedergelassen hatten,,
um hier in einer milden Natur und umgeben von den
9 Geschichto der Lady Hamilton S. 33.
Barthold a. a. 0. Bd. II, S. 308. Auf dem Bilde von
B eechey erscheint er als eine zusammengeschrumpfte Gestalt,
mit kleinen Augen und von fahler Gesichtsfarbe.
199
herrlichsten Kunstschätzen, im Verkehr mit Gelehrten und
Künstlern, die Freuden des Lebens in reichstem Maasse
zu gemessen. Ich nenne von ihnen ausser Hamilton
noch Sir Horace Man, den englischen Kesidenten in
Florenz, Acton, den Minister Ferdinands IV. von
Neapel, Lord Pembroke. So führte auch William
Hamilton in Neapel ein äusserst vielseitiges Genuss¬
leben. Er „trieb die modische Philosophie, auch die
Dichtkunst, studierte wie der ältere Plinius die Erschein¬
ungen des Vesuvs und als moderner Pausanias die Alter¬
tümer von Pompeji und Herkulanum. Dabei war er der
leidenschaftlichste Jäger und konnte, selbst als Sieben-
zigjähriger Tage und Wochen hindurch mit dem Könige
in den Bergwäldern umherziehen, oder im Sonnenbrände
auf offenem Bote den Fischen mit dem Wurfpfeile nach¬
stellen. Sein Feuer und seine bacchantische Lust an
Leibesbewegungen war selbst in noch höherem Alter so
wenig erloschen, dass er noch im April 1801, zur Feier
des Sieges Lord Nelsons vor Kopenhagen, mit seiner
Gattin die Tarantella tanzte, und die vierzig Jahre jüngere
Virtuosin gänzlich erschöpfte. Dass der italienisierte
Schotte auch an solcher Augenweide Gefallen hatte, wie
der Prinz von Francavilla seinen Gästen beiderlei Ge¬
schlechts, unter ihnen der Herzogin von Kingston und
Casanova, anstössig für unser sittliches Gefühl ver¬
anstaltete, erfahren wir aus Göthe’s Reise, welcher nach
Tische ein Dutzend Jungen im Meere schwimmen sah,
eine Lust, welche Ritter Hamilton jeden Nachmittag
bezahlte.“
Dieser kunst- und lebensfrohe Mann kam im Jahre
1789 nach London und lernte hier im Hause seines
9 ibidem S. 309.
200
Neffen Greville die schöne Geliebte desselben kennen,
deren Schönheit und künstlerischer Geist ihn sofort ge¬
fangen nahmen und die lebhafteste Begierde nach ihrem
Besitze in ihm erweckten. Greville’s missliche Ver¬
mögensumstände begünstigten die Erfüllung dieses Wun¬
sches, und so fand Hamilton, wie Goethe in der
italienischen Reise sagt, „nach so langer Kunstliebhaherei,
nach so langem Naturstudium, den Gipfel aller Natur-
und Kunstfreude in einem schönen Mädchen.“ Emma
begleitete ihn nach Italien und vervollkommnete sich dort
unter Hamilton’s Leitung in ihren künstlerischen
Anlagen so sehr, dass der entzückte Lehrer sie schon im
folgenden Jahre heiratete, wodurch sie den Zutritt bei
Hofe erlangte. Hier gewann sie bald sehr grossen Einfluss,
welcher besonders durch ihre immer grösser werdende
Vertraulichkeit mit der Königin Karolina von Neapel sich
befestigte. Über den Charakter und die ausschweifende
Lebensweise der letzteren habe ich in meinem Werke über
den Marquis de Sa d e (3. Auflage S. 288 — 291) aus¬
führliche Mitteilungen gemacht. Nach der kritischen
Revision der Mitteilungen von G o r a n i und C o 1 e i t a durch
den deutschen Forscher Moritz Brosch kann nicht
bezweifelt werden, dass Karoline den Beinamen einer
neapolitanischen Messalina verdient, indem sie nicht nur
mit zahlreichen Männern vertraute Beziehungen unterhielt,
sondern auch zu ihrer Freundin Emma Hamilton
in naturwidriger Liebe entbrannte. Beide waren unzer¬
trennlich und wetteiferten im Arrangement üppiger Feste
und in der künstlerischen Verfeinerung eines beständigen
Genusslebens. Emma fand auch hier zahlreiche An¬
beter und blieb keineswegs unempfindlich gegen dieselben.
So erfreute sich u. a. Graf Bristol, der Bischof von
201
Derry, ihrer Gunst, ein geistvoller, lebhafter, derbwitziger
Mann, dessen Unterhaltung unerschöpflich an Anekdoten
und Conmots war. Einer der Briefe Lord Bristol’s an
Lady Hamilton schliesst mit den Versen:
Wär’s Raserei, o Emma, Dich zu lieben.
Wer strebte jemals weise dann zu sein?
Die berühmteste und für ihr Leben folgenreichste
Liaison der Lady Hamilton war diejenige mit Nelson,
•dem grossen britischen Admiral und Sieger von Abukir,
welcher im Jahre 1798 zuerst nach Neapel kam, wo ihm
zu Ehren von Lord und Lady Hamilton ein grosses
Fest veranstaltet wurde, dem 1800 Personen beiwohnten.
Bald wurde das Verhältnis zwischen Emma und Nelson
sehr innig. Sie durchstreiften gemeinschaftlich in Ver¬
kleidung die Strassen Neapels und besuchten öffentliche
Lokale, wo sie in Gesellschaft von Mädchen sich ergötzten.
Von Neapel begleitete Nelson die während eines Auf¬
ruhrs mit dem Hofe nach Palermo fliehende Geliebte und
liess sich mit ihr von den begeisterten Sicilianern durch
rauschende Feste verherrlichen.^) Im Jahre 1800 kehrten
1) Palumbo (a. a. 0. S. 44) teilt das folgende von dem
Chirurgen Professor Antonio La Manna verfasste Gedicht
nuf das berühmte Liebespaar mit:
Di queste mense a cimentar l’onore
Non verrä la discordia in fetro aniante
Col pomo, onde Giunon, l’Ideo pastore
Bieca ancor guarda, e la littä sul Xanto.
Bella Miledi, e quäl superbo core
Puö contrastarti di bellezza il yanto ?
Si Pallade, Giunon, la Dea d’amore
Perdon moi pregi e ma beltade accanto ?
202
Lord und Lady Hamilton in Begleitung von Nelson
nach London zurück und bezogen dort eine gemeinschaft¬
liche Wohnung in Piccadilly, wo Emma ihrem Geliebten
einen Knaben gebar, der bei der Taufe den Namen seines
Vaters, Horatio Nelson, erhielt. Während der Tren¬
nung, die durch Nelson’ s Expeditionen nach Kopenhagen
und Boulogne veranlasst war, richtete Ne Iso n die leiden¬
schaftlichsten Briefe an das geliebte Weib, in denen es
u. a. heisst: „Sie brauchen kein Weib in der Welt zu
fürchten ; denn alle ausser Ihnen sind mir nichts. Ich
kenne nur eine; denn wer kann wie meine Emma sein?‘‘ —
„Möge mir bald der Himmel den Segen verleihen, Ihr
liebes Engelgesicht zu sehen ! Sie sind unvergleichlich.
Nein, keine ist wert. Ihnen die Schuhe zu putzen. Ich
bin, war stets und werde immer sein Ihr fester, bestän¬
diger und unwandelbarer Freund!“ Am 6. September
1802 starb Sir William Hamilton, wodurch Emma
gezwungen wurde, das Haus in Piccadilly zu verlassen,
und nach Clargesstreet zog. Nelson setzte ihr eine
jährliche Summe von 1200 Pfund aus, nachdem sie ihm
noch ein Mädchen geboren hatte. Durch den Heldentod
Nelson’s bei Trafalgar (21. Oktober 1805) fand diese
neuerliche Vereinigung ein jähes Ende. Kurz vor seinem
Tode rief Nelson aus: „Ich scheide, es wird bald mit
mir vorbei sein. Meiner lieben Lady Hamilton gebt
mein Haar und Alles, was mir sonst gehört!“ und noch
Chi la prudenza d’Amilton? a cui
(Ne mai scelta miglior far si potea)
La Brettagna aflidö gli affari moi?
Chi dl Giierriero il vanto altri che Marte
Contrastar ti poträ, Nelson? e sia
Giudice pur Pistesso Buonaparte.
203
einmal, schon sterbend, ermahnte er den Arzt: „Hardy,
sorgen Sie für meine liebe Lady Hamilton! Sorgen
Sie für die arme Lady Hamilton!“
Nach dem Tode ihres Heldengeliebten ging es mit
Emma schnell abwärts; sie ergab sich einem ausschweif¬
enden Leben, stürzte sich in Schulden, kam 1813 ins
Schuldgefängnis und starb 1815 zu Calais an einem
Leberleiden A)
Diese ausserordentliche Frau hat mehr noch als durch
ihren galanten und abenteuerlichen Lebenslauf auf einem
anderen Gebiete eine dauernde sitten- und kunstgeschicht¬
liche Bedeutung erlangt. Sie war die Erfinderin und
erste vollendete Darstellerin^) der sogenannten plastischen
Attitüden, der „lebenden Statuen“, unserer heutigen
„lebenden Bilder“ (Tableaux vivants), welche ja jetzt in
den Varietes eine so grosse und zweideutige Bolle spielen,
' von Lady Hamilton aber, dieser plastischen Zauberin, mit
höchster und edelster Kunst ausgeführt wurden. Schön
charakterisiert B ar b ey d’Aurevilly den Charakter von
Emma’s Kunst: „Comme tout est singulier dans ce pays
original, le meilleur sculpteur qu’il ait produit etait une
femme, Lady Hamilton, digne d’etre Italienne, et qui
sculptait, par la pose, dans le marbre du plus beau corps
qui ait jamais palpite. Statuaire etrange qui etait aussi la
0 „Geschichte der Lady Emma Hamilton“ Leipzig 1816;
„The Letters of Lord Nelson to Lady Hamilton“ London 1814,
2 Bände; J. C. Jeaffreson „Lady Hamilton and Lord Nelson“
London 1887, 2 Bände.
2) Nach Friedländer („Darstellungen aus der Sitten¬
geschichte Roms“ 6. Auflage, Leipzig 18i9 Bd. II, S. 456) war
allerdings schon der „Gewand- oder Manteltanz“ der
römischen Kaiserzeit eine den mimisch-plastischen Darstell¬
ungen der Lady Hamilton verwandte Tanzart.
204
-statue, et dont les cliefs-d’oeuvre sont morts avec eile ; gloire
viagere qui ri’a pas plus dure que les fremissements de
la vie et l’ardente emotion de quelques Jours ! C’est encore
une page ä ecrire; mais oü prendre la plume de Diderot
pour la tracer?“^)
Die Zeitgenossen haben uns enthusiastische Schilde¬
rungen der zauberhaften Metamorphosen hinterlassen, in
welchen Emma die herrlichsten Bilder der Antike in
schneller Folge vor den entzückten Augen der Zuschauer
vorbeiführte, und es seien einige ausgezeichnete Schilde¬
rungen jener „lebenden Skulpturen“ hier mitgeteilt.
„Das Genie der Mrs. Hamilton“, sagt Archen-
holtz,^) „zeigte sich aber vorzüglich in einer neuen Er¬
findung. Es war eine Nachahmung der antiken Gewänder
und anderer Kleidungsarten berühmter weiblicher Schil-
dereien und Bildsäulen, welche gemalte oder gemeisselte
Figuren sie sodann selbst mit grosser Kunst personificierte.
So stellte sie das lebende Bild einer im Nachdenken hin¬
gegossenen Madonna des Guido auf; und in wenig
Augenblicken, vermöge einer geringen Veränderung im
Gewand und äussern Schmuck, war die Madonna ver¬
schwunden, und in eine vor Fröhlichkeit taumelnde Bac¬
chantin, in eine jagende Diana, und dann wieder in eine
mediceische Venus verwandelt. — Auf diese Weise stellte sie
alle durch den Pinsel und den Meissei erzeugten grossen
Kunstwerke, insofern das schöne Geschlecht der Gegen¬
stand desselben war, mit einer bewundernswürdigen Täu¬
schung dar, denn die von den Künstlern auf Leinwand
J. Barbey d’Aurevilly „Du Dandysme et de G.
Brummeil“ Paris 1862 S. 162 — 163.
2) Archen holtz „Britische Annalen“ 1791 Bd. VII, S.
167—168.
205
und in Stein hingezauberten Figuren wurden nun gleich¬
sam durch sie beseelt. ‘‘
Mrs. St. George sah Lady Hamilton und ihre
Darstellungen im Jahre 1800 in Deutschland, wo sie auf
der Durchreise nach England verweilte, und beschreibt
ihre Person und ihre Vorstellung folgendermassen :
„Ihre Figur ist gross, aber, mit Ausnahme der Füsse
wohl proportioniert. Ihre Knochen sind robust, und sie
hat ein ausserordentliches Embonpoint.^) Sie hat die
Büste einer Ariadne; alle ihre Züge sind fein, besonders
die Kopfform und die Ohren. Die Zähne sind ein wenig
unregelmässig, aber ziemlich weiss. Ihre Augen hellblau^
mit einem braunen Fleck in dem einen, welcher Mangel
aber ihrer Schönheit und dem Ausdrucke ihres Gesichtes
keinen Eintrag thut. Augenbrauen und Haare sind
schwarz, und ihr Teint ist nicht zart. Ihr Gesichtsaus¬
druck ist markant, häufig wechselnd und erregt Interesse,
ihre Bewegungen sind im gewöhnlichen Leben ungraziös ;
ihre Stimme ist laut, doch nicht unangenehm. . . .
Ich frühstückte mit Lady Hamilton und sah sie nach
einander die schönsten Statuen und Gemälde darstellen.
Sie nimmt Stellung, Ausdruck und Draperie mit grosser
Leichtigkeit, Schnelligkeit und Genauigkeit an. Einige
indische Shawls, ein Stuhl, einige antike Vasen, ein Kranz
von Rosen, ein Tamburin, und einige Kinder bilden
ihren ganzen Apparat. Sie steht an dem einen Ende
des Zimmers, mit einem hellen Licht zur Linken, während
die Fenster alle geschlossen sind. Ihr Haar ist kurz,
nach antiker Art frisiert und ihr Gewand ein einfaches
Kattunhemd, sehr leicht, mit losen Ärmeln bis zum Hand-
1) Damals stand sie schon im 40. Lebensjahre.
206
gelenk. Sie arrangiert die Shawls so, dass sie griechische,
türkische und andere Draperien oder auch zahlreiche
Arten von Turbans bilden. Diese Herstellung von Tur¬
bans ist ein wahres Kunststück, so schnell, leicht und
schön geht es von statten. Es ist eine herrliche Dar¬
stellung, amüsant für den Nichtkenner und im höchsten
Grade interessant für den Kunstliebhaber. Hauptsächlich
ahmt sie die Antike nach. Jede Vorstellung dauert zehn
Minuten. Es ist merkwürdig, dass sie, die so ungraziös
im gewöhnlichen Leben ist, während der Vorstellung ein
Bild höchster Schönheit und Grazie wird.^i)
Eine unvergleichlich schöne Schilderung der Attitüden
der Lady Hamilton, die in ihrer leichten Grazie und
Kürze uns am besten diese Eigenschaften bei der Hamilton
ahnen lässt, hat Goethe in der „Italiänischen Keise“
entworfen, und damit der wunderbaren Künstlerin das
dauerndste und würdigste Denkmal gesetzt.
„Eine Engländerin von etwa zwanzig Jahren. Sie
ist sehr schön und wohlgebaut. Er hat ihr ein Griechisch
Gewand machen lassen, das sie trefflich kleidet; dazu
löst sie ihre Haare auf, nimmt ein paar Shawls und macht
eine Abwechslung von Stellungen, Geberden, Mienen u. s. w.,
dass man zuletzt wirklich meint, man träume. Man schaut,
was so viele Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz
fertig, in Bewegung und überraschender Abwechselung.
Stehend, knieend, sitzend, liegend, ernst, traurig, neckisch,
ausschweifend, bussfertig, lockend, drohend, ängstlich u. s. w.,
eins folgt aufs andere und aus dem andern. Sie weiss zu
jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu
1) Joseph Grego „Thackerayana. Notes and Anec-
dotes. Illustrated by nearly six hundred Sketches by William
Makepeace Tliackeray“ London 1875 S. 111 und S. 112.
207
wechseln, und macht sich hundert Arten von Kopfputz
mit denselben Tüchern. Der alte Ritter hält das Licht
dazu, und hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand
ergeben. Er findet in ihr alle Antiken, alle schönen Profile
der Sicilianischen Münzen, ja den Belvedereschen Apoll
selbst. So viel ist gewiss, der Spass ist einzig! Wir
haben ihn schon zwei Abende genossen. Heute früh malt
sie Tischbein.“
’ Die schönsten Attitüden der Lady Hamilton hat
der preussische Historienmaler Friedrich Rehberg ge¬
zeichnet und in einem Bande von 24 Kupferstichen ver¬
öffentlicht."^)
Henry Angelo erwähnt in seinen „Lebenserinner¬
ungen“, dass Emma auch einst in der Königlichen
Akademie der Künste Modell gestanden habe.^) Vielleicht
bezieht sich hierauf eine sehr drastische Radirung des
Karrikaturisten Thomas Rowlandson, früher im
Besitze des Bibliophilen Pisanus Fraxi, jetzt im South
Kensington Museum zu London. Sie trägt die Bezeichnung
„Lady H * * ^ ^ Attitudes“ und stellt das Innere
eines Malerateliers dar: Ein alter Mann zieht einen
Vorhang zurück und zeigt auf ein nacktes Mädchen, welches
vor einem Jüngling Pose steht, der vor einer Staffelei sitzt,
mit einer Hand zeichnet und mit der anderen ein Glas
vors Auge hält. Im Hintergründe rechts umarmen sich
zwei Gestalten und links vorn, auf dem Boden, küssen
1) Drawings faithfully copied from Nature etc.“ By
Frederick Rehberg, Historical Painter in Ins Prussian
Majesty’s Service at Rome, 1794.
2) „Reminisceuces of Henry Angelo, with Memoirs of
his late Father and Friends“ London 1830 Bd. II, S. 242.
208
sich zwei Köpfe. Die Komposition ist sehr geistreich, und
besonders das nackte Mädchen gut gezeichnet^).
Lady Hamilton ’s plastische Darstellungen fanden
besonders in Deutschland ernsthafte Nachahmungen, während
sie in anderen Ländern sehr bald zu den frivolen „poses
plastiques“ und „tableaux vivants“ ausarteten.
Neben Elise Bürger (1769 — 1833) und Sophie
Schröder (1781 — 1868) war es besonders Johanna
Henriette Eosine Hän del-Schüt z (1772 — 1849)r
die in Deutschland durch ihre vortrefflichen Darstellungen
plastischer Attitüden allgemeines Aufsehen erregte. Sie
war ursprünglich Schauspielerin und hatte dann 1794 in
Frankfurt a. M. durch den Maler Pforr das Kehberg’-
sche Kupferwerk über die Attitüden der Lady Hamilton
kennen gelernt, wodurch die Neigung zu ähnlichen künst¬
lerischen Darstellungen in ihr geweckt worden war, der sie
später nach ihrer 1807 erfolgten Heirat mit dem dramatischen
Schriftsteller Schütz ungehindert folgen konnte. Bis-
zum Jahre 1820, wo sie ihre Laufbahn beschloss, unter¬
nahm sie grosse Kunstreisen in allen europäischen Ländern,
zur Darstellung ihrer höchst originellen und phantastischen
Attitüden, ln dem Kapitel „Die Kindesmörderin‘‘ seiner
„Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ hat der Maler
Wilhelm von Kügelgen eine sehr dramatische Schilde¬
rung einer solchen Vorstellung der Händel-Schütz
gegeben, aus der wir die interessantesten Stellen mitteilen..
„Als die herrliche Gestalt das Podium bestieg, war
alles Auge, und nun begannen die wunderbaren so berühmt
gewordenen Gewandvvandelungen, an denen mein Vater sich
L Vgl. Pisanus Fraxi „Centuria librorum abscondito-
rum“ London 1879, S. 357 — 359.
209
aufrichtig ergötzte. Alle weiblichen Kostüme des klassischen
Altertums, priesterliche und profane, vornehme und geringe,
ägyptische, griechische, römische wechselten schnell vor
unseren Augen in den Attitüden bekannter antiker Bild¬
werke, und immer war die Künstlerin höchst reizend. Jede
Stellung, jeder Faltenwurf stand ihr wohl an, und selbst
meine Mutter schien ihr mit wachsendem Interesse zuzusehen.
Ich hing mit trunkenen Blicken an der götterartigen Er¬
scheinung . . . Als Sibylle imitierte die Künstlerin ein be¬
kanntes Bild meines Vaters. Dann streckte sie sich nieder auf
die Estrade, und unter ihren weiten Schleiern schienen die
mächtigen Glieder einer Löwin zu schwellen; sie stellte
eine Sphinx dar. Die Sphinx aber ward zur Jammergestalt
einer büssenden Magdalena mit langem aufgelösten Haar,
und diese erhob sich dann als . Mater dolorosa, um
sich endlich in eine heitere, strahlend schöne Himmels¬
königin zu verklären. Ein Zuck und Euck in den Ge¬
wändern, und die Verwandlung war stets vollständig
vollbracht.
Nun aber geschah das Überraschendste. Die Züge
der Actrice verdunkelten sich, ihr Auge stierte, ihr Haar
geriet in Unordnung, die schweren Gewänder fielen ihr
vom Leibe und in wüstem liederlichem Aufzug schien sie
heissen Gewissenskampf zu kämpfen. Sie kniete nieder,
wollte beten, aber der Himmel war verschlossen, die Hölle
siegte. Da plötzlich schoss sie wie ein Lämmergeier herab
auf meine kleine Schwester, packte sie, riss sie mit festem
Griff vom Schoss der Mutter und sprang zurück mit
ihrem Kaube. In ihrem Gesicht malte sich Wahnsinn
und Verzweiflung, ein Dolch blitzte auf, und das vor
Schrecken halbtote Kind hing den Kopf zu unterst über
den nackten fleischigen Arm der Kindesmörderin. Das
14
210
Alles war das Werk von ein paar Augenblicken, und diese
Darstellung vielleicht die glänzendste und beste; aber
meiner Mutter war’s doch ausser allem Spasse. Erschrocken
sprang sie auf und nahm ihr Kind sanft aus den Händen
der Furie zurück. Mit solchem Knalleffekte war die
Schaustellung beendet.“
Wie man aus dieser Darstellung ersieht, erfuhr die
plastisch - mimische Kunst in Deutschland eine Fort¬
bildung nach der Richtung des Dramatischen hin, während
die Hamilton mehr das Statuenhafte betont hatte. Jene
erstere Richtung hat auch ein männlicher Darsteller,
Gustav Anton, Freiherr von Seckendorff (1775
bis 1823) in seinen öffentlichen Vorstellungen gepflegt
und die Bedeutung derselben für die Schauspielkunst in
einem besonderen Werke untersucht. i)
0 G. A. Y. Seckendorff „Vorlesungen über Dekla¬
mation und Mimik“ Braunscbweig 1816, 2 Bände. — Vgl.
auch die bedeutende Abhandlung über dieses Thema von
Wilhelm Henke: „Zwei Arten von Stil in der Kunst der
Mimik in dessen Vorträgen über „Plastik, Mimik und Drama“.
Rostock 1892, S. 162—188.
Viertes Kapitel.
Die Mode.
Kleidung und Mode sind ein Produkt des mensch¬
lichen Geschlechtslebens. Dieser Satz, noch vor kurzem,
z. B. von Schurtz in seiner „Philosophie der Tracht“,
bestritten, ist durch die exakte Forschung der letzten
Jahre, wie sie besonders von hervorragenden Anthropologen
und Ethnologen (v. d. Steinen, Westermarck, Stratz
u. A.) betrieben worden ist, in vollem Umfange bestätigt
worden.^) Hiernach hat sich die Kleidung als ein Mittel
der geschlechtlichen Anlockung entwickelt, welche durch
ihre ständige Begleiterin, die Mode, auf die verschieden¬
artigste Weise variirt worden ist, sich aber immer auf
jene Eeize zurückführen lässt, welche durch die Hervor¬
hebung und Vergrösserung gewisser Teile auf der
einen Seite, durch ihre Entblössung auf der andern
Seite hervorgebracht werden.^) Sowohl die Verhüllung
1) Es dürfte gerade in Beziehung auf die Betrachtung der
englischen Mode von Interesse sein, dass schon im vorigen
Jahrhundert William Alexander, der berühmte Verfasser
der „History of women“, in diesem Werke den sexuellen Ur¬
sprung der Kleidung behauptet hat. Vgl. Bd. II. S. 84—85.
2) Vgl. über diese Grundprinzipien der Mode J. Bloch
„Beiträge zur Aetiologie der Psychopatbia sexualis“ Teil I
Dresden 1902 S. 139—175.
14*
212
gewisser Teile als auch ihre Entblössung dienen io
gleichem Masse durch Vermittelung der erwähnten Keize^
der sexuellen Erregung, was schon Tasso erkannt hat,,
wenn er sagt :
Non copre sue bellezze, e non l’espöse.
Unschwer wird man bei dem Studium der Moden
der verschiedenen Zeiten und Völker überall auf diese-
beiden sexuellen Grundelemente derselben stossen, wie-
dies auch aus der Betrachtung der wichtigsten Momente
in der Geschichte der englischen Mode sich ergeben wird.
Von einer englischen Mode kann man nur in
einem beschränkten Sinne reden, da England noch mehr
als alle übrigen europäischen Länder frühzeitig unter den
in dieser Hinsicht allbeherrschenden Einfluss Frankreich&
geriet. Walsing h am datirt die Einführung und Ver¬
breitung der französischen Moden in England von der Er¬
oberung von Calais im Jahre 1347 an.^) Immerhin lassen sich
aber auch einige Besonderheiten der englischen Mode fest¬
stellen, und besonders in den späteren Zeiten prägt sich der
englische Nationalcharakter vielfach auch in auffallenden
Erscheinungen der Mode aus, wie denn das sogenannte-
Dandytum etwas specifisch Englisches darbietet.
Während die angelsächsischen Eroberer im allgemeinen
an der primitiven germanischen Tracht festhielten,
huldigten die Normannen bereits einem grösseren Kaffine-
ment in der Mode und entfalteten einen grösseren Prunk,,
der sich besonders in dem Aufkommen seidener Kleider
(mit Ende des 13. Jahrhunderts) geltend machte. Anno-
1) J. D’Israeli „Curiosities of literature“ London 1895 S. 84..
Vergl. Bruno Köhler „Allgemeine Trachtenkunde“'
Teil II, Leipzig (Reclam) S. 188 — 198.
213
1286 erschienen auf einem Balle in Kennelworth Castle
in Warwickshire zuerst die Frauen einiger Edelleute in
seidenen Kleidern. i) Dabei wurden die Oberkleider weit
und lang, die Unterkleider eng und kurz getragen.
Erstere bedeckten ringsum den Boden. Diese „Kleider¬
schwänze“ wurden vielfach Gegenstand der Satire. „Die
Damen machen ihre Schwänze jetzt tausendmale so lang
als Pfauen und Elstern“ heisst es in einem alten englischen
Spottgedichte.^) Dieses überlange Oberkleid war bei
Prostituirlen seitlich fast bis zur Hälfte hinauf aufgeschlitzt,
so dass die mit enganliegenden Hosen bekleideten Beine
sichtbar wurden. Dazu kamen noch besondere Beutel
für die Brüste, welche dadurch ganz besonders accentuirt
wurden.^)
Die eigentliche allmächtige Herrschaft der Mode
beginnt im 14. Jahrhundert, besonders in den letzten
Jahrzehnten desselben. Bruno Köhler bemerkt: „Immer
eifrigerwurden jetzt inEngland die französisch-burgundischen
Modethorheiten nachgeahmt. Bisher waren noch immer
einige Jahrzehnte darüber vergangen, ehe man sich die
in Frankreich aufgekommenen Bekleidungsarten ganz zu
eigen gemacht hatte; jetzt hielt man jedoch in allen
Modedingen mit den Franzosen gleichen Schritt. Das
sich wieder bemerkbar machende Bestreben, den fremden
Gewändern ein besonderes englisches Gepräge zu ver¬
leihen, führte bald dahin, dass die bizarren französisch-
b Alexander „History of Women etc.“ London 1779
Bd. 11. S. 133.
2) Friedrich Hott enroth „Trachten, Haus- Feld- und
Kriegsgeräthschaften der Völker alter und neuer Zeit.“ 2.
Auflage, Stuttgart 1891 Bd. II S. 133.
3) Bruno Köhler a. a. 0. Bd. II S. 219 — 220.
214
burgundischeii Kleider in England zum Teil ein noch
ungeheuerlicheres Aussehen erhielten und sich demgemäss-
auch noch entsprechend unbequemer im Gebrauch erwiesen
als in Frankreich. In der Folge macht sich dann ein
derartiger Kleiderluxus geltend, dass selbst die niedere-
Bevölkerung Hab und Gut opferte, nur um möglichst
prächtig gekleidet erscheinen zu können“. i)
Dieser Luxus war besonders zur Zeit Richards 11^
unerhört. Sir John Arundel besass nicht weniger als-
52 neue Anzüge aus golddurchwirkten Kleidern. Die-
Prälaten insbesondere schwelgten in den luxuriösesten
Extravaganzen der Mode. Chaucer sagt von ihnen, dass-
sie täglich ihre Kleidung wechselten (had „chaunge of
clothing everie dlaie“). Er hat in „The Persone’s Tale^^
die ganze scharfe Lauge seiner Satire über diesen Mode¬
teufel seiner Zeit ergossen und verbreitet sich dort ins¬
besondere über die in geschlechtlicher Beziehung höchst
bedenklichen Folgen der übergrossen „scantness“ d. h.
Enge der Hosen, deren enges Anliegen die Gesäss- und
Genitalregion in der schamlosesten Weise hervortreten
Hess, so dass bei vielen Personen „the buttokkes behind“
aussahen, „as if they were the hinder part of a sheape
in the ful of the mone.“^) Indem man nach Hotten roth,
dem Beispiele des effeminirten Richards II. folgend,
die weiten Ärmel auch an den knappen Röcken anbrachte,
die engen und kurzen Ärmel mit den Fahnen aber an
den schleppenden Roben, welche um den Oberkörper her
gleichfalls fest anschliessend gemacht wurden, befestigte,
brachte man es zuwege, dass die Männer, namentlich von
hinten betrachtet, wie Weiber aussahen. Überdies
ibidem Bd. IV S. 26.
2) D’Israeli u. a. 0. S. 83 und S. 84.
215
stattete man die langen Röcke noch mit einem Stehkragen
aus, welcher vorn an das Kinn stiess und hinten etwas
höher an die Haarwurzeln. Dazu rasierte man das Gesicht
und trug es völlig bartlos in weibischer Glätte.^) Hinzu
kam noch eine ungemein grosse Mannichfaltigkeit der
Farben in den einzelnen Teilen der Kleidung, wie uns
dieselbe besonders aus den Schilderungen in Chaucer’s
„Canterbury Tales vertraut ist. Sogar ein und dasselbe
Kleidungsstück war verschiedenfarbig (party-coloured).
Ein Strumpf war oben weiss und unten rot, oder weiss
und blau, oder weiss und schwarz, oder schwarz und rot
u. dgl. m.“) Alles dieses musste zu einer Verweichlichung
und Verweiblichung der Männer führen und den homo¬
sexuellen Beziehungen einen bedeutenden Vorschub leisten.
Diese bunte und abenteuerliche Tracht erhielt sich
durch das ganze 15. Jahrhundert bis fast zur Mitte
des 16. Jahrhunderts. Ein altes von dem geistreichen
Andrew Borde (geboren 1480) gezeichnetes Bild aus
der Zeit Heinrichs VIH. spielt in sehr witziger Weise
auf diese „wild variety of dresses“ in jener Epoche an.
Es stellt einen nackten Engländer dar, der am rechten
Arme ein Kleidungsstück hängen hat und in der linken
Hand eine Scheere hält, mit der Unterschrift:
I am an Englishman, and naked I stand here,
Musing in my mind, what rayment I shall were;
For now I will were this, and now I will were that,
And now I will were, what I cannot teil what.^)
Während unter Hei nric h VIIL auf der einen Seite
die glattrasierten Gesichter verschwanden und dem Barte
0 Hottenroth a. a. 0. Bd. II. S. 133.
2) D’Israeli S. 84.
3) DTsraeli a. a. 0. S. 84.
216
Platz macbten, tauchte auf der anderen Seite eine neue
unsittliche Eigenthümlichkeit der Mode auf, das war die
sogenannte Schamkapsel der Männer, eine besondere
Auspolsterung der Hosen in der Gegend der Geschlechts¬
teile, die dadurch in der unanständigsten Weise gewisser-
massen nach aussen projiciert und den lüsternen Blicken
preisgegeben wurden. H o 1 1 e n r o t h schildert die scham¬
lose Hosentracht jener Zeit folgendermassen : „Man trug
die Hosen häufig der Länge nach in Eiemen zerschlitzt,
mit ausgepolsterten, andersfarbigen Unterhosen gefüttert
und mit farbigen Zeugstreifen wagrecht in kurzen Zwischen¬
räumen verbunden, oder man schmückte die ausgestopften
Hosen sonstwie mit bunt unterlegten Schlitzen. So
gestaltet führten die Hosen den Namen „Trussen.“ Die
Schamkapsel, auswattiert und geschlitzt, kam auf einen
dreieckigen Latz zu sitzen, und sah, während die Trussen
von den Rockschössen fast ganz verdeckt wurden, stets
zwischen den letzteren hervor, “i)
In der elisabethanischen Periode hinderte die steife
spanische Tracht durchaus nicht die Entfaltung eines
glänzenden Luxus und das Auftreten verschiedener
Excentricitäten auf dem Gebiete der Mode. So wurde
nach J. D’ Israeli die Mode der enormen Beinkleider,
bis zu den lächerlichsten Excessen gesteigert. Die Stutzer
jener Zeit stopften ihre Hosen mit Lumpen, Federn und
anderen Gegenständen aus, bis sie dieselben zu einer
enormen Weite aufgetrieben hatten, so dass sie grossen
Säcken glichen, und man bei öffentlichen Schauspielen
eigene Sitze für diese ungeheuerlich aufgebauschten unteren
Partien herrichten musste. Dem entsprechend wurden
Hottenroth a. a. 0. Bd. II S. 141.
217
die Damen durch riesige Reifröcke buchstäblich in gehöriger
Entfernung von einander gehalten. Dabei vereinigten
die echten Stutzer alle Moden der Welt in ihrem Anzüge.^)
Nimmt man noch die bekannten enormen Halskrausen
der spanischen Tracht hinzu, die sich aber in England
allmählich an Grösse und Umfang verzehnfacht hatten,
so begreift man, welch eine Last ein solches ä la mode ge¬
kleidetes Individuum mit sich herumschleppte, und wie
froh man damals sein musste, wenigstens in der Nacht
derselben entledigt zu sein und gänzlich nackt sich zur
Ruhe zu begeben. Denn bis auf Jak ob 1. waren Nacht¬
hemden noch etwas sehr Seltenes. Archenholtz be¬
richtet: „Als dieser König noch ein Kind und unter der
Aufsicht der Gräfin von Mar war, wurde er in der Nacht
von einer Kolik befallen. Alle männlichen und weiblichen
Bedienten stürzten herbei, und zwar splitternackend, nur
allein die Gräfin erschien in einem Halbhemde“. Die
mythologischen Feste und Maskenspiele unter Elisabeth
und Jakob I. gaben Veranlassung zu den barocksten
Kostümirungen, von denen Ben Jonson in seinen
Maskenspielen eine sehr anschauliche Schilderung giebt.
In der „Masque of Hymen“ trugen die Damen „weisse
Leibchen, auf denen Pfauen und Früchte in Silber ein¬
gestickt waren, darunter ein loses, gefälteltes, fleisch¬
farbenes, silbergestreiftes Kleid mit goldenem Gürtel und
darunter ein anderes flatterndes, lasurblaues Tuchkleid mit
Silberstickereien und Goldschnüren. Ihr Haar war unter
einer reichen, kostbaren, mit allerlei auserlesenen Diamanten
geschmückten Krone nachlässig zusammengebunden. Ihre
J, D’Israeli a. a. 0. S. 83—84.
2) Archenholtz „Britische Annalen“ Bd. I S. 419.
218
durchsichtigen Schleier reichten bis zum Fussboden. Ihre
Schuhe waren himmelblau oder goldgelb und mit Kubinen
und Diamanten besetzt“.^)
Ein Beispiel für die luxuriösen Ausschweifungen der
Mode unter Jakob 1. bietet dessen Günstling, der
Herzog von Buckingham, dessen Aufwand jedes Mass
überstieg. Abgesehen davon, dass er zu seiner Kleidung
stets die kostbarsten Zeuge, wie Sammet, Atlas, Gold-
und Silberstoff wählte, Hess er sie nicht allein mit den
theuersten Litzen, Buntstickereien und dgl. aufs Reichste
schmücken, sondern auch mit Perlen, Edelsteinen und
besonders diamantnen Knöpfen in kunstvoller Goldarbeit
besetzen. Und derartige, vollständige Anzüge besass er
um 1625 nicht weniger als siebenundzwanzig, von denen
jeder gegen 350ü0 Francs kostete, während er für den
Festanzug allein, in welchem er auf der Hochzeit Karls
I. erschien, 500000 Francs verausgabte !^)
Dieser überladenen Pracht folgte in der frivolen und
leichtfertigen Epoche der Restauration unter Karl H.
eine Mode der Nuditäten. Nicht die Pracht und
Schönheit der Kleider, sondern die des Leibes wird zur
Schau gestellt, und die schönen Damen am Hofe Karls
II. wetteifern mit einander, ihre verborgenen Reize den
lüsternen Blicken ihrer Bewunderer möglichst zugänglich
zu machen. Weiss^) charakterisiert die Mode dieser Zeit
folgendermassen :
„Wie im Verhältnis zur französischen Gesamtgestaltung
verblieb die Kleidung auch noch während der Regierung
1) Taine a. a. 0. Bd. I S. 237.
2) H. Weiss „Kostümkunde“ Stuttgart 1872 Bd. S. 1028.
3) ibidem Bd. H S. 1034—1035.
219
Karls II., ungeachtet ihrer sich nun bis ins Einzelne-
vollziehenden Ausgleichung mit jener. Es war wesentlich
die von ihm selber eingeleitete bis zu offenkundiger Lüder-
lichkeit begünstigte Art seiner Maitressenwirthschaft, was
dem Vorschub leistete. Der Aufwand in Stoffen, Verzierung
und Schmuck, in Verwendung von Bändern, Schleifen,
kostbaren Kanten und Spitzen, erreichte wie in Frankreich
den höchsten Grad; hinsichtlich der Formen jedoch hielt
man sich mindestens von den auffälligsten Übertreibungen,
die von der meist massenhaften Arm- und Hand Verschleierung
durch Spitzenwerk, der längs der Öffnung der oberen Kobe
beliebten allzugrossen Kandaufbauschungen (,,bouillons“)
u. a. m. ferner, solches im Ganzen zu grösserer Zwang¬
losigkeit stimmend. Um so weniger aber Hess man sich
wiederum irgend eines der von dort gebotenen Mittel
entgehen, welche eine Steigerung rein körperlicher
Reize bezweckten. Sowohl in Entblössung von Hals,
Brust und Arm, als auch in Benutzung von falschem
Haar, Schminke und Schönheitspflästerchen („patches“)
gab man den französischen Vorgängern nicht nur nichts
nach, vielmehr ging wohl gelegentlich noch darüber hinaus.“
In der That erreichte die Schamlosigkeit in der
Entblössung der weiblichen Schultern und Brüste, in welcher,
wie D’Israeli schildert, Ö die Königin die anderen Hof¬
damen beinahe übertraf, einen so hohen Grad, dass sich
sogar verschiedene litterarische Proteste dagegen erhoben.
1672 erschien ein Buch mit dem Titel „Neue Instruktionen
für die Jugend in Betreff ihres Benehmens, nebst einer
Abhandlung über einige Neuerungen in der Mode; gegen
das Pudern der Haare, die nackten Brüste
D’Israeli a. a. 0. S. 86.
220
und Schönheitspflästerchen und andere
unziemlichen Gebräuche.“ Der Verfasser hat
zwei Bilder von Frauen seinem Büchlein mitgegeben,
darstellend die „Tugend“ und das „Laster“. Die erstere ist
keusch und züchtig gekleidet. Beim „Laster“ gucken
aus einer niedrigen Schnürbrust zwei grosse Brüste hervor,
und das Gesicht ist durch zahlreiche verschieden geformte
Schönheitspflästerchen verunstaltet.^) Grösseres Aufsehen
noch erregte ein anderes gegen die Nuditäten gerichtetes
Werk, welches Edward Cooke 1678 erscheinen liess
und zu welchem der berühmte Theologe Richard
Baxter eine Vorrede schrieb. Es führt den Titel ,,Eine
gerechte und vernünftige Anklage gegen die nackten
Brüsie und Schultern“ (Ajust and reasonable reprehension
of naked breasts and shoulders 1678, 8 ^). Endlich
erschien 1683 eine dritte Schrift, betitelt „Englands
Eitelkeit, oder die Stimme Gottes gegen die monströse
Sünde des Stolzes in der Kleidung und Erscheinung“
(England’s Vanity; or the Voice of God against the
monstrous sin of Pride in Dress and Apparel), welche
die Lüderlichkeiten in der Mode geisselte.^)
Eine absonderliche Sitte jener Zeit war auch das
Tragen von Muffen durch Männer. So erzählt Samuel
Pepys in seinem Tagebuche, dass er den alten Muff
seiner Frau selbst in Gebrauch genommen und ihr dagegen
«inen neuen gekauft habe.^)
L ibidem S. 86.
2) ibidem S. 86; W e i s s a. a. 0. II S. 1035; Gay
„Bibliographie des ouvragss relatifs ä l’amour“ 3. Auflage,
Turin 1871 Bd. I S. 3.
3) Traill „Social England“ Bd. IV. S. 485.
221
Das einzig Gute an der Mode der Restaurationsepoche
war ihre verhältnissmässig grosse Natürlichkeit und Ein¬
fachheit, die trotz aller Frivolität einen wohlthuenden
Eindruck machte. Im Gegensätze dazu zeichnet sich die
Mode des 18. Jahrhunderts durch ihre Künstlichkeit und
den dadurch bedingten rapiden Wechsel aus. Georgia na
Hill sagt: ,,Kein Jahrhundert schwelgte so in Künst¬
lichkeit. Kleidung, Gewohnheiten, Vergnügungen, Reden
— alle bezeugen in gleichem Maasse den Widerwillen
gegen die unverfälschte Natur.“') Man muss in dem
Werke von Malcolm (Bd. II S. 312 — 357) die Zu¬
sammenstellung der Capricen der Mode zwischen 1700
und 1800 studiren, um den Beweis für die Richtigkeit
dieses Urteils vor Augen zu haben. Auch W e i s s be¬
trachtet den häufigen Mode Wechsel als die charakte¬
ristische Erscheinung im England des 18. Jahrhunderts,
wobei die frühzeitige Entwickelung eines in allen Farben
schillernden Stutzerthums sogar in Frankreich nicht
ihresgleichen hatte.^) Einen anschaulichen Überblick über
den Modewechsel in Beziehung auf die englische weibliche
Kleidung giebt W. Alexander.^) Am Beginne des 18.
Jahrhunderts sei allgemein die Meinung verbreitet gewesen,
dass die Natur den weiblichen Unterleib viel zu gross
gestaltet habe, weshalb man denselben auf alle mögliche
Weise eingeschnürt und verlileinert ^habe. Gegen die
Mitte des Jahrhunderts begann man zu entdecken, dass
die Natur im Gegenteile den weiblichen Unterleib noch
lange nicht so gross gemacht habe, als er eigentlich sein
sollte. Daher wurde der Defect ausgebessert, und um
G. Hill „Women in English Life“ Bd. I S. 307.
2) Weiss a. a. 0. Bd. 11 S. 1274.
3) W. Alexander a. a. 0. Bd. II S. 137 — 138,
222
1759 und 1760 sahen alte und junge Frauen so aus,
als ob sie sämtlich im Stadium der Schwangerschaft
wären. Zehn Jahre später kam wieder die erste Mode
auf. Nicht weniger ins Auge springend waren die
Kevolutionen, welche sich Brüste und Schultern in den
einzelnen Modephasen des 18. Jahrhunderts gefallen lassen
mussten. Im Anfänge des Jahrhunderts war es höchst
indecent, zwei Zoll unterhalb des Halses nackt zu sein;
in der Mitte war diejenige mit dem feinsten Geschmacke
gekleidet, welche den grössten Theil ihrer Brüste und
Schultern den Blicken preisgab. Einige Jahre später war
jede Frau bis zum Kinn eingehüllt. In den 70iger Jahren
kamen Brüste und Schultern wieder zum Vorschein. In
einer Satire vom Ende des Jahrhunderts, die sich in
höchst witziger Weise über den rapiden Wechsel der
Moden lustig macht, heisst es: ,,Es wurde neulich Abends
in Drury Lane mit Erstaunen bemerkt, dass Lady P . .’s
Kleid seit mehr als einer — halben Stunde ausser Mode
war.^‘i)
Hie Hauptursache dieser ausserordentlichen Variabi¬
lität der Mode, die selbst in Frankreich nicht in dieser
Ausdehnung zu beobachten ist, war das Aufkommen der
grossen Kaufläden und Modebazare, die bereits
im 18. Jahrhundert in London eine Entwicklung erreichten,
hinter welcher die anderen europäischen Hauptstädte weit
zurückblieben. Noch 1792 rechnet v. Schütz das „Auf¬
putzen der Kaufmannsgewölbe zu den Eigenheiten der
englischen Nation“, und „für einen Fremden ist solches
ein so ungewöhnlicher Anblick, bei welchem man sich
stundenlang verweilen kann. Hinter den hohen Fenstern
1) G. Hill a. a. 0. Bd. II S. 61.
223
mit grossen Scheiben des unteren Stockwerkes stellt
der Kaufmann seine Waren zur Schau aus, und Viele
verstehen die Kunst, ihren Laden so lockend aufzuputzen,
dass manche Käufer gereizt werden“.^)
In Cheapside und Charing Cross bestanden solche
grossen Bazare und Kaufläden schon am Anfänge des
18. Jahrhunderts^), später aber wurden Old und New-
Bondstreet die Gegend dieser Modebazare und wurden
bald „hoch angeschrieben in den Annalen des Luxus
und der Mode“ als „promenoirs du caprice et du bon
ton“ und „ecoles de coquetterie“.^)
Das Besuchen der grossen Kaufläden bürgerte sich
frühzeitig als ein notwendiger Bestandteil des fashionablen
Lebens ein, sodass schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts
dafür ein eigenes Wort gebildet wurde, shopping nämlich
Alexander sagt: „Shopping“, wie man es nennt, ist
ein fashionables weibliches Amüsement. Zwei, drei und
bisweilen mehr Damen machen in Begleitung ihrer Galans
eine Kundreise durch die vornehmsten Läden und besich¬
tigen die fashionabelsten Waren, ohne jede Absicht, auch
nur einen Sixpence auszugeben. Nachdem sie die Kauf¬
leute den ganzen Vormittag gequält haben, kehren sie
nach Hause zurück, entweder ohne eine Ahnung der be¬
gangenen Thorheiten, oder, was schlimmer ist, an dem
Gedanken an die von ihnen verursachte Störung und
Belästigung sich noch nachträglich ergötzend“.^) Das
tägliche „shopping“ galt und gilt noch heute während
q Y. S c h ü t z „Briefe über London“ Hamburg 1792 S. 223.
The Foreigner’s Giude S. 66.
3) Tableau descriptif de Londres S. 275.
0 Alexander a. a. 0. Bd. I S. 98 — 100.
224
der Saison für ebenso fasMonabel wie etwa in Paris die
tägliche Zurschaustellung der eigenen Person in einer
Loge der grossen Operh) Gewöhnlich begannen diese
Promenaden in der Bond Street gegen 3 oder 4 Uhr
Nachmittags. Jouy teilt die Besucher und Besucherinnen
der Modeläden in drei Gruppen. Die einen machen wirk¬
liche Einkäufe, andere gehen aus Neugierde und um dem
guten Ton zu genügen hin und eine dritte Gruppe thut
es aus lauter Langeweile.^)
Sehr anschaulich schildert Born eman n das Treiben
in Bond Street: „Hier ist es, wo die üppige Lebewelt,
die da glänzen will im Eitelkeitsschaum, zusammenströmt,
und im Auf- und Abwallen, so zur Tages- als Abendzeit
sich beschauet, mustert und abhechelt nach Gebühr.
Hier — wo die Eleganten, wie sonst schlichte Leute nur
für den Wechsel der Jahreszeiten, so für die verschiedenen
Tagesstunden, anders und wieder anders gekleidet er¬
scheinen; das Neueste aus dem rastlosen Schöpfungsreiche
der Mode zur Schau tragen, einkaufen und Alles und Jedes
zwei und drei mal teurer bezahlen als in den übrigen
Gegenden Londons. Aber es muss erkauft sein in den
Läden der gefeierten Strasse, soll es Gnade finden vor
dem Scharfblick verfeinerter Sinne. — Zur Bond Street
wallfahrten täglich, die den Leib mit Putz und Kleidern
beschicken, und was sonst für Flittergeschnörkel die
fleissigen Hände regt, um abzulauschen, was über Nacht
frisch hervorgebrochen im grossen Treibhause der Mode.
So ist denn hier immerdar ein lieblich buntes Gewimmel“.^)
Tableau descriptif S. 273.
2) Jouy „L’hermite de Londres“ Bd. HI S. 7.
3) Wilhelm B o r n e m a n n „Einblicke in England und
London im Jahre 1818“ Berlin 1818 S. 158 — 159.
225
Höchst eigentümlich war die Rolle, welche die
männlichen und weiblichen Angestellten in
den grossen Modeläden, unter welchen die von Oakley und
Prichard die berühmtesten waren, spielten, welche Rolle
zugleich ein neuer Beleg für die engen Beziehungen
zwischen Mode und Sexualleben ist.
Schon seit 1765 kam der Gebrauch auf, in den
Läden für weibliche Moden junge, kräftige und schöne
Männer anzustellen, welche durch den Eindruck ihrer
Persönlichkeit auf die vornehme Damenwelt den Absatz
befördern sollten, und schon um jene Zeit erwuchsen aus
diesen Beziehungen mannigfaltige Ärgernisse.^) Aus dem
Ende des Jahrhunderts berichtet Boettiger: „Weil das
Damenvölkchen dieser Hauptstadt für eine hübsche
Männergestalt und frische rote Wangen nicht fühllos ist,
so sorgen die schlauen Bondstreeter für wohlgebaute,
sattvolle und vielversprechende Ladendiener, mit denen
eine lüsterne Lady wohl ein paar Dutzend Worte mehr
wechseln mag, als gerade der Handel erfordert. Hier
sitzt der Knoten, warum das vornehme Frauenvolk gar
nicht aus Bondstreet fortkommen kann, und an einem
Aufsatze, an ein paar Ellen Band, oder an ein Paar Schuhen
den ganzen geschlagenen Morgen feilschet und schachert.
Wie nun oben bemerkt worden, dass es viele Laden¬
dienerinnen in London giebt, und dass Bondstreet einen
erlesenen Vorrat derselben hat, so ist nicht zu vergessen,
dass der artigen und wohlaussehenden „Shopmen“ noch
weit mehr sind. Je anziehender der Ladendiener, desto
häutiger und getreuer die weiblichen Kunden.“^)
Malcolm a. a. 0. Bd. I S. 358—358.
Boettiger „London und Paris“ Weimar 1799 Bd. IV
S. 275.
15
226
Als ähnliches Lockmittel dienten für die männliche
Kundschaft die hübschen Ladenmädchen und Modistinnen.
„Toutes ces jolies marchandes rivalisent entr’elles, pour
fixer l’attention des promeneurs. En achetant des bagatelles,
on glisse quelque propros d’amour; la marcbande repond
par un doux sourire ou quelque furtif coup d’oeil.“^)
Sehr häufig traf man Abends diese schönen Modistinnen
am Arme ihres Galan in Ranelagh und ebenso häufig betrat
eine solche vielbegehrte und umschwärmte Ladennymphe
die abschüssige Bahn der Prostitution, wobei ihr die
männlichen Stutzer, die „von 11 Uhr ab bis 5 übr in
Bond Street flaniren oder in den Kautmannsgewölben, bei
den Zuckerbäckern, in den Obstläden, Kaffeehäusern
u. s. w. den Rahm der Mode, des Geschmackes, der
Schönheit oben abschöpfen wollen“ ^), nur allzu gern be¬
hilflich waren.
1) Tableau descriptif S. 275.
London und Paris Bd. IV S. 275.
Diese Verhältnisse bestanden noch im 19. Jahundert.
Louis Blanc schildert in seinen „Lettres sur l’Angleterre“
(Paris 1865 Bd. I S. 45—46) sehr amüsant die Wertschätzung
der männlichen Angestellten seitens der Damen. „Ils sont si
polis, disient-elles, ces jeunes gens! Ils se croient tenus ä
tant d’egards dans leurs cravates blanches ! Ils sont si patients,
surtout! — Montrez-moi ceci . . . non, cela . . et puis ceci
encore et puis encore cela. — On reste une heure dans le
magasin, on s’en va sans rien acheter, et le jeune homme est
trop galant pour y prendre garde. C’est 9a qui s’appelle faire
des emplettes. Mais que deviendrait, juste ciel! le supreme
bonheur du s hopp in g, le jour oü nous aurions face ä face
des personnes de notre sexe, qui le j^rendraient avec nous sur
un pied d’egalite, oseraient n’etre pas toujours de bonne hu-
meur, et s’impatienteraient de nos fläneries dans le monde de
la curiosite ? Adieu le charme I Acheter qui est un plaisir,
227
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte
sich der Luxus in der Mode in einer erstaunlichen Weise
wie in keinem anderen europäischen Lande. Nach
Archenholtz war der Aufwand in der Kleidung so
übertrieben, dass man weniger Rücksicht auf den Putz
nahm als auf die Lust, Geld zu verschwenden. Eine
gewöhnliche Schlafhaube der Herzogin von Devonshire
kostete zehn Guineen, und die Nachtkleidung der ver-
wittweten Herzogin von Rutland wurde mit hundert
Guineen bezahlt. Als der Obeist L. sich auf einen Ver¬
gleich mit seinen Gläubigern einlassen musste, wurde
u. a. die Rechnung eines Hutmachers präsentirt, der in
der kurzen Zeit von 17 Monaten Hüte im Preise von 119
Pfund Sterling geliefert hatte. i) Im allgemeinen zahlten
Damen von Rang 500 Guineen und mehr jährlich an ihre
Putzmacherin; ausserdem wurden auch gute Beraterinnen
in Modesachen extra honorirt. So war die berühmte
Schauspielerin Mrs. Abington eine sehr begehrte
Ratgeberin solcher Art. Sie fuhr in der Stadt umher,
sprach bei den einzelnen Damen vor und verdiente da-
devriendrait ime affaire.“ Welche Rolle noch in der neuesten
Zeit die grossen Kaufläden und Modebazare spielen, erhellt aus
dem Abschnitte „Händler und Bazare“ der Enthüllungen der
„Pall Mall Gazette“. Vergl. die deutsche Übersetzung, Budapest
1885 S. 75 — 76. — In der Nummer des „Daily Telegraph“ vom
3. Juli 1900 findet sich ein Bericht über die Natur des „shopping“,
welches auch heute noch von vielen Damen zur Anknüpfung
galanter Beziehungen, besonders ausserehelichen, benutzt wird,
weshalb die Detectives behufs Auskundschaftung des Ehe¬
bruches besonders auf die Läden und Kaufhäuser ihre Auf
merksamkeit richten.
Ü Archenholtz „Britische Annalen auf das Jahr 1788“
S. 412—415.
15*
228
durch noch 1500 bis 1600 Pfund jährlich. Ihr „geschmack¬
voller Anzug auf der Bühne war beständig das Studium
der Zuschauerinnen, wobei sie der schleunigsten Nach¬
ahmung ihrer Putzart versichert war.“
Natürlich führte dieser Luxus oft weniger bemittelte-
Damen auf den Weg der Corruption, zu Ehebruch und
Prostitution. Sie verkauften ihre Keize an den Meist¬
bietenden, um von dem Erlöse ihre kostspieligen Toiletten
bestreiten zu können. Hüttner berichtet: „Ich habe
mir es seit einem Jahre zum Geschäfte gemacht, den
Ursachen der vielen Ehebruchsprozesse nachzuforschen und
gefunden, dass unter fünf Weibern, die von ihren Männern
geschieden werden, immer wenigstens drei sind, die durch
Luxus in Kleidern und den Mangel an Mitteln, ihn be¬
streiten zu können, verleitet wurden, dem Golde des Ver¬
führers aufzuopfern, was er durch seine persönlichen
Reize nie von ihnen würde erlangt haben.“ Auch in-
den mittleren und niederen Ständen herrschten ähnliche
Verhältnisse. „Die Weiber und Töchter von Tanz- und
Musikmeistern, von Schuhmachern, Schneidern und anderu
Handwerkern unterscheiden sich in unseren Tagen in der
Kleidung oft wenig oder garnicht von Damen vom ersten
Range, indem sie nicht nur die Pracht, sondern auch
alle modischen Thorheiten der Grossen nachahmen.“
Was nun die Einzelheiten dieses Luxus in der Mode
betrifft, so zeigte sich derselbe zunächst in der Haar¬
tracht, vorzüglich der weiblichen. Nach Alexander
wäre dies ein uraltes Erbe aus angelsächsischer Zeit, da
bereits die angelsächsischen Frauen die Coiffüre für ihre
1) Archen holtz „England nnd Italien“ Bd. I S. 165 — 166..
Hüttner a. a. 0. S. 40,
3) ibidem S. 41.
229
rgrösste persönliche Schönheit hielten ^). Seit der Mitte
des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Haartracht zu
einer enormen Grösse. Alexander erklärt es für un¬
möglich, alle die unglaublichen Variationen der weiblichen
‘Coitfüre seiner Zeit aufzuzählen. Sie war durch die
Verwendung der verschiedensten Materialien wie Wolle,
Bänder, Spitzen, Straussenfedern, Locken, Kämme, Nadeln,
Pomaden und Pasten, falschen Haares zu einer solchen
'Grösse aufgetürmt, dass sie für gewöhnlich, wenn die
Betreffende stand, ein Drittel der ganzen Länge des
Körpers ausmachte !^) Oft auch prangte ein completer
Blumen- oder Obstgarten auf dem Haupte. Der Schau¬
spieler Garrick machte diese letztere Mode lächerlich,
indem er eines Tages als Weib verkleidet auf der Bühne
■erschien, in einer aus allen möglichen Sorten von Ge¬
müsen aufgebauten Haartracht, aus der besonders die
roten Wurzeln gar lächerlich hervorlugten.^) Sogar
Kutschen, Schiffe und Tiere krönten die 2 Fuss hohe
‘Coiffüre^). Zahlreiche Anekdoten cursirten über die
Folgen dieser extravaganten Mode. So erzählte man sich
von einer Dame, die in einer Abendgesellschaft über
sheftige Schmerzen im Nacken klagte. Es stellte sich
heraus, dass sie während der Fahrt zu der Gesellschaft
gezwungen gewesen war, den Kopf so tief zu beugen, dass
das Kinn auf den Knieen ruhte, weil die Haartracht viel
zu hoch für das Dach der Kutsche gewesen war. Karri-
katuren jener Zeit stellen Damen in Sänften mit offenem
1) Alexander a. a. 0. Bd. H S. 114.
2) ibidem H, 139.
3) G. Hill a. a. 0. Bd. H S. 38.
4) W. M. Cooper „Der Flagellaiitisiniis und die Flagel¬
lanten“ Dresden 1899 S. 143.
230
Dache vor, aus welchem die ungeheure Coiffure weit
hervorragt.
Da die kunstvollen Haarfrisuren sehr viel Zeit und
Geld zu ihrer Herstellung erforderten, so wurden sie von
vielen Damen möglichst selber erneuert und natürlich
auch Nachts beim Schlafen nicht aufgelöst^). Dieses
wochenlange Tragen derselben Coiffüre hatte natürlich
ein Kanzigwerden der darin enthaltenen Pomaden^), eine
Ansammlung von Unreinlichkeiten aller Art darin zur
Folge, ja nicht selten siedelte sich Ungeziefer in dem
monatelang nicht gekämmten Kopfhaar an.^)
Neben der natürlichen spielte die künstliche Haar¬
tracht, die Perrücke, während des ganzen 18. Jahr¬
hunderts eine grosse Rolle. Georgiana Hill nennt
dieselbe „the great feature in the dress of the 18th
Century“ ^). Sie wurde zuletzt nicht nur von Männern,
sondern auch von Frauen, Mädchen und Jünglingen, jasogar
von kleinen Mädchen von noch nicht 14 Jahren getragen^).
Ein Lied der Zeit schildert die Perrücke als unent¬
behrlichen Bestandteil der modischen Toilette :
And now for to dress up my beau witli a grace,
Let a well-frizzled wig be set off from bis face,
With a bag quite in taste from Paris just come,
That was made and ty’d up by Monsieur Frisson,
With powder"^) quite grey, then bis head is complete f
If dress’d in the fashion; no matter for wit.
1) Hill a. a. 0. 11, 37.
Traill „Social England“ Bd. Y S. 356.
3) Hill a. a. 0. 11, 44.
4) „Nocturnal Revels, or the History of King’s Place andl
other modern Nunneries“. London 1779 Bd. 1 S. 102.
5) Hill a. a. 0. H, 9.
6) Hüttner a. a. 0. S. 35.
Der Puder war stets j)arfümirt, wofür die yerschie-
densten Duftstolfe verwendet wurden. Hill 11, 12 — 13.
231
Im Mai 1795 zeigte ein gewisser Koss, der sich
„Proprietor of tlie ornamental Hair-Manufactury“ nannte,
öffentlich an, dass er aus Deutschland, Spanien und Italien
300 Pfund herrliches, langes Haar erhalten hätte, und
zwar von der schönsten Länge und den schönsten Farben,
die man jemals in England gesehen habe. Er lud die
Damen ein, in sein Warenlager in Bishopgate Street zu
kommen, wo sie „über sein ganz vortreffliches geschmack¬
volles Assortiment von Haaren erstaunen würden. Seine
Chignons wären von französischen Haaren, aber von den
schönsten, welche die Einbildung sich nur denken kann.
Er habe deren 1000 Stück vorrätig, von 50 verschiedenen
Längen und allein 20 Arten brauner Schattierungen,
dabei fast eine unendliche Menge von anderen Farben,
als schwarzgrau, rot, fleischartig u. s. w.“ Die Preise
dieser Chignons variirten von 5 Schilling bis zu 5
Guineen, i)
Diese Perrückenmanie erzeugte auch eine spezielle
Gattung von Dieben, die Perrücken di ebe, die sich
sehr zahlreich in den Strassen Londons umhertrieben und
durch äusserst geschickte Handgriffe die Perrücken von
den Köpfen der Passanten entfernten und wieder verkauften.^)
Wie auf das Kopfhaar, wurde auch von Seiten des
schönen Geschlechts auf den Hut der grösste Wert gelegt.
Archenholtz bemerkt: „Die schönste Zierde der Eng¬
länderinnen aber ist der Hut, der jetzt mit Bändern und
Federn reichlich versehen ist. Ohne denselben darf keine
weibliche Person hohen oder niedern Standes ihren Fuss
0 Archenholtz „Britische Annalen“ Bd. XVI (1795)
S. 182 — 183. Vergl. über die Haarhcändler auch G. Ilill a. a.
0. Bd. II S. 13—14.
Hill a. a. 0. Bd. H. S. 22—23.
auf die Strasse setzen. Kein Betlelweib sogar lässt sich
ohne Hut sehen. Sie haben eine eigene Art, ihn
aufzusetzen, die von den Damen anderer Länder nur sehr
unvollkommen nachgeahmt wird, daher auch bei diesen
die grosse Wirkung eines solchen Hutes nicht so sichtbar
ist. Diese Wirkung veranlasste Lin gu et zu sagen, dass,
wenn Homer diese reizende Tracht gekannt hätte, er
der Venus zu ihrem Gürtel noch einen englischen Hut
würde gegeben haben.“
Der berühmteste dieser Damenhüte war neben dem
„mob“ und dem „fly-cab ä la Therese“ der „Ranelagh-
Mob“, ein Hut, der von den Demimondainen in Ranelagh
erfunden worden war. Er bestand fast ausschliesslich
aus Gaze, die um den Kopf geschlungen und unter
dem Kinn gekreuzt wurde und an der Hinterseite des
Kopfes mit den herabhängenden Enden befestigt wurde.“)
Auch auf den weiblichen Busen richteten sich die
Modeextravaganzen jener Zeit zum Teil in recht eigen¬
tümlicher Weise. Über den Gebrauch der Schnürbrüste
(Korsetts) bemerkt Georg Förster:^) „Ein anderer
Gräuel des hiesigen Anzuges sind die Schnürbrüste, die
so allgemein wie jemals getragen werden, und jetzt nur
wegen der fürchterlich hohen Florbusen eine Exkreszenz
vor der Brust bilden, welche wenigstens diesen zarten
Teil vor Beschädigung sichert, aber zur Schönheit der
weiblichen Figur nicht beiträgt.“ Schlimmer waren die
b Archenholtz „England und Italien“ Bd. III S. 73.
Traill „Social England“ ßd. V S. 356; Ilill a. a. 0.
Bd. II S. 55.
3) „Briefe und Tagebücher Georg Försters von seiner
Reise am Niederrhein, in England und Frankreich, im Frühjahr
1790“ herausgeg. von Albert Leitzmann, Halle 1893 S. 234.
233
künstlichen Busen, die in London erfunden und
besonders in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts
getragen wurden.^) „Es war letztes Spätjahr unter
Frauenzimmern von Ton so allgemein Mode, halbnackt
zu erscheinen und die verborgenen Keize ihres Körpers
zur Schau auszustellen, dass ein beträchtlicher Teil der
hiesigen weiblichen Beaumonde, der keine natürlichen
Busen aufzuzeigen hatte, zu künstlichen, von Wachs ver¬
fertigten seine Zuflucht nahm, um ja nicht durch die
Mode verraten zu werden. Madame Thiknesse erzählt
in ihrem neulich erschienenen moralischen Romane
„The School for Fashion“ Teil II pag. 119 eine hierher¬
gehörige wahre Anekdote:
Eine junge Dame, die in wenig Tagen mit einem
würdigen Manne getraut werden sollte, befand sich mit
ihrem Bräutigam in einer Assemblee im Hause einer Frau
von Stande. Da die Gesellschaft äusserst zahlreich war,
wurde die Luft bald bis zum Ersticken heiss und ver¬
ursachte der unglücklichen Nymphe eine plötzliche Ohn¬
macht. Das ganze Zimmer geriet auf einmal in Bewegung.
Die anwesenden Damen eilten zu ihrer Hülfe herbei ; man
öffnete ihr das Kleid in der Gegend des Busens, um ihr
mehr Luft zu verschaffen, als auf einmal — zwei der
niedlichsten wächsernen Brüste unter dem flornen Busen¬
tuche auf den Boden fielen. Die Damen schrieen, ob sie
gleich, wie ich nicht zweifle, sich heimlich über diese
öffentliche Entdeckung freuten. Es lässt sich eher denken,
als beschreiben, wie gross das Erstaunen des armen
getäuschten Bräutigams war, der ohne Zweifel von den
Reizen des alabasternen Busens seiner Geliebten oft wird
y Weiss a. a. 0. Bd. H S. 1278.
234
bezaubert gewesen sein. Seine Liebe gegen das betrüge¬
rische Weib verwandelte sieb auf einmal in tiefe Ver¬
achtung; die Unglückliche wurde ein Gegenstand des
allgemeinen Spottes, und sie verlor auf einmal Liebhaber,
Bewunderung und die Achtung ihrer Bekannten.“^)
Wiederholt kam ferner im Laufe des 18. Jahrhunderts
die merkwürdige Mode der falschen Bäuche, dei
„Pads“ oder „Paddies“ auf. Nachdem sie erst Ende der
üOiger Jahre vorübergehend aufgetaucht war, machte sie
sich wiederum in den 90iger Jahren geltend. Archen-
holtz berichtet: „Es war die widersinnige Erfindung
mit Hintansetzung von Anständigkeit und Delikatesse,
die weibliche Leibesform durch falsche Bäuche zu ver¬
unstalten; eine Unförmlichkeit, die dem weiblichen Ge¬
schlecht nur im nahen Gebärstande eigen ist. Man nannte
diese seltsamen Ausstaffierungen Pads, und die kleinen
Paddies; sie waren gewöhnlich von Zinn, daher man
ihnen auch den Namen zinnerne Schürzen beilegte. Diese
künstlichen Bäuche fanden sehr grossen Beifall, besonders
bei den unverheirateten Frauenzimmern, daher die Witz¬
linge sagten, dass in den Zeichen des Himmelskreises
auch eine Kevolution vorgegangen, und die Zwillinge der
Jungfrau zu nahe gekommen wären. Überhaupt gaben
diese falschen Bäuche den Spöttern Waffen, die sie auch
unbarmherzig brauchten, und dadurch die Pads bald in
Verachtung brachten. Auch war eine solche Mode zu
abgeschmackt, um von langer Dauer zu sein. Sie entstand
in London im Februar (1793) und mit Ende des Frühlings
war sie in England vorüber, sie ging nun nach Dublin,
wo sie den Damen ebenfalls willkommen war. Durch die
1) Hüttner a. a. 0. S. 33—34.
235
Art Völkerwanderung, die der französische Krieg erzeugte,,
kam sie auch durch die flüchtigen Engländerinnen nach
Deutschland, wo jedoch die Nachahmung unterblieb.“ i)
Täuschte diese künstliche Yergrösserung des vorderen
Umfanges des Unterleibes eine veritable Schwangerschaft
vor, so zielte die Yergrösserung der Hüft- und Gesäss-
gegend mittelst Keif rock und Tournüre auf die
Erweckung eigenartiger sexuellperverser Vorstellungen.
„Wie können doch die delikaten Weiber den Anblick
jenes Teils der tierischen Ökonomie, die so sehr ekelhaft
ist, dem Auge gleichsam aufdringen?“ fragt entrüstet die
Y^ollstonecraft^), wohl ahnend, dass die weiblichen
Posteriora auf gewisse Arten von Wollüstlingen eine
grosse Anziehungskraft ausüben, und dass die Accentuirung
dieser Gegend auch die Aufmerksamkeit normal empfin¬
dender Individuen auf dieselbe lenken und perverse
Ideeenassociationen hervorrufen muss.
Auch beim Reifrock ist es auf eine ungeheuerliche
Yergrösserung der natürlichen Formen der Beckengegend
abgesehen. Vermittelst eines sehr grob-materiellen Reizes
wird das Auge auf die dort verborgenen Reize förmlich
hingedrängt. Der „hooped petticoat“ war Gegenstand
vielfacher Verhöhnungen und Spottlieder von Seiten des
Volkes. Ein Lied von 1721 besingt recht humorvoll das
tragikomische Schicksal einer solchen krinolinenge-
schmückten Modedame :
L Archenholtz „Britische Annalen“ Bd. XI. S. 420 bis
421. — Über falsche Bäuche in Frankreich nnd Spanien, vgl.
J. Bloch a. a. 0, Teil I S. 155.
2) M. W 0 1 1 s 1 0 n e c r a f t „Rettung der Rechte des Weibes“
Schnepfenthal 1794 Bd. II S. 140 — 141. — Vergl. auch Addi son’s
Bemerkungen über den Reifrock im 80. Stück des „Spectator“.
236
An elclerly lady wbose bulky squat ügure
By hoop and white damask was renderd inuch bigger,
Without hood and bare-neck’d to the Park did repair,
To shew her new clothes, and to take the fresh air;
Iler shape, her attire, rais’d a shout and lond laughter;
Away waddles Madam ; the mob hurries after.
Quoth a wag, then observing the noisy crowd follow,
As she came with a hoop, she is gone with a hollowd)
Seit 1794, also schon vor der Zeit des französischen
Direktoriums, kam in England die sogenannte „fashion
of nakedness“, die Mode der Nacktheiten auf, durch
welche der Körper bis aufs äusserste entschleiert wurde.“)
Oben waren Busen und Nacken, unten die Beine sichtbar.
Später führte Lady Charlotte Campbell die noch
schamlosere Tracht ein, welche Madame Tallien der
Pariser Gesellschaft des Direktoriums aufoctroyirt hatte,
und bei welcher eine dünne, durchsichtige Mousselinhülle
die ganze Bekleidung des Körpers bildete.^) ,, Man kann
die Umrisse ihrer Glieder durch die musselinene Nebel¬
hülle, die sie umgiebt, ohne Mühe erkennen. Einige süsse
Thoren, die im Kufe stehen, Kenner des guten Geschmacks
zu sein, sind entzückt beim Anblicke der halbbedeckten
Reize und bewundern die nackte Grazie laut, erheben ihre
runden, fleischigen Schultern mit rhapsodischem Feuer
und preisen den verräterischen Zauber ihres vollen nied¬
lichen Busens und die Symmetrie ihrer Glieder; und siehe
da, die Hässlichen und Schönen glauben, dass sie, um
lür Grazien gehalten zu werden und die allgemeine Be-
1) J. P. Malcolm „Anecdotes of the Manners and Cu-
stoms of London duriug the 18th Century“ London 1810 Bd.
II. S. 323.
Archenholtz „Annalen“ Bd. XIII. S. 437.
Archenholtz „Annalen“ Bd. XIX S. 292.
237
Wanderung auf sich zu ziehen, nur ihre dichteren Kleider
mit einem Musselinnebel verwechseln dürfen, und in
wenigen Tagen sind die modischen Spaziergänge, New-
bondstreet, Pall Mall, der Hydepark, Ken-
sington Garden etc. etc. mit Schaaren von halbnackten
Figuren erfüllt. Zwar weht ein schneidender Nordostwind ;
Erkältung, Krankheit und Tod dringt mit der scharfen
Luft auf den dünnbekleideten Körper ein; die Schönen
zittern vor Kälte; aber die Mode will es nun einmal nicht
anders haben, und Doktor und Apotheker und Toten¬
gräber können auf eine reiche Ernte rechnen.“ i) Über
diese Ausschreitung der Mode liefen ebenfalls zahlreiche
Anekdoten und Spässe um, die man besonders den
Quäkern in den Mund legte.
Höchst merkwürdig und spezifisch englisch war die
Sitte der Frauen, die Schuhe mit gewissen Zu¬
richtungen gegen das Beschmutztwerden auf der Strasse
zu versehen. Gewöhnlich waren es ringförmige eiserne
Apparate, welche mit Riemen an den Schuhen befestigt
und beim Betreten des Hauses abgenommen wurden ^).
Der Ursprung dieser seltsamen Sitte war wohl die Mode
der seidenen und Zeug-Schuhe in den mittleren und
oberen Ständen, da nur Dienstmädchen Schuhe aus Leder
trugen ^). Später wurden die ringförmigen Apparate durch
Holzsandalen mit eisernen Stelzen ersetzt. B o r n e m a n n
schildert den schwerfälligen, ungraziösen Gang der mit
solchen Holzschuhen ausgerüsteten Frauen sehr anschaulich.
1) Hüten er a. a. 0. S. 32 — 33.
Archenholtz „England“ Bd. III S. 72; Schütz a.
a. 0. S. 222.
3) Archenholtz a. a. 0.
Bornemann a. a. 0. S. 49 — 50.
238
.^,Es ist, wie gewölinlicli, ein wenig schlammig in den
Strassen. Frauen und Mädchen haben dann ihre Stelzen
angethan. Holzsandalen auf drei Zoll langen Eisenstähen
befestigt, die unten an einen Stahlring genietet sind.
In weichem Boden gleicht der Eindruck solcher Tritte
der Fährte eines unbekannten Tieres mit scharf ein¬
schneidenden Schalen. So schreiten die Schönen^ Jung
und Alt, im tüchtigen Streckschritt (3 Fuss Weite mag
das Normalmass sein) flüchtig hinweg über den Schmutz.
Ohne Klipp-Klapp-Geräusch freilich nicht, denn jeder
Auftritt schallt völlig wie der Hufschlag eines Litthauers,
dem die Eisen wackeln. — Sind die Schmutzstellen
•durchwatet, wird das Pflaster reinlich, schnell werden die
Holzpantoffeln wieder abgestreift und nun frei und zierlich
in den Händen mitgeführt, bis ihr abermaliges Anlegen
nötig erscheint. Auf solchen Stelzen mit Leichtigkeit
hinzuschreiten, mag viel Übung erfordern und wohl schon
in frühester Jugend eingelernt werden müssen, wie man
denn wirklich auch die kleinsten Kinder damit an¬
gethan sieht.“
Damen aus den höchsten Sphären der Gesellschaft
verschmähten natürlich diese recht primitive und bäurische
Art, sich vor dem Strassenschmutz zu schützen und be¬
dienten sich der Tragsessel (Sänften, Porte - Chaisen),
deren Anzahl um 1795 ausserordentlich gross war, „einer
mehr von den hundert sinnlichen Beweisen des zu¬
nehmenden Luxus und der grösseren Weichlichkeit der
Briteffh während es im 15. Jahrhundert nur kranken
Personen gestattet war, sich eines Tragsessels zu bedienen ^).
9 Archenholtz „Annalen“ Bd. XVI S. 176—177.
239
Ein unentbehrlicher Bestandteil der fashionabeln
Toilette einer englischen Lady des 18. Jahrhunderts war
der Fächer.
Die Geschichte desselben in England reicht bis ins
14. Jahrhundert zurück, wo er unter Eich ard II. zuerst
erschien, später besonders unter Heinrich VIII. bei den
oberen Klassen beliebt war. Auch Elisabeth schwärmte
für den Fächer und besass einen solchen, der mit
Diamanten besetzt war. Zur Zeit Shakespeare’s kosteten
Fächer bis zu 40 Pfund. Falstaff sagt in den „Weibern
von Windsor“ zu Pistol: „Lady Brigitte hat ihren Fächer
verloren, und ich habe ihr auf Ehre versichert, dass Du
ihn nicht gestohlen hast“. Der Fächer wurde damals
mittelst einer goldenen Kette am Gürtel befestigt“. —
Das 18. Jahrhundert erlebte die Apotheose des Fächers.
Jede Dame trug ihn. Der Fächer wurde zu einem all¬
gemeinen Ausdrucks- und Verständigungsmittel über
Politik, Theater, Litteratur, Kunst u. s. w., die alle auf
demselben durch Schrift oder Bild vertreten waren und
je nach den Tageszeiten und der Gelegenheit herangezogen
wurden.^) Ein junges Mädchen der Zeit schreibt in ihren Er¬
innerungen: ,,Dann bekam ich auch Fächer! Einer ist
jetzt genug für ein junges Mädchen, aber wir gingen
mit Fächern wie Japanesen, und ich bekam einen für die
Strasse, einen für morgens, einen für abends und einen für
grosse Gelegenheiten“.^) Diesen Fächerluxus geisselt ein
Dichter mit folgenden Versen;
b S. Blondel „Histoire des eventails chez tous les
peuples ä tontes les epoques“ Paris 1875 S. 73 — 74.
2) G. Hill a. a. 0. Bd. II S. 52.
3) Cooper a. a. 0. S. 143. ,
240
Neat lady tliat is fresh and fair
Who never knew what belong’d to good housekeeping care,
But buys several fans to play witli the wanton air,
And seventeen or eighteen dressings of other women’s hair.
Gray schrieb ein berühmtes Gedicht über den
Fächer. Viele Fächer waren beschrieben oder bemalt.
Als John Gay’s satirisch-lascive ,,Beggar’s Opera“ er¬
schienen war, gebrauchten die vornehmen Damen Fächer,
auf denen Arien daraus gedruckt waren ^). Ein sehr
sonderbarer Fächer „enthielt die Geschichte von England
in einer Nuss. Er war in Compartiments abgeteilt, und
stellte in kleinen Bilderchen die vornehmsten Begeben¬
heiten der letzten tausend Jahre vor. Der Erfinder
versicherte dabei, dass dieser Fächer das Studium der
Geschichte sehr erleichtern würde. Ein anderer Fächer
zeigte die Bildnisse des Prinzen und der Prinzessin von
Wales, umgeben mit 40 auffallenden Karrikaturen, Cha¬
raden u. s. w.“^). Schlimmer waren aber die obscönen
Bilder, welche die Fächer vieler Damen verunzierten, deren
schamlose Natur eine Lady vor die schwere Wahl stellte
— wie ein Correspondent an eins der Modejournale
schrieb — ob sie vor oder hinter dem Fächer erröten
sollte.^)
Seit dem 14. Jahrhundert war das Keiten und
Fahren unter der englischen Damenwelt Brauch und
ist bis heute ein integrirender Bestandteil fashionablen
weiblichen Lebens geblieben. Archenholtz bemerkt:
„Die englischen Frauenzimmer haben auch manches Eigen-
1) J. G. Th. Grässe „Handbuch der allgemeinen Litte-
raturgeschichte“ Leipzig 1850 Bd. III S. 400.
Archenholtz „Annalen“ Bd. XVI S. 181.
Hill a. a. 0. Bd. II S. 92. — Vergleiche auch das
Prachtwerk der Lady Schreiber „Fans and Fanleaves“ Lon¬
don 1890. — Sehr satirisch hat Addison im 64. Stück des
„Spectator“ die Rolle des Fächers in der Liebe beleuchtet.
241
tümliche in ihren Sitten. Hierunter gehört das Keiten.
Tausende maclien sich täglich dieses Vergnügen hei gutem
Wetter, in Amazonenkleidern und in die Quere sitzend.
Dieser Gebrauch wurde von der Königin Anna, Gemahlin
Kichards 11. eingeführt und ist seitdem Landessitte
geworden“.^) Schütz beschreibt es am Ende des 18.
Jahrhunderts als einen auffälligen Anblick, einen „eng¬
lischen Wagen mit zwei Frauenzimmern zu sehen, wo
eine die Peitsche in der Hand hält und die andere die
mutigen Engländer mit Anstand zu dirigiren versteht.“
In neuerer Zeit bot diese Sitte der Chronique scandaleuse
ein sehr reiches Material, indem sehr häufig intime Be¬
ziehungen zwischen den Reiterinnen und ihrem Groom
die Folge des täglichen „Rotten-Row“ sind, welche nicht
selten mit einer Entführung endigen. R e m o fand in den
Tageszeitungen einiger Monate nicht weniger als 17 der¬
artige Fälle verzeichnet^).
Das 18. Jahrhundert und die ersten Jahrzehnte des
19. Jahrhunderts waren die goldene Zeit des männ¬
lichen Stutzertums in England. Dieses Land ist
das eigentliche Geburtsland des echten, unverfälschten
Dandytums. Hier, wo das Exzentrische, das Indi¬
viduelle mehr hervortritt als anderswo, wo dabei aber
auf den äusseren Schein ein unendlich grosser Wert
gelegt wird, ist der geeignetste Boden für die Entwickelung
9 Archenholtz „England“ Bd. III S. 73.
2) Schütz a. a. 0. S. 90 — 91.
Remo a. a. 0. S. 76.
16
242
jener merkwürdigen Spezies von Männern, die ihr ganzes
Wesen gewissermassen in ihre Kleidung verlegen.
„Paraitre, c’est etre pour les Dandys, comme pour les
femmes“, sagt Barhey d’ Aurevilly von dem englischen
Stutzer.') Aber es muss hervorgehoben werden, dass
dieser äussere Schein nicht das blosse lächerliche Kleider¬
gepränge eines gewöhnlichen Durchschnittsgecken war,
sondern der echte englische Dandy, wie ei besonders im
Anfänge des 19. Jahrhunderts hervortrat, suchte sein
Äusseres, seine Kleidung möglichst individuell zu
gestalten und sich in einen möglichst anffälligen Kontrast
zu dem rein Konventionellen der Mode zu setzen und
gerade hierdurch die Bewunderung der Menge zu erregen.
Thus Beaux, in person and in mind
Excelled by tliose tliey leave hehind,
On, througli the world undaunted, press,
Backed by the Mighty Power of Dress;
Wliile folks less confident than tliey,
Stare, in mucb wonder, — and give way.^)
Nirgends giebt es auch so zahlreiche Bezeichnungen
und termini technici für den Stutzer wie in England.
Ich nenne nur die bekanntesten: Beau, Buck, Maccaroni,
Jessamy, Pretty fellow, Blood, Exquisite, Tulip, Fop,
Swell, Spark, Dandy.
Die ältesten Stutzer waren die „Beaux“, die bereits
unter Karl IL und der Königin Anna ihre Triumphe
feierten.^) Zu ihnen gehörten u. A. Sir George Hevett
1) J. Barbey d’Aureyilly „Du Dandysme et de G.
Brummeil“ Paris 1862 S. 124.
2) Pierce Egan „Life in London“ ed. Camden
Hotten, New Edition, London 1900 S. 176 — 177.
3) Vergleiche den Artikel „Beaux“ in Misson de Val-
bourg’s „Memoires et obseiwations faites par un yoyageur
en Angleterre“ Haag 1698 S. 28 — 29.
243
Wilson, der seliöne Fiel ding (f 1712), der Colonel
Edgeworth, der Dichter Steele nnd als letzter der
berühmte Nash, der sich einen Beau von drei Genera¬
tionen nannte, da er unter Carl II. geboren war und
unter Georg IIT. starb, um dann noch, wie der Dichter
Austey in seinem „New Bath Guide“ meint, in der
Unterwelt als Stutzer das Gefolge der Proserpina zu ent¬
zücken.^) Dieser ältesten Stutzergeneration hat Addison
in der bekannten Analyse eines Stutzergehirns im „Spec-
tator“ ein satirisches Denkmal gesetzt.^)
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen die
„M accar onis “ oder Jessamie s“^) auf. Den ersteren
Namen führten sie nach ihrer Vorliebe für die italienische
Speise, die sie bei Almack’s genosssen. Sie gründeten
einen Klub, der wie Horace Walpole an Lord Hert-
ford in einem Brief vom 6. Februar 1764 schreibt „aus
all den vielgereisten jungen Männern besteht, die lange
Locken und Lorgnetten tragen.“^) Im Jahre 1772
stolzirten sie in einer sehr engen buntkarrirten Jacke,
Weste und Hosen umher, mit einem ungeheuer grossen
Knoten künstlichen Haars hinten am Kopfe, einem lächer¬
lich kleinen Miniaturhütchen auf demselben, mit roten
Absätzen an den Schuhen, in der Hand einen ungeheuren
Spazierstock mit langen Troddeln haltend.^)
Überhaupt unterlag die Männ erkleidung im 18.
Jahrhundert demselben häufigen Wechsel wie die weibliche
1) B arb ey d’A ur e yü ly a. a. 0. S. 45 — 47 ; G e or giana
Hill a. a. 0. Bd. II S. 111.
2) Vergl. Taine a. a. 0. Bd. II S. 307.
3) Traill a. a.0. Bd.'Y S. 355.
Henry B. Wheatley „London Fast and Present“
London 1891 Bd. II S. 453.
■ : Baker „Strcots of London" S. 324; Leigh Hunt
„The old Court Suburb‘‘ 3d. edition. London o. J. S. 292.
16*
244
Toilette. Jedes Jahr brachte eine andere, oft von der
vorjährigen grundverschiedene Mode. Die „Toiletten“ der
Männer wurden ebenso sehr beachtet und durchgehechelt
wie diejenigen der Frauen. „Wie? er redete Sie in einem
solchen unscheinbaren Rocke an ? Was für ein schäbiger
Kerl!“ sagt Evelina’s Tanzpartner in Miss Burney’s
„Evelina“ zu seiner Tänzerin, als sie einen andern Herrn
abschlägig beschieden hat. Der Verfasser eines sehr
seltenen Werltes „Thoughts on Gallantry, Love and
Marriage“ sagt von der verweichlichten Männergeneration
um 1750: ,,Da ist noch ein anderer Typus von Männern,,
der ebenso aus der Gesellschaft jedes feinfühligen Weibes-
verbannt sein sollte. Das sind die „Fops“ und „Fribbles“^
die „Petits Maitres“ unserer Zeit. Diese hübschen Jungen
(pretty fellows), welche ganz als Puder, Essenz und
Parfüm umherlaufen. Was für ein Glück, frage ich,,
kann ein gebildetes Weib vernünftiger Weise von dem
intimen Umgänge mit einem Mann von dieser verächt¬
lichen Art erwarten? Seine eigene theure Person ist der
einzige Gegenstand seiner Sorge und Pflege; jeder seiner
Wünsche gipfelt in ihr, und kein Gedanke verirrt sich
jemals ausserhalb des eigenen Ich. Hier, Ihr Damen,,
habt Ihr ein Objekt für Euren Witz und Eure Spässe;.
hier einen Angriffspunkt für Eure Satire. Ein „Fop“ ist
ein Mann in der Maske und verdient als solcher Eure
grösste Verachtung. Aber ach! wie weit von Verachtung^
entfernt ist Eure gewöhnliche Behandlung dieser vergol¬
deten Spielzeuge, dieser glitzernden Nichtse? Anstatt
diese „Dinge von Seide“ zu verachten, dient Ihr nur zu
häufig ihrer Eitelkeit, durch kritikloses Lob und Be¬
wunderung.“
1) „Thoughts on Gallantry, Löve and Marriage“ London
1754 S. 24—25.
245
Dieser übertriebene Kleiderluxus musste mit Not¬
wendigkeit zu einer Verweichlichung und Effemi¬
nation der Männer führen und den Typus der ,,pretty
fellows“ und der „Exquisites“ erzeugen, welche von den
in- und ausländischen Autoren des 18. Jahrhunderts so
sehr gegeisselt und verspottet werden. Archenholtz^)
bemerkt: ,,Die Männer sind jetzt mehr als in irgend
einem Zeiträume den Weibern ähnlich. Sie tragen ihre
Haare lang gekräuselt, mit Mehl bestreut, und von
Wohlgerüchen duftend; sie verdicken und verlängern sie
durch geborgte Locken; sie legen die zu den Schuhen
und Kniegürteln gehörigen Schnallen als unbequem bei
Seite, und bedienen sich an derer Statt seidener Bänder;
auch die Degen werden, wo es nur mit Anstand geschehen
kann, der Bequemlichkeit halber nicht angelegt; ihre
Hände bekleiden sie mit Handschuhen; ihre Zähne werden
nicht bloss geputzt, sondern weiss gemacht, und ihre
Gesichter gemalt. Die Männer entwöhnen ihre Füsse
vom Gehen und Fahren, wo sie nur können, sehnen sich
nach weichlichen Speisen, nach bequemen Polstern und
sanften Lagerstätten. Um auch den Weibern an Putz
nicht nachzugeben, so müssen feine Leinewand und Spitzen
zum täglichen Gebrauch dienen; sie umgürten sich mit
Uhren, bedecken die Finger mit Kingen und füllen ihre
Taschen mit Tändeleien.“ Nach Hüttner unterschied
sich der Mann oft nur durch die Beinkleider von einem
Weibe. Diese mit einer weibischen Ängstlichkeit behaf¬
teten Stutzer suchten auf alle möglichen Weisen ihre
„körperlichen Beize“ ins rechte Licht zu setzen, was auf
Bällen und Maskeraden, in Opern und Concerten oft
1) Archen holtz a. a. 0.
246
auf die abstossendste Weise geschah. i) Kein Wunder,
dass diese effeminirten „Exquisites“ auch an allen
Schmerzen und Leiden, die sonst Weibern eigentümlich
sind, laborirten. So bekam einmal in Bond Street ein
solches feines Herrchen einen richtigen Ohnmachtsanfall
und wurde in einen Laden gebracht. Hier stellte sich
heraus, dass der junge Mann — zu eng geschnürt war!^)
Sogar die fleischfarbenen Tricots gewisser
Ballettänzerinnen wurden von den Männern adoptirt.
Schütz^) berichtet: „Manche suchen durch die lächer¬
lichsten Karrikaturen Aufsehen zu erregen. So sah ich
zum Beispiel einige Engländer mit fleischfarbenen Unter¬
kleidern und ebensolchen Strümpfen im St. James Park
auf- und niedergehen. Der Anzug war mit Vorsatz so
knapp gemacht, um desto täuschender die natürliche
Farbe des Körpers vorzustellen. Der Zweck wurde auch
erreicht, denn von Ferne glaubte ich in der That, es
wären Bedlams Bürger aus ihren Gemächern entsprungen,
hätten unr Schuhe und Kleider angelegt und den übrigen
Körper unbedeckt gelassen. . . . Das hätte ich nie ge¬
glaubt, dass es unter den ernsthaften Engländern so viele
Stutzer gäbe. Sie können daher leicht denken, wie gross
meine Verwunderung war, Männer zu sehen, die statt der
Stöcke kleine dicke Knüppel in der Hand hielten, die,
weil sie gerade nicht länger als eine halbe Elle waren,
zum Gehen gar nicht konnten gebraucht werden. Von
den meisten wurden diese Stöcke ebenso wie die Fächer
von den Damen in der Hand gehalten.“
1) Hüttner a. a. 0. S. 78 u. S. 82.
John Bee „Sportsman’s Slang etc.“ London 1825
S. 22.
Schütz a. a. 0. S. 86 — 87. .
247
Andere Stutzer liefen mit einer hohen Coiffure ganz
nach weiblicher Art herum, trugen einen mächtigen Blu-
menstrauss auf der Brust, hatten in dem geschmückten
Antlitze Schönheitspflaster, bemalte Augenbrauen, grinsten
wie Affen, sprachen einen affectirten französisch-italienisch-
englischen Jargon und steckten im Winter ihre Hände
in grosse Muffe. Letzere wurden um die Mitte des 18.
Jahrhunders von den Männern ebenso häufig benutzt wie
zur Zeit der Restauration. „Ich sende Ihnen einen hüb¬
schen kleinen Muff, den Sie in die Tasche stecken
können,“ schrieb Walpole Weihnachten 1764 an George
M ontagu.^)
Das Frisieren der Männerköpfe war im 18. Jahr¬
hundert eine sehr umständliche Angelegenheit. Im Fri¬
seurladen beschäftigten sich oft vier Personen mit einem
Kopfe. „Einer machte den Zopf, und von den andern
drei Personen hatte jeder eine Seite des Kopfes zu seiner
Disposition übernommen, unterdessen ein Fünfter die
heissen Eisen ab- und zulangte. “^) Burke belegte die
gepuderten Stutzerköpfe mit dem geschmackvollen Namen
„Guineapigs“ d. h. Meerschweinchen.
Sehr verbreitet unter der fashionablen englischen
Männerwelt jener Zeit war das Tragen von Brillen und
Augengläsern, welches entschieden damals bei weitem
häufiger beobachtet wurde als heutzutage, daher wohl
nicht allein auf ein wirkliches physisches Bedürfnis zu- .
rückgeführt werden darf. Moriz fielen die vielen rei¬
tenden Leute mit Brillen auf, unter ihnen zahlreiche
jugendliche Personen.^) Schütz^.) bemerkt: „Ausserin
h 11- B. Baker „Stories of the Streets of London“ S. 324.
2) Schütz a. a. 0. S. 211.
3) „Moriz’ Reisen“ S. 8.
h ibidem S. 79.
248
Spanien wird das Brillentragen in keinem Lande so häufig
gefunden als eben in England. Man sieht junge Leute
mit Brillen auf der Londoner Börse sowohl als in der
Komödie, in Tavernen und Kaffeehäusern. Viele essen
und trinken mit Brillen auf der Nase, und noch auf¬
fallender ist es, wenn junge Leute sich der Brillen sogar
beim Beiten und Fahren zu bedienen pflegen. Der
Engländer natürlicher Hang zum Sonderbaren, den sie
bei jeder Gelegenheit zeigen, mag auch wohl vieles zum
Brillentragen mit beitragen. Doch ist es gewiss, dass
Viele ihres blöden Gesichts wegen genötigt sind, sich
dieser Instrumente zu bedienen; ob solches aber von
• starkem Gebrauch des Kaminfeuers herrühre, oder wohl
gar von zu starkem Opferfeuer, welches man
in Cytherens Tempel angezündet, das wäre eine
^ Untersuchung, die wir den englischen Physikern über-
sy .. lassen wollen.“ Besonders eitle Gecken liesen die Brillen
in Gold einfassen, ja sogar mit Brillanten besetzen.^)
Von den einzelnen Berufsklassen stellten besonders
die Theologen und Ärzte ein grosses Contingent zu den
Stutzern und galanthommes. „Die ungeheure Allonge-
perrücke, der Stock mit einem grossen unförmlichen
goldenen Knopf, das Sammetkleid und die feierliche
Miene der Ärzte, sind nicht mehr zu sehen ; denn die
neueren Aesculape erschienen in der Modefrisur, nach dem
neuesten Geschmack gekleidet und mit Spazierstöckchen
versehen, dabei bemühen sie sich auch, durch ihre ga¬
lanten Manieren zu gefallen. Die Theologen trugen einen
Berg Haare auf dem Kopfe, hatten schwarze Talare, ernste
Blicke und überhaupt ein ehrwürdiges Ansehen; jetzt
L Archenholtz „Annalen“ Bd. I, S. 414.
249
eine doppelte Reibe zierlich gebrannter Locken, reichlich
mit Pomade gekittet, und mit Puder ausstatfiert, lederne
Hosen, Stiefeln, Busenspitzen, sehr feine Schnupftücher und
diamantene Ringe.“
Den künstlichen Busen und Bäuchen des schönen
Geschlechtes entsprechen bei den Männern die künstlichen
Waden. Auch auf die Fussbekleidung wurde ganz be¬
sondere Sorgfalt verwendet. Der Beruf der Schuhputzer
erfreute sich eines lebhaften Zuspruches. Denn manche
Stutzer Hessen ihre Schuhe am Tage wohl mehr als zehn
Mal putzen.^)
Der sehr ausgeprägte Reinlichkeitssinn der Engländer
veranlasste einen täglichen Wechsel der Wäsche, nur die
unteren Stände wechselten dieselbe wöchentlich.^) Aber
freilich existierte in diesem Lande der Excentricitäten auch
ein „Club der scbmutzigen Hemden“, der entschieden
gegen jedes Reinlichkeitsbedürfnis Front macht. Er hatte
in der Strasse Low Holborn unter der Erde sein Local.
Auf den Einladungskarten an die Mitglieder stand als
Postscriptum : Besuchende Fremde ohne Hemden werden
nicht zugelassen.
Unter der Aegide des Prinzen von Wales, des
späteren Königs Georg IV, entwickelte sich das englische
Stutzertum am Anfänge des 19. Jahrhunderts zu dem
eigentlichen Dandytum,^) in welchem dieser Fürst
1) ibidem Bd. I, S. 420 — 421.
„Se'rails de Londres“ S. 175.
Schütz a. a. 0. S. 211.
•*) Archenholtz „England“ ßd. III. S. 141.
Archenholtz ,. Annalen“ Bd. I. S. 437.
Das^Fort .,Dandy“ ist nach Bee („Sportsniann’s Slang“
London 1825 S. 63) erst im Jahre 1816, in dem bereits Bru-
mmell’s Rolle als bewundertes Vorbild aller Stutzer aus¬
gespielt war, aufgekommen; die Verkörperung desselben war
aber schon lauge vorher da.
250
selbst und sein Freund George Brummeil die erste
Rolle spielten.
Das Wesen des „ersten Gentleman von Europa“, wie
Georg IV. (1762 — 1830) sich selbst gerne nannte, war
nach Thackeray’s treffenden Worten weiter nichts als
ein Rock, eine Perrücke, ein geziertes Lächeln, nichts als
äussere Maske: „Was war dieser Georg selbst, was war
er? Ich durchdenke sein ganzes Leben und sehe nichts
von ihm als eine affektierte Kopfneigung, ein geziertes
Lächeln. Ich will es versuchen und ihn in einzelne
Stücke zerlegen, da finde ich seidene Strümpfe, wattierte
Polster, eine Schnürbrust, einen Rock mit Borten, einen
Pelzkragen, einen Ordensstern und ein blaues Band, ein
herrlich duftendes Taschentuch, eine nussbraune, mit Öl
gesalbte Perrücke, eine Reihe Zähne, einen grossen
schwarzen Stock, Westen, ünterwesten, noch mehr Westen
und weiter nichts.“ Ö Seinen Eintritt in die grosse Welt
bezeichnete er durch die herrliche Erfindung einer neuen
— Schuhschnalle von einem Zoll Länge und fünf Zoll
Breite, die fast den ganzen Fuss bedeckte und an jeder
Seite auf die Erde reichte. Auf dem ersten Hof ball trug
er einen Rock von leuchtend roter Seide mit weissen
Handkrausen, seine weissseidene Weste war mit bunten
Fäden reich gestickt und mit einer Menge Zierrat beklebt,
sein Hut war mit zwei Reihen Stahlperlen geschmückt,
insgesamt fünftausend.' Derselbe war nach einer neuen
militärischen Mode aufgekrämpt.^ Seit 1784 wurde die
Residenz dieses königlichen Hohlkopfs, Carlton House, der
„Focus der Dandies“ der vornehmen Gesellschaft Londons^).
1) Thackeray „Die vier George“ S. 113 — 114.
2) ibidem S. 119.
Baker „Streets of London“ S. 325.
251
Unter ihnen trat im Anfänge des 19. Jalirhunders George-
Br ummell dem nachmaligen Könige ebenbürtig an die
Seite und erwarb sich den zweifelhaften Euf des „Dandy“
par excellence.
Bekanntlich hat dieser seltsame Modeheld in dem
geistvollen französischen Schriftsteller Jules Barbey
d’Aurevilly, der selbst ein Dandy war, einen leiden¬
schaftlichen Bewunderer und begeisterten Biographen
gefunden, dessen Schrift „Du Dandysme et de Georges
Brummeil“ (Paris 1862) eine eigenartige Apotheose des
Dandytums darstellt.
In der That war B rummell (geboren 1778) ein
sehr merkwürdiges Spezimen der Gattung Dandy, wie
aus der folgenden kurzen Betrachtung seiner Lebensweise
und seines Lebenslaufes hevorgeht.
Das Geheimnis seines „unvergesslichen Kostüms“ lag
nach Georgiana Hill in der erstaunlichen Sorgfalt,
welche er auf das geringste Detail derselben verwendete.
Zwar war die Toilette eines Gentleman in jenen Tagen
an sich schon eine langwierige Sache, aber Br ummell
übertraf alle in diesem Punkte. Denn jeden Morgen
verbrachte er nicht weniger als drei volle Stunden bei
der Toilette. Er hatte drei Friseure für den Vorder-,
Hinter- und die Seitenteile des Kopfes. Der „Clou“
seiner Kleidung war die Kravatte. Die Muster dazu
liess er sich von einem Maler zeichnen. Wenn die erste
Schleife nicht gut gebunden war, wurde die Kravatte
einfach weggeworfen und eine neue genommen. Er trug
täglich drei Kravatten, die letzte wurde nach dem Ver¬
lassen der Oper oder des Theaters umgebunden, bevor er
zum Abendessen oder zum Kartenspiele ging. Ausserdem.
252
wechselte er dreimal täglich das Hemd! Natürlich waren
seine Wäscherechnungen ganz kolossale.^)
Brummeil führte den Grundsatz in das Dandytum
ein, dass das Vornehmste zugleich das Einfachste sei.
Er vermied in seiner Toilette alles Auffällige, Bunte,
Schreiende, alle Extravaganzen der Gecken des 18. Jahr¬
hunderts. Barbey d’Aurevilly sagt: „Le luxe de
Brummelt etait plus intelligent qu’eclatant; il etait une
preuve de plus de la sürete de cet esprit qui laissait
Pecarlate aux sauvages, et qui inventa plus tard ce grand
axiome de toilette: „Pour etre bien mis, il ne faut pas
etre remarque!“^) Daher wurde u. a. der übermässige
Gebrauch von Parfümen, Pomaden und Ölen streng von
ihm verpönt.^)
Nach Brummeil musste der echte Dandy Jilles
Lächerliche und Übertriebene in seiner Kleidung und in
seinem Auftreten vermeiden, dabei aber doch durch sein
blosses Äusseres die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich
ziehen. Dass ihm das Letztere in so hohem Grade ge¬
lang, verdankte er einer seltsamen Mischung von höchster
Intelligenz, Ironie, Impertinenz, Indolenz und Grazie in
seinem Wesen, welche alle Welt bezauberte.^)
Von 1799 bis 1814 gab es kein Fest, keine gesell¬
schaftliche Versammlung in London, bei welcher die
Gegenwart des berühmten Dandy nicht als ein Triumph,
seine Abwesenheit nicht als eine Blamage betrachtet worden
wäre. Sein Name wurde in den Zeitungen an der Spitze
aller Eingeladenen abgedruckt. Bei den Bällen in Almack’s,
1) G. Hill a. a. 0. Bd. II S. 115-117.
2) Barbey d’Aurevilly a. a. 0. S. 80—81.
3) Hill a. a. 0. Bd. II S. 117.
■*) Barbey d’Aurevilly S. 87: S. 98.
253
bei den Rennen von Ascott spielte er die Hauptrolle.
Einmal veranstaltete er selbst ein Hanover Square ein
als „Dandies’ Ball“ berühmt gewordenes Fest. Er war
Vorsitzender des Watier- Clubs, dessen Mitglied auch Lord
Byron war. Er war die Seele der Gesellschaften in
Carlton House und eine Zeit lang der Busenfreund des
Prinzen von Wales, der ihn allein als ebenbürtigen Neben¬
buhler auf dem Gebiete der Toilette anerkannte. Sogar
die geistigen Grössen seiner Zeit verstand er zu fesseln.
Der Dichter Moore hat ihn besungen, Byron ihn Öfter
anerkennend erwähnt. Barbey d’Aurevilly meint, dass
die Persönlichkeit Brummell’s bei der Schöpfung des
„Don Juan“ vorgeschwebt habe, da diese Dichtung ganz
den „Ton des Dandy“ habe. Das Geheimnis der Wirkung
B r u m m e 1 l’s beruht zum grössten Teile auf dem Umstande,
dass er sich nicht gemein machte und in allen Gesell¬
schaften gewissermassen nur als ein leuchtendes Meteor
auftauchte, indem er überall nur ganz kurze Zeit ver¬
weilte. Er stellte als Princip des Dandysmus den Grund¬
satz auf, dass man so lange bleiben müsse, bis man eine
sichtbare Wirkung erzielt habe, dann aber schleunigst
fortgehen müsse. Für ihn war der Effekt nur eine Frage
der Zeit.
Die Frauen vergötterten Brumm eil. Die berühmte
Courtisane Henriette Wilson gedenkt in ihren Memoiren
seiner mit leidenschaftlichen Worten.^)
Das Ende dieses berühmten Dandy war ein trauriges.
Er musste im Mai 1816 England verlassen, da er sich
1) Vergl. darüber den „Daily Telegraph“ vom 19. Juli 1903.
-) Barbey d’Aureyilly. S. 104; S. 107.
3) ibidem S. 71.
4) ibidem S. 73.
254
<durcli das Spiel ruinirt liatte und sein ehemaliger Freund,
der Prinzregent (Georg IV.) ihm jede Unterstützung ver¬
sagte. In Calais wurde er eine Zeit lang von Freunden
unterhalten. Sein Ansehen als Modepapst war noch
■unvermindert. Viele vornehme Engländer pilgerten zu
ihm, um sich seinen Rat in Kleidungsangelegenheiten zu
holen. Aber allmählich hörten die Unterstützungen auf,
und dann gerieth auch er immer mehr in Vergessenheit.
König Wilhelm IV. ernannte ihn 1830 zum Consul in
Uaen, welche Stellung ihm später wieder genommen wurde.
Zuletzt stolzirte er, ein completer Narr, als eine traurige
Ruine seiner einstigen Herrlichkeit, immer noch auf eine
^gewisse Eleganz bedacht, in den Strassen von Caeri umher,
wo ihn Barbey d’Aurevilly noch persönlich sah.
Er starb in den dreissiger Jahren.^)
Fürst Hermann v. Pückler-Muskau, der das
■ englische Dandythum zur Zeit BrummelPs persönlich
kennen gelernt hatte, entwirft davon in den „Briefen
eines Verstorbenen“ die folgende Schilderung:
„In der Regel braucht ein solcher Elegant wöchentlich
'20 Hemden, 24 Schnupftücher, 9 — 10 Sommer „Trowsers“,
-30 Halstücher, wenn er nicht schwarze trägt, ein Dutzend
Westen und Strümpfe ä discretion. Ich sehe deine haus-
Irauliche Seele von hier versteinert. Da aber ein Dandy
ohne drei bis vier Toiletten täglich nicht füglich aus-
kommen kann, so ist die Sache sehr natürlich, denn
1) erscheint er in der Frühstücks-Toilette in chine¬
sischem Schlafrock und indischen Pantoffeln.
9 ibidem S. 126; S. 134; S. 188; S. 154.
2) Vergl. auch die vortreffliche Schilderung B r u m m e 1 l’s in
‘Calais in des Fürsten von Pückler-Muskau „Briefen eines
Werstorbenen.“ München 1830 Bd. II. S. 313—320.
255
2) Morgentoilette zum Eeiten im Frock coat, Stiefeln
und Sporen.
3) Toilette zum Diner in Frack und Scliulien.
4) Balltoilette in Pnmps, ein Wort, das Schuhe, so
leicht wie Papier bedeutet, welche täglich frisch
lackirt werden.“^)
Eine Ergänzung nach der psychologischen Seite erfährt
diese Schilderung durch Gronows feine Charakteristik des
Dandytums unter der Ägide Brumm eil’ s. Er sagt,
dass die Dandies „weder hochgeboren, noch reich, noch
schön, noch klug, noch angenehm waren, sondern ge¬
wöhnliche Männer von mittlerem Alter, mit grossem
Appetit waren, die in White’s Bogenfenster sassen, ziemlich
viel fluchten, niemals lachten, ihren eigenen Jargon hatten,
nach Tische etwas düster blickten und fast alle von dem
Prinzregenten oder Beau Brumm eil patronisirt wurden.“^)
Es kann aber nicht geleugnet werden, dass gerade
dieses durchaus originelle Dandytum in England die Ver¬
mittelung und den Übergang zu einer allmählichen Verein¬
fachung der männlichen Kleidung gebildet hat. Überhaupt
hatte die englische Mode am Anfänge des 19. Jahrhunderts
sich fast gänzlich von dem allbeherrschenden Einflüsse
der französischen emancipiert und eine grosse Selbst¬
ständigkeit gewonnen. Weiss bemerkt darüber: „Das
von solchen Verhältnissen getragene, nun stetig wachsende
Gefühl eigentlicher Volkstümlichkeit, fortdauernd genährt
durch die beständig steigende geistige Entfaltung auf
allen Gebieten der Wissenschaft, steigerte die Abschwenk¬
ungen von den französischen Gebahren in immer rascher
9 „Briefe eines Verstorbenen.“ Stuttgart 1831. Bd. IV. S. 49.
2) Traill a. a. 0. Bd.VI S. 98.
256
fortschreitendem Umfange, selbst bis zur Abneigung da¬
gegen. Mit der Verselbstständigung dieses Gefühls mehrte
sich gleicbmässig das Bedürfnis nach wiederum eigen
volkstümlicher Weise. So denn in zunehmendem Maasse
geradezu absichtlich bestrebt, die leichtfertige französische,
bloss äusserliche Verfeinerung durch bewusste Natürlich¬
keit und eine damit zusammenklingende gediegene Ein¬
fachheit zu ersetzen, blieb nun dies auch keineswegs frei
von mancherlei Übertreibungen, worin einzelne sich dann
wohl gar bis zu einem niedrigen Grade von Kenommisterei
verloren. Im Ganzen aber trat es dem französischen Un¬
wesen in ebenso entschiedener als imponierender Form
entgegen, so dass es in Frankreich zahlreiche Nachäfter
fand und damit anch den französischen Einfluss überhaupt
herabstimmte.“
So ist der moderne männliche Gesellschaftsanzug,
namentlich der Frack,*-^) wesentlich englischer Herkunft,
und gegenwärtig empfängt die europäische Herrenmode
mindestens ebenso häufig von London ihre Inspirationen,
wie von Paris. Namentlich spielte der frühere Prinz von
Wales, jetzige König Eduard VH. eine grosse Rolle in
dieser Beziehung. Sombart bemerkt: „Das Centrum
für die Entstehung der Herrenmoden ist noch immer die
Umgebung des Prinzen von Wales, dessen Herrschaft
namentlich für Hutformen und Cravattenfarben weit über
die Grenzen beider Indien hinausreicht. “^)
Die weibliche englische Kleidung des 19. Jahrhun¬
derts blieb im allgemeinen in etwas grösserer Abhängig-
H. Weiss „Kostümkunde“ Bd. II. S. 1176.
2) Traill a. a. 0. Bd. VI. S. 95.
3) W. Sombart „Wirtschaft und Mode“ Wiesbaden.
1902. S. 19.
257
keife von der französischen. Bornemann geisseife um
1818 das „ballonarfeig prall übergenähfee Kleid, dem wohl
noch, um nichfes unbezeichnefe zu lassen, inmifefeen ein
Tüllknopf aufgepflanzfe wird.“i) Als die Kaiserin Eugenie
die Krinoline wieder eingeführfe hafefee, war England das
ersfee Land, welches diese barbarische Mode sogleich be¬
gierig aufnahm, und wenn auch seife 1880 die „esfehefeic“
und „dress reform movemenfes“ der allzu grossen Neigung,
die französischen Exferavaganzen nachzuahmen, energisch
enfegegenarbeifeen, so konnfeen sie selbsfe in der neuesfeen
Zeife den Import; der unglaublichsfeen Modeverirrungen
nicht; verhindern, wie dies z. B. die sogenannfeen Busen¬
ringe sind.
In der englischen Zeifeschriffe „Sociefey“, Jahrgang
1899 finden sich sehr merkwürdige Einzelheifeen über
diese raffinirfee Mode, welche auch in einer Auszüge aus
dieser Zeifeschriffe bringenden deufeschen Schrift mitgeteilt
werden.^) Sie besteht im wesentlichen darin, dass die
Brustwarzen durchbohrt und durch die Löcher goldene
mit Brillanten besetzte Einge gezogen werden. Natürlich
ist der Zweck dieser recht augenfällig an die Lippen-
und Nasenpflöcke der Wilden erinnernden Operation ein
rein erotischer, indem durch die Anbringung eines
Schmuckes an einer solchen eigenartigen Stelle bei der
Dekolletirung die Aufmerksamkeit auf letztere gelenkt
werden soll. Der Busenring konkurrirt also in dieser
Beziehung mit der Schnürbrust. Freilich entwickelt eine
Modistin aus der Oxford Street in einem Briefe an den
Herausgeber der „Society“ ganz sonderbare Anschauungen
1) Borne mann a. a. 0. S. 51.
2) E. Neumann „John Bull beim Erziehen“ Neue Folge,
Bd. II, Dresden 1901 S. 15 fl. S. 24 S. 29 ff. S. 55 ff. S. 84 ff.
17
258
über die Ursachen der Mode der Busenringe. Sie
schreibt: „Längere Zeit wollte es mir nicht einleuchten,
warum ich mich einer doch immerhin schmerzhaften
Operation ohne genügenden Grund unterziehen solle.
Bald aber kam ich auf die Ursache, der zu Liebe viele
Damen den vorübergehenden Schmerz ertrugen; ich fand,
dass die Büsten der Ringe tragenden Damen ohne Aus¬
nahme runder und voller entwickelt waren, als diejenigen,
denen dieser Schmuck fehlte. Nun war auch mein
Zögern zu Ende. Obgleich ich von Natur nicht gerade
dürftig ausgestattet bin, hatte ich mir eine recht volle,
üppige Büste bei schlanker Taille stets lebhaft gewünscht,
einmal weil sie mir an sich ausnehmend gut gefällt und
zweitens weil sie gerade meinem Beruf von grossem Vorteil
ist. — So liess ich mir denn bald darauf die Brustwarzen
durchbohren und, nachdem die Wundränder verheilt waren,
Ringe durchziehen. Selbstverständlich sind es keine be¬
sonders kostbaren oder gar brillantengeschmückte, aber
ich bin auch schon mit meinen glatten, goldenen ganz
zufrieden. — In Bezug auf die Empfindung beim Tragen
derartiger Ringe kann ich nur sagen, dass sie nicht im
mindesten unangenehm oder gar schmerzhaft ist. Nein,
das leise Reiben und Gleiten der Ringe in den Öffnungen
verursacht mir ein äusserst angenehmes, kitzelndes Ge¬
fühl, und alle Kolleginnen, mit denen ich darüber sprach,
haben meine Wahrnehmungen bestätigt. “Ö
Die Sitte oder besser Unsitte der Busenringe soll
schon bei den alten Aegyptern geherrscht haben. Ferner
wird sie in alten italienischen Romanzen erwähnt. So
heisst es in der Romanze „Donna Clemencia und der
Mönch“ :
„John Bull beim Erziehen“ N. F. Bd. II. S, 56.
259
Der feiste Priester blickt begehrlich hin:
Es war der Glanz der wundervollen Ringe,
Der ihm ins Auge stach. Wie Rosenknöspchen
So hoben sich von schneeig weisser Brust
Die goldgeschmückten Busenwärzchen ab.
In alten spanischen Werken werden die Busenringe
:als Mittel der Tortur erwähnt. Man durchbohrte den
•der Ketzerei verdächtigen Mädchen und Frauen die Brust¬
warzen oder die ganzen Brüste mit glühenden Nadeln
^oder Zangen und zog durch die Löcher eiserne Ringe.
Das sexuelle Element dabei erhellt deutlich aus der fol¬
genden sadistischen Schilderung: „Die jungen Mädchen,
vom zarten Kindesalter bis in die zwanziger Jahre, wurden
•an den Ringen zum Schandpfahl geschleppt und dort so
nackt wie Neugeborene, mit Ruten gepeitscht.“ Ähnliche
•'Greuel sollen türkische Soldaten an armenischen Mädchen
verübt haben.
Die Mode der Busenringe ist auch bei den Weibern
von Tunis und im griechischen Archipel verbreitet, ln
-Abessynien sollen die Frauen auf eine noch seltsamere Art
ihre Brüste vergrössern. Sie lassen nämlich dieselben
von Bienen stechen, bis sie zum drei- oder vierfachen
Tolumen ihres sonstigen Umfanges angeschwollen sind.^)
1898 soll ein Juwelier in der Bond Street die Brust¬
warzenoperation an 40 englischen Damen und jungen
Mädchen vorgenommen haben auch die Modistin aus
«der Oxford Street bestätigt die Ausbreitung dieser Unsitte
unter der Londoner fashionablen Frauenwelt.^)
1) ibidem S. 16, 30, 85—87.
2) ibidem S. 25.
ibidem S. 55.
17*
260
Manche Damen sollen sogar statt der Kinge schmale-
von Brust zu Brust reichende Kettchen auf ihrem Busen
befestigen. So trägt eine berühmte Schauspielerin des-
Gaiety-Theaters eine Perlenschnur mit einer Schleife an.
jedem Ende.’)
1) ibidem S. 16 und S. 25.
Fünftes Kapitel.
Aphrodisiaca, Kosmetica, Abortiv- und
Geheimmittel.
Einen integrierenden Bestandteil der Geschichte des
Tnenschlichen Geschlechtslebens bildet die Betrachtung der
inneren und äusseren „Sexualmittel“ im weitesten Sinne
des Wortes d. h. der natürlichen und künstlichen, der
alimentären und medicamentösen Mittel zur Steigerung
•des eigenen, zur Anreizung des fremden Ge¬
schlechtstriebes, zur Beseitigung und Verhüt¬
ung gewisser Folgen des legitimen und ille¬
gitimen Geschlechtsverkehrs.
Steigerung und Anreizung der Libido sexualis werden
im wesentlichen auf alimentärem Wege durch alkohol-
.istische und gastronomische Excesse, auf medi¬
kamentösem Wege durch die sogenannten Aphrodisiaca
und Kosmetica hervorgerufen.
Unter den unerwünschten Folgen des Geschlechtsver¬
kehrs, gegen welche besondere Mittel angewendet werden,
nehmen Schwangerschaft, venerische Krank¬
heiten und Impotenz die erste Stelle ein. Gegen sie
hat man von jeher ein grosses Heer von Präventiv-,
Abortiv- und sexuellen Geheimmitteln aufmar¬
schieren lassen, welches Heer von einer besonders berüch¬
tigten Verbrecherklasse befehligt und zu oftmals verhäng-
262
nisvollen Angriffen auf menschliclie Gesundheit und)
menschliches Leben geführt wird: den Kurpfuschern^
Dieser natürliche Zusammenhang ergiebt sich auch,
aus der Betrachtung der Geschichte der Sexualmittel iu
England.
Ohne Zweifel ist der Umstand, wie ein Volk isst und'
trinkt, von sehr grossem Einflüsse auf das Geschlechts¬
leben desselben. Die Art und Wahl der Speisen und
Getränke ist in dieser Beziehung durchaus nicht gleich¬
gültig. Im allgemeinen kann man sagen, dass ein über¬
mässiger Consum bezw. die Praevalenz von Alkohol und
Fleischspeisen in der Nahrung als ein sexuelles StimulanS'
wirkt, während eine vorwiegend vegetabilische Ernährung
— wobei gewisse aphrodisisch wirkende Vegetabilien aus¬
genommen sind — eine für die Vita sexualis blande Diät
darstellt.
Natürlich wirkt dieUnmässigkeit in dem Genüsse-
der ersteren Gruppe von Nahrungs- und Genussmitteln
erst recht verderblich auf den Geschlechtstrieb ein. Die-
Parallele zwischen Wein und Wollust hat schon Chaucer
an einer Stelle der „Canterbury Tales‘‘ gezogen. „Die¬
Unmässigkeit ist die Mutter aller Laster“ lässt der
Marquis de Sade einen seiner Helden sagen. An eben¬
derselben Stelle (Justine III, 232 — 233) wird die der
Venus günstige Stimmung nach einer üppigen Mahlzeit
folgendermassen geschildert und verherrlicht: „Et quelles-
nouvelles forces, en effet, n’acquerons-nous pas pour les-
scenes lubriques, lorsque nous y passons an sortie d’une-
Orgie de table! combien alors nos esprits vitaux se-
trouvent exaltes! II semble qu’^une nouvelle chaleur circule-
dans nos veines; les objets lubriques s’y peignent avec
plus d’energie ; le desir qu’on a d’eux devient d^une tell&
263
force qu’il n’est plus possible d’y resister ... 0 volup-
tueuse intemperance ! je te regarde comme la regenera-
trice des plaisirs; ce n’est qu’avec toi qu’on les goüte
bien; ce n’est que par toi qu’ils n’ont plus d’epines; toi
seule en aplanis la route; toi seule en ecartes l’imbecile
remords; toi sais delicieusement troubler cette raison, si
froide et si monotone, dont toutes nos passions sont
empoisonnees sans toi.“
Berücksichtigt man diese Verhältnisse, dann wird
man nicht umhin können, der Ernährungsweise der
Engländer einen bedeutenden Einfluss auf ihr geschlechts¬
ieben zuzugestehen. Denn die englische Volksnahrung ist
seit alter Zeit durch den ausserordentlich grossen Consum
von Fleisch und alkoholischen Getränken ausge¬
zeichnet, wozu sich eine weit verbreitete Unmässigkeit
bei Tische gesellt. Es kann keinem Zweifel unterliegen,
dass diese drei Momente von einem gewissen Einflüsse
auf die Gestaltung und Äusserungsweise der Vita sexualis
der Engländer gewesen sind und auch die Häufigkeit
gewisser auffälliger Erscheinungen derselben, wie z. B.
der Flagellomanie teilweise erklären.^)
Schon das bekannte Volkslied der Engländer: „Oh
the roastbeef of Old England“ deutet das Alter jener
Vorliebe für Fleischgenuss an. Johann Joachim
Becher, ein Arzt aus dem 17. Jahrhundert, stellt dies
in seiner „Pschychosophia“ als eine allgemein bekannte
Thatsache hin: „Wie ungesund und stinckend die Engel¬
länder bey ihrem häuften Fleischfressen seyn, ist bekandt.“
q Auch Hüttner a. a. 0. S. 170 spricht von dem „ver¬
derblichen Einflüsse des häufigen Genusses animalischer Speisen
auf die Säfte und die daraus folgende Sittenverderbnis.“
2) „Johann Joachim Bechers, von Speyer,
Psychosophia oder Seelen-Weisheit“ 2. Auflage, Frank
furt 1G73 S. 200.
264
Ebenso charakterisirt ein französischer Schriftsteller des
17. Jahrhunderts, Boisguillebert die Engländer als
gewaltige Biertrinker und Fleischesser bis in die untersten
Klassen hinab, während die Franzosen seiner Zeit fast
nur Brot verzehrten.^) Ein anderer Franzose jener Zeit,
H. Misson de Valbourg, der nach jahrelangem Auf¬
enthalte in England eine sehr interessante Beschreibung
von Land, Volk und Sitte veröffentlicht hat, die 1698 im
Haag erschien,^) berichtet: „Les Anglois mangent beau-
coup ä diner. Ils mangent ä reprises, et remplissent le
sac. Leur souper est leger. Gloutons ä midi, fort sobres
au soir. J’avais toujours ou'i dire qu’ils etoient carnas-
siers; et j’ai trouve que cela est vrai. On m’a parle,
de plusieurs personnes en Angleterre qui n’ontjamais
mange de pain; et pour Fordinaire, ils en mangent
tres peu. Ils grignotent de temps en temps quelque
miette, pendant qu’ils machent la chair ä grandes bouchees.“
Englische Autoren bestätigen die Kichtigkeit dieser
Mitteilungen fremder Beobachter. Traill bemerkt, dass
die ünmässigkeit unter Jakob I. so gross war, dass
Hofdamen und Höflinge sich häufig sinnlos betrunken auf
dem Boden wälzten^), Macaulay erwähnt den ungeheuren
Bierkonsum der mittleren und unteren Klassen seit dem
15. Jahrhundert, dem ein ebenso grosser Wein verbrauch
der oberen entsprach. Meist lagen nach beendigter
Mahlzeit die Männer völlig berauscht unter dem Tische.^)
LWillielm Roscher „System der Volkswirtschaft“
20. Auflage, Stuttgart 1892 Bd. I S. 628.
2) H. Misson de Falb ourg „Memoires et observations
faites par un voyageur en Angleterre“ Haag 1698 S. 392 — 393.
3) Traill a. a. 0. Bd. IV S. 161.
h Macaulay „Geschichte von England.“ Deutsch von
W. Beseler, Braunschweig 1859. Bd. II S. 47 — 48.
265
Wie es am Anfänge des 18. Jahrhunderts in dieser
Beziehung aussah, hat Paul Hensel in seinen wert¬
vollen Untersuchungen über die englischen „sozialen
Zustände zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts“ dar¬
gelegt ^):
„Alle Welt trank damals und zwar mit Vorliebe
schwere Weine. Der Burgunder wurde dem leichten Rotweine
vorgezogen. Dem Burgunder erstanden bereits in Portwein
und Xeres gefährliche Konkurrenten. . . Auch die Damen
entzogen sich den schweren Weinen durchaus nicht und
Hessen den übrigen Tag nicht ohne Anwendung unter¬
schiedlicher feiner Liköre vorübergehen. Es ist darauf
aufmerksam gemacht worden, dass gerade um diese Zeit
der Thee anfängt, wenigstens in den oberen Kreisen der
Gesellschaft gebräuchliches Getränk zu werden, aber man
hat daraus fälschlich den Schluss gezogen, dass damit
sogleich eine Abnahme an anderen Getränken gegeben ist.
Mistress Millamont behält sich für ihre zukünftige Ehe
„die alleinige Herrschaft über ihren Theetisch“ vor, ihr
Liebhaber willigte ein, aber mit dem Vorbehalt, „dass
keine fremden Hülfstruppen zugezogen werden, wie Orange,
Anis, Cardamom, Citronen und sonstige Liköre mit Ra-
tafia und dem nicht genug zu lobenden Rotwein“. Als
Hauptgetränk aber tritt uns das Bier entgegen. Wenn
wir für eine Familie, deren Ausgabebuch wir besitzen,
sämmtliche weibliche Personen mit einbegriffen, vier Liter
den Tag an Dünnbier herausrechnen können, wenn wir
berücksichtigen, dass Kaffee und Thee zum Frühstück
unbekannt waren, und dass ihre Stelle gleichfalls von
3) P. Hensel „Englische sociale Zustände zu Anfang des
.achtzelinten Jahrhunderts“ in: Neue Heidelberger Jahrbücher
1899 Bd. IV. S. 4—5.
266
Dünnbier eingenonamen wurde, so sehen wir, dass in allen
Klassen des englischen Volkes das Bier als Lebensnot¬
wendigkeit galt. Und neben dem Dünnbier wurden dia
stärkeren Sorten starkes Bier und Porter nicht vernach¬
lässigt. Die Steuer auf Malz war eine Haupteinnahmequelle
des Staates und die damalige Philanthropie freute sich
der Liebe des Volkes zum Nationalgetränk als des sichersten
Mittels den Branntweingenuss einzuschränken. In Ho-
garth’s „Biergasse“ und „Branntweingasse“ ist dieser
Kontrast aufs stärkste betont. In der Biergasse schäumende
Krüge mit mächtigen Stücken Eindfleisches, Arbeiter^
deren Muskeln von dieser gesunden Nahrung Zeugnis
ablegen, gut gehaltene Häuser, das einzige verfallene gehört
einem Pfandleiher. In der Branntweingasse elende halbidiote
Gesellschaft, nur der Pfandleiher hat ein blühendes Geschäft.“
Freilich war Hogarth’s Bild wohl mehr ein Produkt
der Phantasie, da der reichliche Biergenuss ebenfalls^
schädliche Folgen hinterlassen musste und auch keineswegs-
den Branntweingenuss ausschloss oder einschränkt. Viel¬
mehr wurde letzterer immer beliebter und allgemeiner,,
seitdem er von 1723 an im Lande selbst hergestellt wurde.
Früher war er meistens von Frankreich eingeführt worden
und nur den höheren Klassen zugänglich gewesen, denen
dieser Genuss bald unentbehrlich wurde. William King
erzählt, dass Pope, mit welchem er einmal bei dem
Earl ot Burlington dinirte, bei Tische unwohl wurde aus-
dem einzigen Grunde, weil er den gewohnten Branntwein
nicht bekam. Man setzte ihm ein ungeheuer grosses-
Glas vor, welches er in weniger als einer halben Stunde
zum Erstaunen der Anwesenden gänzlich austrank.
_ A
1) Traill a. a. 0. ßd. V. S. 136.
2) William King „Political and literary anecdotes of
bis own times“ 2. Aufl. London 1819. S. 12 — 13.
267
Dass die gastronomischen Excesse in jener Zeit nicht
minder ungeheuerlich waren als die alkoholistischen, lehrt
die köstliche Schilderung, welche Swift in seiner „mo¬
dischen Unterhaltung“ von einem solchen Diner uns
hinterlassen hat und welche Thackeray in seinem Buche
über „England’s Humoristen“ als ein „merkwürdiges,
beschreibendes Dokument von den Sitten des verflossenen
Zeitalters“ wiederholt hat.
„Diese Modigen begannen ihr Diner mit einem
Ochsennierenstück, Fisch, mit einer Kalbsschulter und
einer Zunge. Mylady Smart legte das Nierenstück vor,
Mylady Answerall machte den Fisch zugänglich und der
tapfre Obrist zerschnitt die Kalbsschulter. Alle machten
einen beträchtlichen Angriff auf das Nierenstück und die
Kalbsschulter, mit Ausnahme des Baronet, der keinen
Appetit verspürte, weil er schon, sobald er sich Morgens
erhoben, ein Beefsteak mit zwei Krügen Ale, ausser einem
Schoppen Märzbier, zu sich genommen. Man trank Claret,
der, nach dem Herrn vom Hause, stets nach dem Fisch
getrunken werden sollte, und Mylord Smart empfahl
insbesondere Mylord Sparkish seinen ausgezeichneten Cider,
w^odurch einige glänzende Bemerkungen dieses Edelmannes
hervorgerufen wurden. Der Wirt trank kein Glas Wein,
ohne dem einen oder dem andern seiner Gäste zuzunicken
und rief dabei: „Zu Euren Diensten, Tom Neverout!“
— Nach dem ersten Gange erschienen Mandelpudding und
Kahmkuchen, wovon der Obrist mit eigner Hand aus der
Schüssel nahm, um die glänzende Miss Notable zu ver¬
sehen, junge Hühnchen, schwarze Puddings und Suppe,
0 W. M. T hacke ray „England’s Humoristen“, übersetzt
von A. V. Müller, Hamburg 1854. S. 149 — 152.
268
und als Mylady Smart, die elegante Dame vom Hause,
eine Spinne in einer Schüssel fand, legte sie solche auf
einen Teller und gab den Befehl sie zur Köchin hinunter
zu tragen und sie für der Köchin eignes Diner anzurichten.
Diesen zweiten Gang begleiteten Wein und Schmalbier,
und forderte der Obrist Bier, so nannte er den Keller¬
meister Freund und fragte, ob das Bier gut sei. — Nach
den Puddingen, den süssen und den schwarzen, nach dem
Eahmkuchen und der Suppe, kam der dritte Gang, dessen
vornehmste Schüssel eine heisse Wildpastete war, die dem
Lord Smart vorgesetzt und von diesem Edelmann zer¬
schnitten ward. Ausser der Pastete gab es einen Hasen,
ein Kaninchen, einige Tauben, Kebhühner, eine Gans und
einen Schinken. Keichliche Spülungen von Wein und
Bier begleiteten diesen Gang, wobei die Herren stets mit
jedem Glase, das sie tranken. Jemanden aufforderten und
die Unterhaltung zwischen Tom Neverout und Miss
Notable war um diese Zeit so lebendig uud munter ge¬
worden, dass sie den Baronet aus Derbyshire auf den
Gedanken zu bringen begann, die junge Dame sei Tom’s
Allerliebste, worauf die Miss bemerkte, dass sie Tom liebe
„wie Pie“. Nach der Suppe nahmen einige der Herren
einen Zug Branntwein zu sich, was „sehr gut für die
Gesundheit“ sei, wie Herr John sagte, und nach Beendi¬
gung dieses erträglich bestandreichen Mittagsmahls hiess
Lord Smart den Kellermeister den grossen Humpen für
Herrn John mit Oktoberbier füllen. Der grosse Humpen
ging von Hand zu Hand und von Mund zu Mund; als
ihn der edle Wirt aber dem galanten Tom Neverout
aufnötigte, wies ihn dieser von sich: „Auf Glauben,
Mylord, ich liebe Ihren Wein und möchte keinen Bauern
auf einen Gentleman setzen. Euer Würden Claret ist gut
269
genug für mich.“ Das Diner war vorbei und der Wirt
sprach; „Häng’ die Sparsamkeit, bring’ uns für einen
Halbpfennig Käse.“ — Jetzt ward das Tischtuch entfernt
und eine Flasche Burgunder aufgesetzt, an der die Damen
eingeladen wurden, Teil zu nehmen, bevor sie sich zu
ihrem Thee begäben. Als sie sich dann zurückgezogen,
versprachen die Herren, in einer Stunde sich bei ihnen
einzustellen, es wurden frische Flaschen gebracht und die
Toten, worunter die leeren Flaschen zu verstehen, entfernt,
und Mylord Smart sprach: „Hörst Du, John, bring reine
Gläser,“ worauf der tapfre Obrist Alwit bemerkte; „ich
will mein Glas behalten, denn Wein ist die beste Flüssig-
eit, um Gläser zu waschen.“
In diesem lebensvollen Bilde fehlt noch ein Zug, der
den englischen gastronomischen Ausschweifungen jener
und späterer Zeiten eigentümlich war. Das ist der
Ton der Unterhaltung bei Tische, der schon in Gegen¬
wart der Damen recht frei war, nach der üblichen
Entfernung derselben aber geradezu o b s c ö n wurde. Schon
in Mrs. Manley’s „Atalantis“ heisst es: „Habt ihr
wahrgenommen die Verschwendungen auf einer Tafel, die
delikaten Speisen, welche aufgetragen wurden, die köst¬
lichen Weine und andere starke Getränke zu Ende der
Mahlzeit. Habt ihr auf ihre Conversation und Gespräch
Acht gegeben, in welchem der Respekt, den man gegen
unser Geschlecht in Obacht nehmen solle, hindangesetzt
und durch die zweydeutigen Worte und andere unver¬
schämte Reden beleidigt worden. . . Die Belustigungen,
welche auf die Mahlzeit gefolget sind, waren vollends gar
mit Lastern erfüllet,
0 Mrs. Manley’s „Atalantis“ S. 375.
270
Gastronomiscke Themata wurden selbst von ange¬
sehenen Schriftstellern erörtert. Der obengenannte
William King schrieb für den Beefsteak-Klub eine
„Art of cookery“ (Kochkunst) A)
Im weiteren Verlaufe des 18. Jahrhunderts war eher
^ine Zunahme als Abnahme der Vorliebe für die Freuden
der Tafel zu bemerken. Vor allem begannen die niederen
Volksklassen sich in bedenklicher Weise an den Aus¬
schweifungen in Speise und Trank zu beteiligen. Über
das Fressen und Saufen und die Hoheit, mit der dabei
vorgegangen wurde, sind manche ergötzlichen Schilderungen
vorhanden. So erzählt der Verfasser der „Müssiggänger
und Taugenichtse in London“ von einer Maskerade, der
or beiwohnte : „Ich begab mich also nach dem anderen
Ende des Saals, wo mir ein überaus angenehmer Duft
von den leckerhaftesten Speisen entgegen kam. Es ward
mir anfangs schwer, den Ort zu entdecken, wo dieser
herrliche Geruch herrührte; endlich aber ward ich in
einer abgelegenen Ecke des Zimmers eine Treppe gewahr,
die fast perpendikulär nach einem unterirdischen Keller
herunter führte. Indem ioh hereintrat, kam es mir vor,
gerade als wenn ich unter einen grossen Kudel Vielfrasse
gekommen wäre, so unflätig ward hier auf die herrlichsten
Leckerbissen, die man sich immer vorstellen kann, hinein
gefressen . . . Ich begab mich hierauf in ein Neben¬
zimmer, wo ich eine Dame in ganz erbärmlichen Um¬
ständen vorfand. Das arme Geschöpf mochte wohl etwas
zu viel Wein und Limonaden genossen haben, welches
Grass e a. a. 0. Bd. III S. 374.
2) „Offenherzige Schilderung der Müssiggänger und Tauge-
.nichtse in London.“ London 1788. Bd. II S. 106 — 107.
271
ihr ein schreckliches angstvolles Würgen verursachte. Ich
tröstete sie, so gut man eine Dame in so traurigen
Umständen nur immer trösten kann.‘^ Der „Fresswanst“
war im 18. Jahrhundert eine typische Erscheinung in jeder
Gesellschaft. Um besonders schmackhafte und delikate
Gerichte wurde oft ein erbitterter Kampf auf sehr rohe
Weise geführt i). Sogar der berühmte Schriftsteller
Samuel Johnson war wegen seiner unglaublichen
Gefrässigkeit gefürchtet.^)
Über den Konsum von alkoholischen Getränken in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bemerkt im all¬
gemeinen Archenholtz^): „ Die gemeinen Leute trinken
im Winter warm Bier mit bittern Essenzen, desgleichen
Bier mit Branntwein, Eier und Zucker durchgekocht.
Kum oder Branntwein mit kaltem Wasser ohne Citronen
oder Zucker wird auf allen Kaffeehäusern getrunken, des¬
gleichen Punsch in erstaunlichem Maasse. Dieser Hang
zu starken Getränken verursacht, dass die Engländer am
Portowein so viel Geschmack finden, der auch überdem
der wohlfeilste ist. — Auf die französischen Weine ist
die Auflage ausserordentlich, so dass in den Tavernen die
Bouteille Burgunder oder Champagner einen Dukaten
kostet. Dennoch werden sie in überaus grosser Quantität
1) Vergleiche ebendaselbst Bd. 1, London 1787. S. 34 — 35.
2) Kaum war servirt, so stürzte er sich auf die Speisen
„wie ein Seerabe, die Augen auf seinen Teller geheftet, ohne
ein Wort zu sagen, ohne ein Wort zu hören, Yon dem was
Andere sprachen,“ mit einer solchen Gefrässigkeit, dass die
Adern seiner Stirn anschwollen und man den Schweiss herab-
fliessen sah. Wenn zufällig der Hase etwas angegangen oder
die Pastete mit ranziger Butter zubereitet war, da ass er nicht
mehr, da verschlang er.“ Taine a. a. 0. Bd. II S. 410.
3} Archenholtz „England“ Bd. HI S. 15 — 16.
272
getrunken. Obgleich man den Cyder liebt, so dient er
doch mehr zum Getränk in den Provinzen als in der
Hauptstadt, wo man allem, was stark und berauschend
ist, den Vorzug giebt. — Die starken Biere und Oie
sind daher eigentlich das grosse Labsal der Engländer.
Auch sind bloss in der Stadt London, ohne die daran
stossenden Dörfer zu rechnen, 8000 Bierhäuser 0- Hier
trifft man alle Stände vermischt an. Von den grossen
Männern, Swift und Sterne, ist es bekannt, dass sie
in solchen Häusern die Menschen studierten.“
Seit 1775 hatte der Branntweingen uss in einem
schreckenerregenden Maasse zugenommen ‘^). „Dealer in
Foreign Spirituous Liquors“ oder „Hier sind fremde
Liqueure zu verkaufen“ fand Moriz als häufigste Thür¬
inschriften in London. Er berichtet, dass beim letzten
Aufruhre mehr Menschen bei den ausgeleerten Branntwein¬
fässern auf den Strassen tot aufgefunden worden, als
durch die Kugeln der Soldaten umgekommen seien. Im
Kirchspiel St. Giles befand sich ein berüchtigtes Brannt¬
weinhaus mit der Inschrift: „Here you may get drunk
for a penny, dead drunk tor two pence and get straw
for nothing“ d. h. : Hier könnt Ihr für 1 Penny betrunken
werden, zum Tode trunken für 2 Pence, und Stroh
umsonst bekommen. In der That waren die Keller
reichlich mit Strohlagern versehen, auf denen Tag und
Nacht zahlreiche Kunden ihren Kausch ausschliefen, bis
1) An jeder Strassenecke befand sich gewöhnlich ein
Bierhaus. Vergl. B ö ttiger „London und Paris“ Weimar 1799.
Bd. IV S. 14-18.
2) „London und Paris“ Bd. III S. 16ff.
3) C. Ph. Moriz „Reisen eines Deutschen in England im
Jahre 1782.“ Berlin 1783. S. 21.
273
endlich der Friedenricliter diesen skandalösen Zuständen
ein Ende machte.^) Auf dem grossen Ballfeste, das der
holländische Bankier Hope in seinem Hause am Caven-
dish Square im Jahre 1799 gab, sollen sich ein paar
Hundert Menschen betrunken haben.
Es gab sogar spezielle Tri nkergesellsc haften,
die sich regelmässig zum Genüsse eines bestimmten
Spirituosen Getränkes versammelten. Eine solche war
z. B. am Ende des 18. Jahrhunderts die der „Eccentrics“,
welche sich bei einem gewissen Fulham in Chandos
Street, St. Martin’s Laue versammelten, um sich am „Bril¬
liant“, einer bestimmten Sorte von Ale, gütlich zu thun.^)
Sehr beliebte Orte für gastronomische und alkoholi-
stische Ausschweifungen waren die Bordelle und die von
Prostituirten frequentirten Bagnios und Tavernen.
Hier tritt der nahe Zusammenhang zwischen den Exzessen
auf jenem Gebiete und dem Geschlechtstriebe sehr deutlich
hervor. Diese verschiedenen Tempel der Venus besassen
meistens auch die Conzession zur Verabreichung von
Speisen und Getränken. Hier wurden dann vor den
Orgien in Venere solche in Baccho gefeiert. Arclien-
holtz^) berichtet: „In diesen Tavernen soupirt man
nach Gefallen in Zimmern, wo sich grosse oder kleine
Gesellschaft befindet, mit oder ohne Frauenzimmer. Diese
muss man jedoch selbst mitbringen, auch sind keine
Nachtherbergen hier üblich, da diese nur zu den Bagnio-
Gebräuchen gehören. Der Aufwand in allen diesen
Häusern ist so gross, dass er das Bonmot des berühmten
9 Archenholtz „England.“ Bd. I S. 173.
„London und Paris.“ Bd. IV S. 103.
9 John Bee a. a. 0. S. 15 — 17 und S. 73.
9 Archenholtz „England.“ Bd. H S. 262 — 263.
18
274
Beaumarchais gewissermassen rechtfertigt, der, so
bekannt er auch mit den Schwelgereien von Paris war,
dennoch über die Londoner Wollüste erstaunte, und
behauptete, dass in einem Winterabende in den Bagnios
und Tavernen in London mehr verzehrt würde als die
sieben vereinigten Provinzen in sechs Monaten zu ihrem
Unterhalt gebrauchten“. Ein Engländer, der 40000
Pfund von seinem Vater geerbt hatte, eilte nach London
und schlug seinen Wohnsitz geradezu in einem Bagnio
auf, wo er in einer Gesellschaft von zahlreichen Zechern
und Mädchen in elf Tagen 1300 Pfund verjubelte, wobei
der Wein nicht bloss getrunken wurde, sondern sogar
Fussbäder von Champagner genommen wurden und Musik,
Liebe und Wein ein herrliches Trio bildeten.^)
Eine eigentümliche Kolle spielte im 18. Jahrhundert
noch der — • Nachttopf bei Tische. E o r s t e r erzählt :
„Die Verschiedenheit des Essens am östlichen und west¬
lichen Ende der Stadt ist bemerkenswert. Der ganz
Fremde würde indess wenig Unterschied finden; denn
überall geht es gleich steif und unbeholfen zu. Man sitzt
vor Tische unbeweglich im Stuhl, spricht wenig, schlägt
die Arme über einander und hat Langeweile, bis zur Tafel
gerufen wird. Dann ziehen die Weiber wie die Kraniche
ins Speisezimmer; niemand führt sie. Man fordert zu
trinken, wie in einem Wirtshause, oder macht Partie mit
jemand, um ein Glas zu trinken; und nach Tische werden
Gesundheiten getrunken. Auch erscheint, sobald die
Damen sich entfernt haben, überall der Nachttopf.“
Im 19. Jahrhundert haben sich diese Verhältnisse
wenig geändert, im Gegenteil in Beziehung auf den
0 ibidem S. 264.
-) Förster a. a. 0. S. 227—228.
275
Genuss alkoholischer Getränke sich sehr zum Schlechtem
verändert. Auch der Fleischkonsum scheint eher noch
gestiegen zu sein. Die nationalökonomischen Enqueten
darüber müssen uns wahrhaft in Erstaunen setzen. Porter
berechnete den Verbrauch einer wohlhabenden Familie,
die Kinder und Dienstboten eingerechnet, zu jährlich
370 Pfund pro Kopf! Während der .jährliche Fleisch¬
konsum von 1868 bis 1871 pro Kopf 102,1 Pfund betrug,
ist derselbe in den Jahren 1872 — 1883 auf 110,7 Pfund
gestiegen. In verschiedenen Waisenhäusern Londons be¬
trägt die tägliche Portion jedes Kindes im Durchschnitte
0,23 bis 0,438 Pfund. In Frankreich bekommt der Soldat
im Felde täglich 350 Gramm Fleisch, in England dagegen
beinahe das Doppelte, nämlich 679 Gramm. i) Wer sich
einen Begriff machen will von dem ungeheuren Fleisch-
und Fischkonsum des heutigen London, der lese das sehr
instruktive 19. Kapitel „Gastronomie London“ in Mr.
A. H. Beavan’s grossem Werke „Imperial London“,
wo die betreffenden Verhältnisse für 1900 und 1901 aus¬
einander gesetzt werden.^)
Nicht nur die specifische Krankheit der Engländer,
die Gicht (gout) dürfte mit diesem übermässigen Fleisch-
genusse in Zusammenhang stehen, sondern letzterer übt
ganz gewiss auch auf die Vita sexualis einen Einfluss
in stimulirendem Sinne aus.
Die Trunksucht ist noch immer ein weit verbreitetes
Laster, besonders der niederen Volksklassen. „Unser Vetter
John ist ein enormer Trinker,“ sagt Kodenberg
„Grosser Gott, was kann er vertragen, eh’ er in die Gosse
W. Roscher a. a. 0. S. 626.
2) Arthur H. Beavan „Imperial London.“ London
1901 S. 275—285.
18*
27G
sinkt. Aber in die Gosse sinkt er zuletzt, und er macht
auch gar kein Hehl daraus; und vorzüglich auf einem
Sonntags Nachmittag, zwischen dem ersten und dem
zweiten Gottesdienst, wenn sich die Thüre des Ale-Hauses
in demselben Moment öffnet, wo diejenige der Kirche sich
schliesst, kann man die rührendsten Beispiele dieser Art
erleben.“^) Porter, Ale und die verschiedenen Arten
von Branntwein (Gin, Whisky, Brandy etc.) sind die ver¬
breitetsten geistigen Getränke in den unteren Klassen,
die in zahllosen höchst einträglichen Kneipen dargeboten
werden. Adele Schreiber bemerkt in ihrer anziehenden
Skizze über Ost-London: „Man kann vom Elend Londons
nicht sprechen, ohne der Trunksucht zu gedenken und
der verhängnisvollen Rolle der Schnapsschänke einen breiten
Raum zu gönnen. Vom armseligen Verdienst der Massen
verschlingt das Publichouse einen un verhältnismässig grossen
Teil und der Alkoholmissbrauch, in seiner komplicirten
Wechselwirkung sowohl als Folge wie als Ursache des
Elends, bildet’ vielleicht das unüberwindliche Hindernis
aller Eortschrittsbewegungen. Selbst in den jammervollsten
Bezirken der Gressstadt ist die Kneipe eine wahre Gold¬
grube, eine Schanklicenz bedeutet ein Vermögen. Das
Zehn- und Zwanzigfache des Bauwertes wird für ein arm¬
seliges Häuschen bezahlt, wenn eine Licenz damit ver¬
bunden ist, Preise von 30 bis 50 Tausend Lstr. für eine
Schankstube sind nichts Aussergewöhnliches. Vor kurzem
wurde die Kneipe „Royal Oak“ in Barking Road, Canning-
towu, einem der elendesren Stadtteile Londons, für 112000
Lstr. verkauft! In manchen Gegenden wird eine Schenke
von je 25 Familien erhalten. London verdient den
0 J. Rodenberg. „Tag und Nacht in London“ S. 105.
277
traurigen Ralitn auch auf dem Gebiete des Alkoholismus
die grösste Gleichberechtigung der Frauen aufzuweisen,
sie sind mit nicht weniger als 38 v. H. an den durch
Trunksucht verursachten Ausschreitungen beteiligt. In
keiner anderen europäischen Hauptstadt sieht man so viel
betrunkene Frauen, zerfetzt und zerschlissen, abgestumpft
und vertiert, und wenn schon in Familien, wo der Mann
trinkt, kein Gedeihen möglich, so werden die Haushal¬
tungen, wo die Frau dem Dämon Alkohol verfallen ist
zu Ruinen.“ 1)
In der That ist die auffälligste Erscheinung im
modernen englischen Alkoholismus die ausserordentlich
grosse Betheiligung des weiblichen Geschlechtes
an demselben, welche jedem, der sich auch nur wenige
Tage in London aufhält, sogleich sinnfällig in wüsten
Strassenscenen vor die Augen tritt. „Meine Wirtin,“
erzählt bereits Schütz, „gab einmal des Abends ihren
Freundinnen ein kleines Fest. Ich wurde auch dazu
eingeladen. Die erste Frage, wie ich in das Zimmer trat,
war: ob ich Punsch oder lieber Rum trinken wolle. Ich
wählte das Erstere, und wunderte mich nicht wenig zu
sehen, wie einige dieser Frauenzimmer mit dem letztem
Getränke so bekannt waren, dass sie sich zuweilen ein
volles Glas Rum recht tapfer zutranken. “ Casanova
berichtet, wie Miss Kennedy sich „ihm zu Ehren be¬
rauschte“.^) Ebenso charakteristisch für „le vice Capital
Adele Schreiber. „ Aus Ost-London“ in : Vossische
Zeitung J\r. 513 vom 1. November 1901; vergleiche auch
Jjeopold Kätscher „Aus England“ Leipzig (Reclam) Heft
H S. 7K
Schütz a. a. 0. S. 235—236.
3) Casanova’s Memoiren Theil XV S. 194.
278
de la femme du peuple, l’ivrognerie,“ ist ein Zug, den
Venedey^) hervorhebt: „In Frankreich fordern die
öffentlichen Mädchen, ehe sie ihre Besucher entlassen:
quelque chose pour les gants ; in England : Give me some
pence for — a glass of beer!“ In der That sind be¬
trunkene Prostituirte ein sehr gewöhnlicher Anblick in
den Strassen Londons. Aber leider beschränkt sich die
Trunksucht durchaus nicht auf diese Klasse weiblicher
Wesen, sondern ist auch unter den übrigen Frauen der
niederen Volksklassen, ja sogar unter solchen der höheren
Stände verbreitet. Am „Bank Holiday“ oder auch an
einem gewöhnlichen Samstag- oder Sonntagabend kann
der Fremde überall, besonders aber in den nördlichen und
östlichen Teilen Londons die widerlichsten Scenen be¬
obachten. Als ich an einem Sonntagabend im August
1901 mit einem Berliner Ingenieur von King’s Cross am
St. Pancras-Bahnhofe nach der Oxford-Street ging, be¬
gegnete uns in Euston Koad ein betrunkenes Mädchen
von kaum 15 Jahren, in Tottenham Court Eoad eine
ganze betrunkene Familie. Zwei Mütter, die beide ein
Kind im Arm hielten, taumelten über die Strasse, laut
singend und hin- und herschwankend, hinter ihnen der
Gatte und die Mutter (oder Schwiegermutter) im gleichen
Zustande. Um die Ecke biegend sahen wir in New Oxford
Street ein gänzlich verkommenes altes Weib mit einer
abschreckend hässlichen Trinkerphysiognomie stumpfsinnig
in ein Ladenfenster stieren. Hinten guckte die Schnaps¬
flasche aus der Tasche ! Bald darauf kam uns eine ganze
Schaar von jungen, stark angeheiterten Mädchen, Arm in
Hector Fran ce. „En Police Court.“ Paris o. J. S. 74.
2) J. Venedey „England“ Leipzig 1845 Bd. II S. 357.
279
Arm, singend und tanzend entgegen. Hätte ich dieses
alles nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde es nach
der Schilderung kaum glauben können. Ja, eines Morgens
sah ich sogar aus dem Fenster meines deutschen Hotels in der
Greek Street, Soho, wie ein solches betrunkenes Weib am
hellen Tage coram publico und mitten auf der Strasse
in der ungenirtesten Weise seine Bedürfnisse verrichtete !
Im Hastend fallen tagtäglich solche Scenen vor. Auch
belehrt schon ein flüchtiger Blick in die zahllosen Ale-
und Branntweinkneipen, welche stets eine grosse Zahl von
weiblichen Gästen beherbergen, über die grosse Verbreitung
der Trunksucht unter dem weiblichen Geschlechte. Laut
Polizeibericht wurden im Jahre 1899 nicht weniger als
1300 sinnlos betrunkene Mädchen unter 20 Jahren
auf der Strasse gefunden, deren Zahl 1900 auf über 4000
gestiegen war! •)
Der zweifelhafte Typus der „Kellnerin“ oder der
„weiblichen Bedienung“- ist im allgemeinen in London
unbekannt. Es giebt in London eine Anzahl Cafes und
Conditoreien, in denen nur Damen aus den besten Fa¬
milien bedienen. So befindet sich in Bondstreet ein Cafe, das
nur Töchter von Officieren als Kellnerinnen annimmt.
Hier werden vornehme Damen von gleich eleganten,
hübschen jungen Mädchen bedient. Ferner sind zahlreiche
junge Mädchen in den billigen Konditoreien und Läden
der „Aerated Bread Company“, von „Lyons“ u. A. be¬
schäftigt. Aber auch in den Bars findet man meist
Damenbedienung, die nicht immer in moralischer Beziehung
so intakt ist wie die eben erwähnte.
Gegen die Trunksucht kämpfen seit beinahe 80 Jahren
die sogenannten ,,Temperance Societies“, die in England
9 Balneologische Ceutralzeitung 1901 No. 24.
280
1829 von Edgar in Belfast, G. W. Carr in New Ross
und John Dunlop in Glasgow begründet wurden.
Besonders berühmt war seit 1838 Theobald M a t li e w ,
Präsident der „Total Abstinence Society“ in Cork wegen
seines „wunderbaren Einflusses auf Trunkenbolde“ i) In
neuerer Zeit hat die Temperenzler-Bewegung, die von
zahlreichen Gesellschaften der Heilsarmee, der ,,Blue Ribbon
Army“, der ,, grossen anglikanischen Massigkeits-Gesell¬
schaft“ u. a. m. geleitet wird, bedeutende Erfolge auf¬
zuweisen; es giebt zahlreiche Temperenzhotels in London,
in denen jeder Alkoholgenuss verpönt ist. Es giebt sogar
seit 1873 ein „Temperance Hospital“ am Hampstead Road.^)
Vielleicht hat die starke Entwickelung der Mässig-
keitsbestrebungen mit dazu beigetragen, dass das moderne
Restaura nt- Wesen des Festlandes in London nicht
hat Boden gewinnen können, so dass z. B. im galanten
London der Typus des ,, Chambre separe“ so gut wie
unbekannt geworden ist. Auch die in den lünfziger und
sechziger Jahren so berühmten grossen Demimonde-
Restaurants wie der Trocadero in Windmill Street, das
Holborn Restaurant in Holborn u. a. haben sich jetzt in
sehr solide, vornehme Restaurants verwandelt.
Das allgemeine Streben der Menschen, ihre natürlichen
Fähigkeiten zu steigern, ist vermutlich in Hinsicht auf
die Funktion des Geschlechtstriebes eine der Ursachen
der Anwendung der Aphrodisiaca im engeren Sinne
9 Traill a. a. 0. Bd. VL S. G3G.
V^ergl, über dasselbe „Burdett’s Hospitals and Charities
1901“ London 1901 S. 277 und S. 992.
3) Vergl. über das Restaurantleben in London G. F. S t e ff e n
„Aus dem modernen Eügland.“ Stuttgart 189G. S. 423—433.
281
des Wortes gewesen, wobei besonders in Fällen der Ab¬
nahme und Verminderung der Potentia coeundi et gene-
randi dieser Wunsch sich regte. Über diese Verhältnisse
hat Venette ein sehr interessantes Kapitel in seinem
berühmten Werke über die Zeugung geschrieben, welches
sehr vernünftige und skeptische Anschauungen über die
Natur und die trügerische Wirksamkeit mancher Aphro-
disiaca enthält, ü
Auch er unterscheidet die aphrodisischen Nahrungs¬
mittel von den aphrodisischen Arzneimitteln. Als erstere
nennt er „das gelbe im ey, die saamen-eyer eines hahnes,
die jungen böcklein, krebse, rindmark, süsser starker wein,
milch und andere dinge, welche viel nahrung geben.““)
Von den Nahrungsmitteln, die in England als den
Geschlechtstrieb stimulirende betrachtet werden, erwähnt
Ryan u. a. Fische, Schildkröten, Austern, Krebse, Hummer,
ferner Eier, Artischocken, Trüffeln, Pilze, Sellerie, Kakao,
Zwiebeln, Ingwer, Pfeffer, Aprikosen, Erdbeeren und
Phrsiche.
So soll der König Georg IV. diese „Koryphäe aller
Wollüstlinge“, die aphrodisische Eigenschaft der Trüffeln
so hoch gescliätzt haben, dass seine Gesandten an den
Höfen von Turin, Neapel, Florenz u. s. w. den speziellen
Auftrag erhielten, der königlichen Küche durch einen
eigenen Courier besonders grosse, delikate und wohl¬
schmeckende Trüffeln zu liefern.^^)
„Nicolai Venette Abhandlung von Erzeugung der
Menschen.“ Königsberg und Leipzig 1738 S. 187 — 200.
ibidem S. 188.
M. Ryan „Prostitution in London“ London 1839 S. 384.
•*) John Davenp ort„Aphrodisiacs and Anti-aphrodisiacs“
Ijondon 1869 S. 88.
282
Der Ingwer wird in England nicht nur innerlich als
Aphrodisiacum angewendet, sondern nian glaubt auch,
dass die äussere Applikation desselben die Libido sexualis
hervorrufe und steigere. In einer erotischen Schrift „The
Amatory Experiences of a Sargeon“ (London 1881}
verführt der Held zwei Frauen, indem er sie mit seinen
mit Ingwer eingeriebenen Händen berührt.
Die medikamentösen Liebesmittel wurden besonders
im Mittelalter in Form der Liebest ränke und Liebes-
pulver angewendet. Im 15. Jahrhundert wurde z. B.
auf Drängen Kichards HL Lady Elizabeth Grey
vom Parlamente beschuldigt, den König Eduard IV.
durch Liebestränke zur Ehe verlockt zu haben. In
späteren Zeiten wurden von den medikamentösen Stimu-
lantien fast nur die Canth ariden benutzt, die besonders
im 18. Jahrhundert den Hauptbestandteil aller Aphrodisiaca
bildeten“). Venette^) sagt über dieses zweischneidige
und gefährliche Mittel: „Die spanischen fliegen (can-
tharides) haben so grosse macht über die natürlichen
glieder, beyderley geschlechtes : Denn wenn man nur
2 oder 3 gran darvon einnimmt, so empfindet man solche
hitze und brennen, dass man darauf gantz krank wird,,
wie solches mit einem meiner freunde im verwichenen
Jahre geschehen, welcher noch lebet; sein mitbuhler, weil
er zur verzweifelung gebracht, das er seine liebste gehey-
rathet, resolviret sich, solche cantharides ihm in einer
birn-tarte beyzubringen, welche er ihm auch am Abend
1) ibidem S. 72—73.
2) Vergl. über die Geschichte und Pharmakologie der
Canthariden mein Werk über den „Marquis de Sade und seine
Zeit.“ 3. Auflage S. 216 — 217.
3) Venette a. a. 0. 195.
283
seiner hoclizeit überbringen lasset. Als die nacht herbey
nahet hat, dieser ehemann seiner braut dermassen bey-
gewohnt, dass es ihr endlich selbst beschwerlich gefallen.
Dieses vergnügen aber hat sich bald in eine traurigkeit
verkehret, nachdem dieser mann um mitternacht sich
dermassen entzündet befunden, dass er kaum mit grossen
schmerzen den urin lassen können, und darbey wahr¬
genommen, dass ihm blut aus der röhre gegangen. Die
furcht hat dieses übel noch mehr vergrössert und mit
etlichen Ohnmächten begleitet. Man musste hernach mit
allem möglichen fleiss auf ihn acht haben, bis er endlich
mit sehr grosser mühe geh eilet worden.“
Dieser sehr gut geschilderte Fall illustrirt sehr
deutlich die fast typische Begleiterscheinung des Cantha-
ridengenusses, die heftige Entzündung der Harnwege.
Ausserdem versagt das Mittel in vielen Fällen, wie denn
z. B. in den „Serails de Londres“ ein Lord noch die
Geisselung mit der Birkenrute zu Hülfe nehmen muss,
um die durch die Canthariden nicht genügend erweckte
Potenz herbeizuführen.
In einem anderen Eroticum „Randiana, or Excitable
Tales“ (New York 1884) werden dem Pinero -Balsam
wunderbare Kräfte in Beziehung auf die Steigerung der
Sexualität zugeschrieben.
Gegenwärtig werden hauptsächlich von den französi¬
schen Drogisten in der Nähe von Oxford Street und Soho
Square solche medicamentösen Aphrodisiaca verkauft, die
im allgemeinen aber in England ebenso wenig Anklang
gefunden haben als in den übrigen nordischen Ländern,
vor allem auch deshalb nicht, weil der eines Stimulans
bedürftige Engländer die Flagellation allen Arzneimitteln
vorzieht.
1) Serails de Londres S. 175.
In meinem „Marquis de Sade“ (3. Auflage S. 223),
Labe ich als letzte Gruppe der Apbrodisiaca, gewisse
Apparate erwdihnt, deren sich die Weiber zur Erregung
ihrer Libido sexualis bedienen, die man gewissermassen
als Surrogate des Mannes bezeichnen kann. Das sind die
künstlichen Nachbildungen der männlichen
Genitalien in Form der Phalli, Godemiches, „Consola-
teurs“, „bijoux indiscrets“, ,,bijoux de religieuse“,
„Cazzi“, „Parapilla“ u. s. w. Auch in England wurden
und werden dieselben benutzt unter dem Namen „üildoe“
oder „indiscreet toy“.
Den a. a. 0. mitgeteilten geschichtlichen Thatsachen
über den Godmiche oder Dildoe seien an dieser Stelle einige
Ergänzungen hinzugefügt. Nach den Mitteilungen eines
englischen Autors^) haben die Dildoes ein sehr hohes
Alter. Abbildungen derselben in den Händen von Frauen
fanden sich auf altbabylonischen Sculpturen. Denn „far
away in those mystic times, among those primae val
civilisations, one thing was then as it is to-day, one
thing was destined to continue unaltered, the same,
the passions, the loves und the lusts of women.“ Jeden¬
falls sind auch im alten Indien nach den Angaben der
Erotiker derartige Dinge von den Frauen gebraucht worden.
Dass die alten Griechen den Godmiche (d2m/^o-’, ßavßcov)
gekannt haben, wussten wir schon aus den Dramen des
Aristophanes und anderer Komödiendichter. Neuer¬
dings haben wir in den 1891 aufgefundenen Mimiamben
des Dichters Herondas eine lebensvolle Schilderung
dieser Unsitte erhalten. Der sechste Mimiambus bringt
das Gespräch zweier Freundinnen, der Koritto und der
Metro, in welchem die Benutzung eines solchen Leder-
9 „Love and Safety“ London 189G S. 5G.
285
pliallus erwähnt wird. Diese für die sittengeschiclit liehe
Kenntnis jener Zeit äusserst wichtige Stelle lautet i):
Metro
Ich bitte dich
Lüg nicht, Korittchen: Wer in aller Welt
War es denn nur, der dir den scharlachroten
Baubon gemacht hat?
K 0 r i 1 1 0
Wo hast Du denn den gesehen, Metro?
M e t r 0
Nossis hatte ihn neulich,
Eiinna’s Tochter — ah, ein Prachtgeschenk!
K 0 r i 1 1 0
Nossis? Woher denn?
Metro
Wirst du mich verklatschen.
Wenn ich es sage?
K 0 r i 1 1 0
Bei diesen süssen Augen,
Was du mir mitteilst, liebe Metro, wird
Aus Koritto’s Mund kein Mensch erfahren.
Metro
Eubule, des Bitas Tochter hat ihn ihr gegeben.
Und schärft ihr ein, es dürfe Niemand merken.
K 0 r i 1 1 0
0 diese Weiber! Dies Weib bringt mich noch um!
Ich Hess mich durch ihr Bitten und Fleh’n erweichen,
Und gab ihn ihr, eh’ ich ihn selber brauchte ;
Doch sie, als ob sie auf der Gasse ihn
Gefunden hätte, verschenkt ihn, auch an solche.
Die nicht dazu gehören. ...
„Die Mimiamben des Ilerondas“ Deutsch von Otto.
Crusius, Göttingen 1893 S. 38—42.
286
Nach mehreren Ausfällen über die leichtfertige
Freundin, kommt das Gespräch auf den Verfertiger jenes
Wollustinstrumeiites. Es ist der Schuster Kerdon,
dessen Treiben und Werke Koritto folgendermassen
beschreibt:
Koritto
Doch in seiner Wohnung
Arbeitet er und treibt den Handel heimlich,
Denn vor den Zöllnern ist ja keine Thür
Dermalen sicher. Aber Werke sind es,
Wie von Athene ! Eigenhänd’ge Arbeit
Von ihr glaubt man zu sehen, und nicht von Kerdon.
Ich wenigstens — mit zweien kam er nämlich —
Wie ich sie erblickte, gingen mir vor Entzücken
Die Augen über. Unsern Männern hebt sich
— Wir sind ja unter uns — das Glied nicht so.
Und mehr noch — weich, wie holder Schlaf, ist Alles,
Und Wolle sind die Riemchen, keine Riemen;
Einen Schuster, der es mit uns Frauen besser
Als dieser meinte, kannst du lange suchen.
Aus dieser sehr realistischen Schilderung, die an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, ergiebt sich,
dass im 3. Jahrhundert v. Chr. der Gebrauch von aus
Ledei verfertigten Godmiches offenbar eine unter den
Weibern des Bürgerstandes weit verbreitete Sitte war.
Die etwas dürftige Beschreibung eines solchen „Baubon“
lässt doch darauf schliessen, dass diese Apparate in sehr
künstlicher Weise Bau und Funktion der äusseren männ¬
lichen Geschlechtsteile nachzuahmen suchten, sowohl in
Beziehung auf das äussere Ansehen (Farbe) wie auf den
Zustand • der Erection, der durch gewisse mechanische
Vorrichtungen hervorgebracht wurde. Natürlich war
287
infolgedessen der Preis eines solchen Consolateurs sehr
hoch, so dass, wie es hier ausdrücklich hervorgehoben
wird, mehrere Frauen denselben gemeinschaftlich benutzten.
Der Fabrikant dieser Apparate trieb mit denselben einen
einträglichen Handel, der aber schon damals heimlich
bleiben musste, weil der Staat ein wachsames Auge auf
diese „polizeiwidrige Waare“, wie Crusius sagt, hatte.
Fast genau wie die Worte der Koritto über die
künstliche Aufrichtung der Lederphalli lautet der Bericht
des Herodot über ähnliche Apparate der alten Aegypter,
die solche also bereits im 5. Jahrhundert vor Christus
besassen. Er sagt; ,, Statt der Schamglieder haben sie
sich andere Bilder erdacht, ungefähr eine Elle lang, die
werden durch eine Schnur gezogen, und Weiber tragen
es in den Dörfern umher und das Schamglied hebt sich
immer und ist nicht viel kleiner als der ganze übrige
Leib. Voraus geht ein Pfeifer und hinter ihm kommen
die Weiber und besingen den Dionysos. Warum er aber
ein grösseies Glied hat und dasselbe am ganzen Leibe
allein bewegt, darüber erzählt man sich eine heilige Sage.“ i)
Weiter theilt Herodot mit, dass Melampus des
„Dionysos Namen und das Opfer und des Gliedes Umgang“
bei den Griechen eingeführt habe. Hieraus entwickelte
sich allmählich auch die profane Benutzung des künstlichen
Phallus zu aphrodisischen Zwecken, wie z. B. bei den
Körnern zu dem der Entjungferung.
Uralt ist auch der Gebrauch der Godmiches in
Ostasien. Die Spanier trafen solche bei den Weibern
der Philippinen an. Von der Insel Bali im malayischen
1) „Die Geschichten des Herodotos“ übersetzt von
Friedrich Lange, Leipzig (Reclam) Teil I S. 157.
288
Archipel berichtet Jacobs: „ln dem Boudoir von mancher
Balischen Schönen, und sicher in jedem Harem kann man
ein aus Wachs verfertigtes plaisir des dames finden, das
den bescheidenen Namen „ganem“ oder „tejlak-tejlakan
malern“ trägt (tejlak=::penis, malem=Wachs), und manches-
Stündchen wird in stiller Abgeschiedenheit mit diesem
consolateur zugebracht. Der „ganem“ heisst auch wohl
,,koempentji“. Ebenso werden in Japan und China
künstliche Phalli benutzt, die aber in Japan durch die
berüchtigten „japanischen Kugeln“ in den Hintergrund
gedrängt werden, welcher raffinirt wollüstige Apparat in
dem Werke von Floss’ und Bartels ausführlich be¬
schrieben wird.
In ähnlicher Weise bedienen sich die Türkinnen
gewisser in der Hand aufschwellender elastischer Früchte,,
die man in Smyrna öffentlich für die Serails verkauft.
Als unvollkommene Godmiches sind auch die von den
Indianerinnen benutzten Kinge von Federharz anzusehen,
deren europäische Nachahmungen als „bagues de la Chine“
bezeichnet werden.^)
Die westeuropäischen Länder haben die Godmiches
von den Alten kennen gelernt. Die Aerzte des Mittelalters
gedenken bereits dieser Apparate. In dem vom Bischof
Burchard von Worms im 12. Jahrhundert verfassten
Verzeichnisse der Kirchenstrafen heisst es: „Fecisti quod
quaedam umlieres facere solent, ut faceres quoddam
molimen aut machinamentum in modumvirilis
membri, ad mensuram tuae voluntatis, et illud loca
L ir. Floss und M. Bartels. „Das Weib in der Natur-
und Völkerkunde“. Leipzig 1899, 6. Auflage Bd. I S. 452.
C. J. Web er „Demokritos“ Stuttgart 1868 Bd. V S. 288^
ibidem S. 228.
289
verendorum taorum, aut alterius, cum aliquibus ligaturis
colligare, et fornicationem faceres cum aliis mulierculis,
vel aliae eodem instrumento sive alio tecum?‘‘^) Aus
dieser Beschreibung erhellt, in welcher raffinirten Weise
schon damals die Godmiches zu den verschiedensten
Zwecken (Masturbation, Coitus) benutzt wurden.
In der Renaissance wurden hauptsächlich von Italien
aus solche Apparate der Wollust vertrieben und nament¬
lich in Frankreich eingeführt. „C’etait PItalie des Borgia
et des Medici,“ sagt Dufour, „qui avait enseigne ä la
France, toutes ces pratiques, tous ces instruments, tous
ces stimulants de Prostitution; c’etait la cour, qui avait
toujours la main dans ces jeux obscenes; c’etait eile qui,
ardente ä s’emparer de ces innovations impures, lesaccreditait
et les popularisait dans la nation, oü il ne resta bientöt
plus rien de la vieille candeur gauloise.“^) Katharina
von Medici fand einmal nicht weniger als vier solche
Bienfaiteurs in dem Koffer einer ihrer Hofdamen.^) Im
17. Jahrhundert wurden in Frankreich Godmiches aus
Sammt oder Glas benutzt.^) Damals wurde an denselben
eine raffinierte Neuerung angebracht, welche besonders
im 18. Jahrhundert sich grosser Beliebtheit erfreute.
Das war die Hinzufügung eines Sero tum artificial e, das
mit heisser Milch gefüllt wurde, und dessen Compression
so den Akt der Ejaculation vertauschen sollte. Schilder¬
ungen solcher Consolateurs kommen in zahlreichen Eroticis
des 18. Jahrhunderts vor. Auch in Deutschland waren
Floss und Bartels a. a. 0. S. 453.
2) P. Dufour „Histoire de la Prostitution“ Brüssel 1861
Bd. V S. 251.
ö) ibidem.
‘^) „L’Ecole.des filles“ Cologne o. J. S. 126.
19
290
diese Werkzeuge der Wollust nicht unbekannt. So wurde
anno 1701 Maria Cillie Jürgens in Hamburg an¬
geklagt, dass sie „durch Gebraucbung eines dazu ver¬
fertigten Instruments unnatürlich und sodomitisch“ mit
Anna Elisabeth Buncken geschlechtlioh verkehrt
hahe.^)
In England scheinen die „Dildoes“ wie sie hier
genannt werden, ebenfalls seit dem 18. Jahrhundert in
grösseren Mengen vertrieben worden zu sein. JohnBee
bemerkt, dass der Name ursprünglich „Dil-dol“ gelautet
habe, und dass diese Instrumente früher mehr im Gebrauche
gewesen seien als zu seiner Zeit (1835.)^) Nähere Mit¬
teilungen über den Handel mit Dildoes im 18. Jahrhundert
macht Arche nholtz. Er erzählt; „Eine Frau, Namens
Mrs. Philipps, bedient sich auch dieses Mittels, um
ihr Waarenlager bekannt zu machen, das, als Magazin
betrachtet, das einzige seiner Art in der Welt ist. Es
besteht in Waaren, die man nirgends öffentlich verkauft,
ja die nur überhaupt in wenig grossen Städten einzeln,
und in allen andern gar nicht gefunden werden ; welche
das wollüstige Italien nicht einmal recht kennt, und die
eigentlich nur in den beiden ausschweifungsvollen Städten
London und Paris verfertigt und gebraucht werden. In
der letzten Stadt werden sie heimlich in den Galanterie¬
läden verkauft, allein in London hält oben¬
gedachte Frau unweit Leicester-Square
davon ein eigenes Waarenlager.“^)
1) C . Trümmer „Vorträge über Tortur, Hexen Ver¬
folgungen u. s. w.“ Hamburg 1844 Bd. I, Heft 1 S. 81—82.
2) B e e a. a. 0. S. 205.
3) Ar ch enholtz „England“ Bd. HI S. 125.
291
Ryani) erwähnt den Gebrauch von Godmiches in
Londoner Bordellen um 1840. Nach den Angaben eines
neueren Autors werden die Dildoes gegenwärtig haupt¬
sächlich von den Händlern mit erotischen Schriften ver¬
kauft. Sie kosten gewöhnlich 2 Pfund und 10 Schillinge,
und Averden meist aus „India rubber“ hergestellt. Es
giebt davon verschiedene Arten, so eine, die von zwei
Weibern zu gleicher Zeit benutzt werden kann, eine
andere mit Vorrichtungen für mehrere Orificia corporis,
eine dritte zur Befestigung am — Kinn u. s. w.^)
Auch der Aberglaube scheint bisweilen eine RoUe
bei der Anwendung dieser Apparate oder ähnlicher Dinge
zu spielen. So wird in einer pornographischen Schrift
„Nunnery tales; or Cruising under false colours. A Tale
of Love and Lust“ (London 1866 — 1897, 3 Bände) eine
umständliche Schilderung (Bd. I S. 70) von der Art ge¬
geben, in welcher bleichsüchtige Mädchen sich durch die
Anwendung des Halses eines — Truthahns Erleichterung
verschaffen.
Ausführliche Mitteilungen über den heutigen Gebrauch
der Dildoes in England finden sich in der „Story of a
Dildoe, a Tale in five Tableaux“ (London 1880), wo drei
junge Mädchen sich durch ihre Putzmacherin ein solches
Instrument kommen lassen. Alle Einzelheiten des Kaufes,
der Präparirung des Dildoe, seines Gebrauches u. s. w.
Averden auf das genaueste darin beschrieben.
Die „Wonderful and Edifying History of the Origin
of the Godmiche or Dildo," Avelche am Ende einer erotischen
1) Ryan a. a. 0. S. 198 — 199.
2) „LoA^e und Safety“ S. 60.
3) ibidem S. 56 und S, 65.
19*
292
Schrift „The School-fellows ; or Young Ladies Guide tO'
Love“ (London ca. 1830) ahgedruckt ist, ist kein Original,,
sondern Übersetzung der „L’histoire merveilleuse et edifiante
du Godmiche“ im zweiten Teile von „L’Aretin ou la
Debauche de l’esprit“ des Abbe Dulaurens (Rom 1763-
und 1768.)!)
Die Mittel der Verschönerungs pflege
(Kosmetica) haben in England von jeher eine grosse
Beachtung gefunden. Nach W. Roscher ist der Luxus
der Reinlichkeit, der sich mit seinen geistig und
körperlich so wohlthätigen Folgen eigentlich nur bei wohl¬
habenden und hochkultivirten Völkern findet, gegenwärtig
in England aufs höchste entwickelt, wo z. B. die Seifen¬
steuer als Besteuerung eines unentbehrlichen Lebens¬
bedürfnisses betrachtet wird.^)
Der Gebrauch der warmen und kalten Bäder wurde
wahrscheinlich durch die Römer in Britannien eingeführt.
Archenholtz^) meint, dass der Kaiser Alexander
Severus, der sich, wie Lampridius berichtet, gern
der kalten Bäder bediente, dieselben in England ein¬
geführt habe, wo er sich lange aufhielt. Die Angelsachsen
nahmen dann den Gebrauch von den Briten an. Warme
Bäder werden oft in den kirchlichen Gesetzen derselben
0 Vergl. über die heutige Anwendung von Godmiche's in
Deutschland M ol 1 „Die konträre Sexualempfindung“ 3. Auflage
Berlin 1898 S. 549 — 550.
2) W. Roscher a. a. 0. S. 623; ebenso Archen hoitz.
„England“ Bd. III S. 26.
3) Archenholtz „England“ Bd. III S. 47.
293
erwähnt. In einem solchen aus der Zeit des Königs Edgar
werden warme Bäder und weiche Betten als überflüssiger
und zur Effemination führender häuslicher Luxus verboten.^)
Im Mittelalter war das englische Badewesen ausser¬
ordentlich entwickelt, wo die Bäder als „Bagnios“ und
„Hothouses“ vielfach alsoffizielleBordelle eingerichtet
wurden (Vergl. Bd. 1 S. 240 — 242).
Das moderne Badewesen entspricht im allgemeinen
dem auf dem Kontinente. Die dort angetroffenen Aus¬
wüchse desselben, wie sie z. B. in der Verbindung einer
gewissen Art von nicbtärzlicher Massage mit heissen Bädern
beobachtet werden, sind auch in England nicht unbekannt.
Was Fürst Hermann v. Pückler-Muskau^) über die
„orientalischen Bäder in Brighton berichtet, scheint mir
wesentlich hierher zu gehören. Er sagt: „Nicht weit davon
hat ein Indier orientalische Bäder angelegt, wo man, wie
in der Türkei, massirt wird, was sehr stärkend und gesund
sein soll, auch bei der vornehmen Welt, besonders den
Damen, sehr beliebt ist. Man nennt sie Mahomets Bäder.
Ich fand das Innere indess sehr europäisch eingerichtet.
Die Behandlung gleicht der in den russischen Dampf¬
bädern; nur finde ich sie weniger zweckmässig, denn man
sitzt in einer kühlen Stube auf einem erhöhten Sessel,
den eine Art Palankin von Flanell umgiebt, und nur in
diesen kleinen Baum dringt, aus dem Boden auf¬
steigend, ein heisser Kräuterdampf hinein. Die
Flanellwand hat mehrere Aermel, die nach aussen
herabhängen, und in welche der Masseur seine Arme
0 Thomas Wright „Domestic manners in England
during the middle ages“ London 1862 S. 56.
H. V. P ü ck i er- Muskau „Briefe eines Verstorbenen“
Stuttgart 1831 Bd. III S. 349—350.
294
steckt, und mit den Händen den Körper des Badenden
sanft knetet. Er fährt dann mit festem und stetem Drucke
des Daumens an den Gliedern, am Kückgrat, den Kippen
und über den Magen vielmal herab, was der Organisation
wohl zu thun scheint. Währenddem transpirirt man so
lange und so stark als man wünscht, und wird zuletzt,
bei ahgenommenem Deckel des Flanellzeltes, mit lauem
Wasser übergossen. In einem englischen Eroticum,, The Loves
of Cleopatra, or Marc Anthony and his Concubines‘‘
badet ein alter Wüstling in Wein, um die nötige Stärkung
für seine geschlechtlichen Orgien zu gewinnen, und bis¬
weilen nimmt er auch zu demselben Zwecke ein „magisclies
Bad, in welchem das warme Blut einer Jungfrau verteilt
war.‘‘
Der Gebraueh der eigentlichen Kosmetica ist
in England im allgemeinen weniger verbreitet, als in
anderen Ländern, insbesondere den romanischen. Archen-
holtz bemerkt: „Die Engländerinnen verlassen sich so
sehr auf ihre natürliche Schönheit, dass sie die künstliche
Erhöhung derselben oft ganz hintenansetzen. Nur bloss
einige Freudenmädchen legen Rot auf. Viele, selbst bei
der zierlichsten Kleidung, streuen nie Puder in ihre Haare.
Die Reinlichkeit, die hier in allen StücKen in einem sehr
hohen Grade herrscht, erhöht auch die natürlichen Reize
des schönen Geschlechts nicht wenig.“
Indessen kannten schon die keltischen Bewohner
Britanniens gewisse kosmetische Mittel, Haarwässer, Schmin¬
ken und Haarfärbemittel^) Nach Wright findet man in
Gräbern angelsächsischer Frauen ständig kleine Zangen,
*) Archenholtz „England“ Bd. HI S. 72.
2) Traiil a. a. 0. Bd. I S. 114.
295
welche offenbar zum Ausreissen überflüssiger Haare ge¬
braucht wurden. Auch bei ihnen war die Färbung der
Haare bekannt. Nach der dänischen Invasion waren es
besonders die Männer, welche ausgiebig kosmetische Mittel
verwendeten^). Erwähnenswert ist aus späterer Zeit das
Verdammungsurteil, welches Thomas Morus in seiner
„Utopia‘‘ über die Kosmetica fällte. Ebenso sagt Addison
im ,,SpectatoF‘ : „Möchte doch das schöne Geschlecht
bedenken, wie unmöglich es ihm ist, alles zu verschönern,
was bereits das Meisterstück der Natur ist. Der Kopf
hat das schönste Ansehen sowohl als den höchsten Platz
in der menschlichen Gestalt. Die Natur hat alle ihre
Kunst darauf verwandt, das Gesicht zu schmücken : sie
hat es mit einem zarten Karmin schattirt, hat eine doppelte
Keihe von Elfenbein hineingesetzt, es zum Sitz des Lächelns
und Errötens gemacht, es durch den Glanz der Augen
erleuchtet und belebt, es zu jeder Seite mit bewunderungs¬
würdigen Gehörwerkzeugen behängen, und es mit einem
wallenden Schatten von Haaren umgeben, welcher alle
seine Schönheiten ins angenehmste Licht setzt; kurz, sie
scheint den Kopf gleichsam zu der Kuppel der herrlichsten
ihrer Werke bestimmt zu haben; und wenn wir ihn mit
solch einem Gerüst von überzähligen Zierraten überladen,
so zerstören wir die Symmetrie der menschlichen Bildung,
und erreichen durch unsere Thorheit weiter nichts, als
dass wir das Auge von grossen und wahren Schönheiten
abziehen.““)
Nichtsdestoweniger führte das Jahrhundert der Galan¬
terie und des Raffinements auch zu einer Blütezeit der
Kosmetik in England.
9 Wright a. a. 0. S. 80.
2) „Auszug des Englischen Zuschauers'‘, nach einer neuen
Uebersetzung (von Rami er), Berlin 1782 Bd. II S. 129-130.
296
Zahlreiche parfümirte Wässer und Seifen wurden aus
Spanien, Portugal, Italien, Frankreich und der Türkei
importirt. Aber auch die Windsor- und Bristolseifen
waren vielfach im Gehrauch, ferner die berüchtigten
„Washballs‘‘, die getährliche Substanzen wie Bleiweiss,
Quecksilber u. a. enthielten^). Besonders gerühmt wurde
ein dänisches Kosmetikum, ein Mixtum compositum aus
zahlreichen Schönheitswässern mit Borax, Essig, Brod,
Eiern und den — Köpfen und Flügeln von Tauben. Durch
seinen Gebrauch sollten Damen von fünfzig Jahren die
Frische von zwanzig wiedererlangen.
Neben den Schönheitswässern kamen im 18. Jahr¬
hundert für die Kosmetik des Gesichtes vor allem
Schminke^) und P u d e r in Betracht. — Archen holtz^)
berichtet: „Obgleich das Frauenzimmer in keinem Lande
in Europa die Schminke leichter entbehren kann als das
Englische, so nimmt doch das Gesichtsfärhen immer mehr
in England zu, besonders in der Hauptstadt, wo Weiber
in den Häusern herumkriechen, um den hierin unerfahrnen
Damen, Frauen sowohl als Mädchen, Unterricht zu geben.
1) G. Hill a. a. 0. Bd. II S. 82, S. 83-84.
2) ibidem Bd. II S. 83.
3) Th. G. V. Hippel sagt: „Die Schminke ist die ab¬
scheulichste Erfindung, die man nur nennen kann, weil sie
die Schamröte verdeckt, die nach dem Morgen- und
Abendröte das schönste Rot in der Welt ist. Die Weissen
sind eben darum bei weitem schöner als die Schwarzen; und,
in Wahrheit, wer die Schminke erfand, nahm sich vor, denen
einen Dienst zu thun, die Mühe haben zu erröten. Die Natur
schreibt Männergesichter mit Fraktur, Weibergesichter mit
Kursivschrift; die Schminke löscht sie aus, und man fragt
umsonst : „w ess ist das Bild und die Überschrift?“
Über die Ehe, Leipzig (Reklam) S. 198.
4) Archen holtz „Annalen“ Bd. VII S. 348 — 349.
297
Ja, man las in diesem Jahre sogar Anzeigen in den
öffentlichen Blättern, worin Weiber sich erboten, to keep
Ladies’ faces in Order by the year.“ Nach Hüttner
wurde das Auflegen der Schminke von den Engländerinnen
zu einer wahren Meisterschaft ausgebildet und stach
wohlthuend von der „Nachlässigkeit der Pariserinnen“
ab. Ja, diese bewunderungswürdige Kunst, die „Natur
in der erborgten Röte ihrer Wangen so viel als möglich
nachzuahmen“, trug nach Hüttner’s Ansicht sogar viel
dazu bei, ihre Schönheit zu erhöhen. Jede erdenkliche
Art von Rot und Weiss und von Lippenpomade wurde
in Anwendung gezogen, und der Toilettentisch einer Lady
mit seiner „Holländischen Nelke“, „Bairischem rotem
Wasser“ für die Erzeugung der Röte, sowie mit seinen
chinesischen Farben bildete ein ganzes chemisches Labo¬
ratorium. In einem Gedichte aus Austin Dobson’s
„Poems of the 18^^- Century“ heisst es:
The ladies of St. James’s
They’re painted to the eyes 1
Their white it stays for ever,
Their red it never dies.
The ladies of St. Janies’s
They are so tine and fair,
You’d think a box of essences
A\"as broken in the air.
Lord Chesterfield gab Voltaire, der ihn nach
seiner Meinung über den Unterschied der Schönheit
englischer und französischer Damen fragte, zur Antwort:
„Ich verstehe mich nicht auf Gemälde.“^)
1) Hüttner a. a. 0. S. 45.
2) „Originalzüge aus dem Charakter Euglischer Sonder¬
linge“. Leipzig 1796 S. 14.
298
Das Pudern, welches in England seit dem 16. Jahr¬
hundert bekannt war, wurde ebenfalls während des ganzen
18. Jahrhunderts bis zum Übermaass getrieben. 1795
wurde eine Steuer auf den Puder gelegt, welche das
Volk sehr erbitterte. Bis Mitte Juni dieses Jahres hatten
sich schon 300000 Personen gemeldet, die tür das Recht
sich ein Jahr lang pudern zu können, eine Guinee bezahlten.
Andere dagegen entsagten dem Puder für ihre Person,
Hessen aber ihre — Hunde oder Pferde pudern, die die
Steuer nicht zu bezahlen brauchten. Die Steuer hatte
jedoch den wohlthätigen Einfluss, dass sich gegen das
übermässige Pudern eine energische Opposition erhob,
deren Seele der Herzog von Bedford war. Archenholtz^)
berichtet: „Der Herzog von Bedford gab zu einer
wunderbaren Scene Anlass; er veranstaltete im September
(1795) eine Lustpartie nach der Woburn-Abtei, wohin er
sich, begleitet von vielen seiner Freunde, begab, unter
welchen sich der Lord W. Russ el, Vi Ilers und Paget,
die Parlaments-Glieder Mr. Lambton, Day, Vernon
und andere durch Stand und Ansehen ausgezeichnete
Männer befanden. Hier geschah vor der ganzen Gesell¬
schaft unter freiem Himmel die feierliche Ceremonie des
Puder-Auskämmens und Haar-Abschneidens. Alle Köpfe
wurden rund abgestutzt, und sämmtliche Parthiegenossen
verbanden sich zu einer ansehnlichen Geldhusse, wenn
jemand von ihnen in einer bestimmten Zeit seine Haare
binden oder pudern würde. Dies Beispiel wurde sehr
bald von den vornehmsten Personen in den Grafschaften
Bedfordshire und Hampshire befolgt, wobei die Damen
0 Archenboltz „Annalen“ ßd. XVI S. 183 — 184.
2) ibidem S. 184 — 185.
299
mit den Männern zwar nicht in Abschneiden der Haare,
doch in Abschaöung des Puders wetteiferten/^
Eine besondere kosmetische Specialität wurde im 18.
Jahrhundert die Handpflege, Manicure, die sich gewisser
•Handwässer, Handparfüme und der Handschuhe bediente,
um die Hände schön weiss zu erhalten. Miss Bellamy
erzählt in ihren Memoiren, dass man ihr täglich tausend
lächerliche Complimente über die Weisse ihrer Hände
machte, welche aber nach ihrer Meinung noch nicht das
Ideal erreichten. Daher war sie ständig bemüht, dieselben
noch weisser zu machen. Sie liess sich von ihrer Kammer¬
frau sehr enge, präparirte Handschuhe über die Hände
ziehen und ihre Arme an der Kückseite des Bettes fest¬
binden. Beim Erwachen waren beide Arme vollständig
gelähmt, infolge eines anhaltenden Druckes auf die be¬
treffenden Nerven. Sie musste sich zum Zwecke ihrer
Heilung einer sehr eingreifenden Kur unterziehen.^) —
Es gab auch Specialisten für das Beschneiden der Nägel.
,,Vor 15 Jahren (1772),“ erzählt Archenholtz, „befand
sich ein Mann in London, welcher vorgab, eine besondere
Methode zu wissen, die Nägel an den Fingern abzuschneiden,
wodurch sie wohl geformt werden und überhaupt dienen
sollten, schönen Händen, [diesem so anziehenden Theile
der weiblichen Schönheit, einen grösseren Reiz zu geben.
Die englischen Damen waren nicht gleichgültig gegen
diesen Antrag. Der Mann war den ganzen Tag beschäftigt,
bewohnte ein grosses Haus und hielt Equipage. So trieb
er dieses Gewerbe zwei Jahre lang, gewann sehr viel Geld
und verliess dennoch London mit 3000 Pfund Schulden.“
1) Hill a. a. 0. Bd. II S. 84.
2) Miss Bellamy „Me'moires’‘ Bd. II S. 0 — 10.
3) Archenholtz „England“ Bd. I S. 167.
300
Das Parfiimiren der Handschuhe war bereits um 1600
in England bekannt wo der Earl of Oxford dasselbe aus
Italien einführte. Die Universität Cambridge schenkte
der Königin Elisabeth ein Paar golddurch wirkte,
parfümirte Handschuhe. Doch sollen auch schon Heinrich
VHI. und die Königin Maria parfümirte Handschuhe
getragen haben. *)
Unter der Kegierung der Königin Anna nahm
überhaupt der Gebrauch an Parfümen in erschrecklicher
Weise zu. Die Parfümfabrikanten wurden reiche Leute
und sogar Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit von
Seiten der Schriftsteller, wie denn z. B. ein solcher,
Mr. Charles Lillie im Steele’s „Tatler“ und im
„Spectator“ erwähnt wurde. Ein Mr. Payn, der seinen
Laden im „Engel und Krone“ an St. Paul’s Church Yard,
nahe Cheapside, hatte, empfahl seine „unvergleichlichen
parfümirten Tropfen für Handtücher und anderes Leinen¬
zeug, Kleider, Handschuhe u. s. w.“, die nicht fleckten,
und den herrlichsten Geruch in der Natur verbreiteten,
ausserdem ein vortreffliches Mittel gegen alle Kopf- und
Gehirnleiden seien. „Durch ihren entzückenden Geruch
beleben und erfrischen sie alle Sinne, die natürlichen,
vitalen und animalischen (sic), beleben die Geister,
erfreuen das Herz und vertreiben die Melancholie.
Diese wunderbaren Tropfen wurden von ihrem Erflnder
für die Parfümirung des ganzen Körpers, der Kleidung,
der Zimmer, Betten, Schubladen, Koffer u. s. w. an¬
gepriesen.
0 G. Hill a. a. 0. Bd. I S. 201—202; Bd. I S. 266.
Malcolm a. a. 0. Bd. S. 240 — 241.
301
Was die Geschichte der Praeventiv- und Abor-
tivmittel in England betritft, so ist vor allem als
Prototyp der ersteren der Condom zn nennen, jene znm
Bedecken des männlichen Gliedes vor dem Coitus
benutzte Hülle aus den Blinddärmen der Lämmer, aus
Fischblasen, aus Kautschuk u. s. w., welche als die Er¬
findung des unter Karl II. lebenden englischen Arztes
Conton gilt und sowohl der Verhütung der venerischen
Ansteckung als auch der Verhinderung der Konzeption
dient. Nähere Einzelheiten über den Condom finden sich
in meinem Werke über den „Marquis de Sade“ (3. Auf¬
lage S. 229 — 231). Trotz eifriger Nachforschungen habe
ich über die Persönlichkeit des im 17. Jahrhundert
lebenden Arztes Conton nichts erfahren können. Schon
im 16. Jahrhundert hatte aber der Arzt Fallopia
Schutzhüllen aus Leinen für das männliche Glied empfohlen,
und dass auch im 17. Jahrhundert ähnliche Vorrichtungen
in Gebrauch waren, ersieht man aus einer Stelle der schon
vor der Regierung Karls IL im Jahre 1655 erschienenen
pornographischen Schrift „L’ecole des filles“, wo Suzanne
der Fanchon erklärt, dass die Männer, um eine Schwän¬
gerung des Weibes zu verhindern, „un petit linge“ über
das Glied ziehen, welches den Samen aufnimmt. Trotzdem
würde die Verbesserung jener Hüllen durch die Anwen¬
dung tierischer Membranen möglicherweise wirklich dem
oben genannten englischen Arzte zu verdanken sein, der
von späteren Schriftstellern als der Erfinder des Condoms
genannt wird. Auch Casanova spricht von den ,, kleinen
Vorsichtshüllen, welche die Engländer erfunden haben,
um das schöne Geschlecht gegen Besorgnis zu sichern.“
b Casanova’s Memoiren Bd. XHI S. 208.
302
Im 18. Jahrhundert waren die Condome wenigstens
allgemein verbreitet, auch in England. Als besondere
englische Spezialität aus neuerer Zeit erwähnt Hector
France Condome mit — dem Porträt Gladstone’s
oder sogar noch höher gestellter Personen.^)
Mittel zur Verhütung und Beseitigung der Schwanger¬
schaft sind in den Ländern der angelsächsischen Basse
ausserordentlich verbreitet. New York ist dafür besonders
berüchtigt. Aber auch von London sagt schon ein älterer
Schriftsteller ; „Die Besorgnis einer ungebetenen Frucht¬
barkeit beunruhigt die meisten dieser Demoiselles wenig;
solche fatale Zufälle sind in den höheren Klassen sehr
selten geworden, und leider greift die Wissenschaft, wie
man dem zuvorkommt oder es hindert, auf eine schreck¬
bare Weise um sich. Es giebt schon keine junge Miss
mehr, die nicht den Namen, Gebrauch und Quantität
dieses abscheulichen Mittels kenne.“
Aus der gleichen Zeit erwähnt B e e das Wort „Relieved“
als einen im Volke mit verbreiteten Terminus technicus
für die künstliche Abtreibung der Leibesfrucht. Schon
damals gab es solche verbrecherischen Annoncen in den
Zeitungen. Ein gewisser in der Gegend der St. Pauls-
Kathredrale wohnender White übte berufsmässig das
Herbeiführen des künstlichen Abortes aus.^) Aus neuerer
Zeit berichtet Pisanus Fraxi^) über die grosse Ver-
L Hector France „Les Va-Nu-Pieds de Londres“
Paris 0. J. S. 65.
2) Santo Domingo „London wie es ist“ Leipzig 1826
S. 140—141.
3) John Bee a. a. 0. S. 212.
4) P. Fraxi „Index librorum prohibitorum“ London 1877
S. XXXVI.
303
breituiig dieser verbrecherischen Praktiken in England,
die viel grösser sei als sie die gerichtlichen Fälle ver¬
muten lassen. Ein Herr, der diese Frage gründlicli unter¬
sucht hatte, schrieb ihm: „Ich kenne einen Fall, wo das
Mädchen, welches zu dem Operateur, einem Arzte im
Westend ging, im Wartezimmer bereits sechs oder sieben
junge Frauen antraf, die nach einander operiert werden
sollten. Dasselbe passierte ihr bei zwei anderen Gelegen¬
heiten, wo sie jenen Arzt in Anspruch nahm. Es waren
hauptsächlich Ballett-Mädchen oder andere mit dem Theater
in Verbindung stehende Frauen. Das im voraus zahlbare
Honorar betrug 5 Pfund.“
Auch innere Abortivmittel kommen zur Anwendung.
Nach Taylor verwenden die Engländerinnen hauptsächlich
luniperus Sabina, die Nadeln des Eibenbaumes, ferner
Eisensulfat und Eisenchlorid, in seltenen Fällen wohl auch
noch Cantharideni). Die „Maiden — Pills“ eines französischen
Arztes werden vielfach vertrieben, ebenso die Apparate
zur Verhütung der Conception, die von einem amerikanischen
Doktor erfunden sind.^)
In England und Amerika sind auch Pessarien als
Präventivmittel beliebt, wirken sogar sehr häufig auch
rein mechanisch als Abortivmittel. Die „Transactions“
der National Medical Association für 1864 verzeichneten
nicht weniger als 123 verschiedene Formen von Pessarien,
von einem „einfachen Pfropfe bis zu einer Patentdresch¬
maschine,“ welche letztere nur unter der grössten Krinoline
getragen werden konnte und wie ein Turbinwasserrad aus¬
sah. Drastisch sagt Dr. W. D. Buck,^) der dies mitteilt:
1) Floss und Bartels „Das Weib u. s. w.“ Bd. I S. 764.
2) Re'ino a. a. 0. S. 253.
3) New York Medical Journal Bd. V S. 464.
304
„Pessaries, J suppose, are sometimes usefal, but them
are more than there is any necessity for. J do think
that this filling the vagina with such traps, making a
Chinese toy-shop of it, is outrageous. Hippocrates said
that he would never recommend a pessary to procure
abortion — nay, he swore he never would. Were he
alive now he would never recommend one at all. If there
were fewer abortions theie would be fewer pessaries, and
if there were fewer pessaries there would be fewer abortions.
Our grandmothers never knew they had wombs only as
they were reminded of it by the struggles of a healthy
foetus; which by the by they always held on to.
Now-a-days, even our joung women must hove their wombs
shored up, and if a baby accidentally gets in by the side
of the machinery, and finds a lodgment in the uterus,
it may, perchance, have a knitting-needle stuck in its
eyes before it has any.“
Für Frauen und Mädchen, die solche verbrecherichen
Mittel scheuten oder bei denen sie versagt hatten, gal>
es schon im 18. Jahrhunderte Gelegenheitsorte und Ein¬
richtungen für heimliche Entbindungen. „Wir
haben hier eine Menge Privathäuser,‘‘ sagt Hüttner,^)
„in welchen junge Damen unbemerkt von der Welt nieder¬
kommen und ihre Bastarde deponiren können. Fast jede
Zeitung enthält Ankündigungen von einem oder mehr
Häusern dieser Art, und ihre Eigentümer sollen sich ganz
gut bei diesem ehrsamen Geschäfte stehen.“ Nähere
Mitteilungen über diese Einrichtungen macht Archen-
holtz'^): ,,Es giebt auch Häuser in London, wo Frauen-
L Hüttner a. a. 0. S. 180 — 181.
2) Archenholtz „England“ Pd. III S. 124.
305
Zimmer heimlich entbunden werden können, wobei sie mit
aller Bequemlichkeit und Pflege versehen werden. Ihr
Name und Stand bleibt nicht allein allen sie bedienenden
Personen, sondern selbst dem Hausherrn völlig unbekannt,
daher die Wöchnerin deswegen so sicher ist, als ob die
Entbindung in einem andern Königreich geschehen wäre,
besonders wenn sie dazu ein von ihrer Wohnung sehr
entlegenes Haus gewählt hat. — Die Lage solcher Häuser
wird teils in den Zeitungen, teils durch gedruckte Zettel
bekannt gemacht, die auf den Strassen ausgeteilt werden.“
In das Kapitel „Schwangerschaft“ gehören auch zwei
interessante Schriften jener Zeit.
Die eine Schrift, welche John Henry Mauclerc
zum Verfasser hat, der unter dem Pseudonym „Jakob
Blondel“ schrieb, ist epochemachend in der Geschichte
der Lehre vom sogenannten „Versehen“ der Frauen,
welche Mauclerc in seiner 1727 erschienenen Abhand¬
lung über die Einbildungskraft der schwangeren Weiber i)
einer ausgezeichneten Kritik unterzog, so dass nur noch
sehr wenig Thatsächliches von diesem uralten Glauben
übrig blieb.
Die zweite Schrift ist eine offenbar auf den in jener
Zeit zwischen Albrecht v. Haller und Caspar
Friedrich Wolff entstandenen Streit über die ver¬
schiedenen Zeugungstheorien Bezug nehmende, sehr
ergötzliche Satire des Sir John Hill (oder nach dem
0 Deutsche Übersetzung: „Drey merkwürdige physi¬
kalische Abhandlungen von der Einbildungskraft der schwan¬
geren Weiber und derselben Wirkung auf ihre Leibesfrucht^*”
Strassburg 1756, 8®.
2) Näheres siehe bei G. v. Weisenburg „Das Versehen
der Frauen“ Leipzig 1899 S. 54 — 63.
20
306
Bibliographen Lowndes des F. Coventry). Der Titel
derselben kennzeichnet zur Genüge den Inhalt. Er lautet
in der deutschen Ausgabe : „Lucinasine concubitu,
d. i. ein Brief an die königliche Sozietät der Wissen¬
schaften, worin auf eine unwidersprechliche Art, sowohl
aus der Vernunft als aus der Erfahrung bewiesen, dass
ein Frauenzimmer ohne Zuthun eines Mannes schwanger
werden und ein Kind zur Welt bringen könne.“ (Frank¬
furt und Leipzig 1751, 8 0). Hiergegen schrieb wieder
Eichard Koe eine zweite Satire, betitelt nach der
französischen Ausgabe von Combes: „Concubitus ^sine
Lucina, ou le Plaisir sans peine. Eeponse ä la lettre:
Lucina sine concubitu“ (Londres 1752, 8^; später auch
von M e r c i e r de C 0 m p i e g n e unter dem Titel „Lucine
affranchie des lois de concours“, Paris 1799, übersetzt).^)
Krankheiten der Geschlechtsteile werden
schon in den mittel-englischen Arzneibüchern erwähnt.
Es werden aber vor dem Ende des 15. Jahrhunderts nur rein
örtliche Leiden genannt, Geschwüre und eitrige Aus¬
flüsse, welche meist mit dem gemeinschaftlichen Namen
„burning“ oder „brenning“ (Brennen) bezeichnet werden.
Die Lustseuche, Syphilis wurde erst 1496 in Eng¬
land eingeschleppt, wahrscheinlich durch englische Söldner,
die unter Karl VIII. anno 1495 in Italien kämpften.
1) Bibliographisches giebt 11. Hayn „Bibliotheca Germa-
norum gynaecologica et cosmetica“ Leipzig 1886 S. 73. —
Über die Geschichte der Geburtshülfe in England vergl. Teil I
dieses Werkes S. 108—110.
307
Man nannte die neue Krankheit „Spanish Pocks“, später
^,French Pocks“, in Bristol ,, Morbus Burdigalensis‘‘, weil
sie dort 1498 von Bordeaux eingeschleppt worden wari).
Die Irrlehre von der Identität sämtlicher venerischer
Krankheiten wurde im 18. Jahrhundert recht eigentlich
in England befestigt, durch die berühmten Experimente
John Hunter’s, der jedem Besucher Londons durch
das nach ihm benannte ,, Hunter-Museum“ bekannt ist.
Erst Ei cord ’s scharfsinnigen Experimenten gelang der
Beweis, dass die Syphilis eine von den lokalen venerischen
Leiden toto coelo verschiedene Krankheit ist.-)
Bei den frühzeitigen ausgedehnten Handelsbeziehungen
der Engländer mussten naturgemäss auch die venerischen
Krankheiten eine ausserordentliche Verbreitung erlangen,
zumal da schon seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts
London die am meisten von Ausländern aufgesuchte Stadt
der Welt wurde. In einem alten 1749 erschienenen
Werke „Satan’s Harvest Home, or the Present State of
Whorecraft, Adultery, Fornication etc.“ heisst es: „Das
grösste Obel, welches die Prostitution begleitet und die
Menschheit befallen konnte, ist die Verbreitung jener
infectiösen Krankheit, die man „französische Pocken“
nennt und die seit zwei Jahrhunderten so unglaubliche
Yerwüstungen in ganz Europa angerichtet hat. In diesen
Königreichen verfehlt sie so selten die Hurerei, die man
heutzutage Galanterie und feines Benehmen nennt, zu
begleiten, dass eine gesunde robuste Constitution für ein
L Vergl. J. Bloch „Der Ursprung der Syphilis. Eine
-medizinische und kulturgeschichtliche Untersuchung“. Jena
1901 Bd. I. S. 276.
2) Vergl. über H u n t e r ’s Experimente E. Lang „Vorle-
■sungen über Syphilis.“ 2. Aufl. Wiesbaden 1896 S. 34 — 39.
20*^
308
Zeichen von schlechter Erziehung und Unfeinheit gilt und
man auf einen gesunden jungen Burschen blickt, als ob
er sein Leben in einer Bauernhütte zugebracht hätte. . . .
Unser Adel scheint sich im allgemeinen durch eine¬
schlechte Gesundheit auszuzeichnen, aller Wahrscheinlich¬
keit nach eine Wirkung dieser verderblichen Krankheit.
Männer teilen sie ihren Frauen, Frauen ihren Gatten,
oder sogar ihren Kindern mit; diese ihren Ammen und
die Ammen wieder andern Kindern, so dass kein Alter,
kein Geschlechto der Stand ganz frei von diesem Leiden ist“.^)
Dass die Syphilis in der vornehmen englischen Gesellschaft
des 18. Jahrhunderts überaus verbreitet war, bestätigt auch
der Verfasser der „Serails de Londres“.^) Auch von den
Ausländern wurde London in dieser Beziehung sehr ge¬
fürchtet. Schütz^) berichtet: „Die Krankheiten, denen
Ausländer nach einem Aufenthalte von mehreren Monaten
in London zuweilen unterworfen sind, können auch hier¬
von keinen Beweis abgeben; denn wenn diese Herren
uns nur aufrichtig mit ihrer Lebensart bekannt machen
wollten, würden wir bald finden, dass die sinnlichen Ver-
gnügungen, für deren Befriedigung so reichlich in London
gesorgt wird, mehreren Anteil an den Krankheiten der
Ausländer haben als das so gemässigte Klima“.
Wenn in Gay’s „Beggars Opera‘‘ die Bordellwirtin
Mrs. Trapes sich beklagt „elf feine Kunden jetzt unter
den Händen des Wundarztes zu haben “^), so trafen andere
Bordellbesitzerionen bessere Vorsich tsmassregeln zum
L „Satan’s Harvest Home: or tbe Present State of Whore-
cratt, Adiiltery, Fornication, Procuring, Pimping etc.“ London
1749 S. 31.
„Serails de Londres“ S. 213. .
S cliütz a. a. 0. S. 69. •
‘^) Taine a, a. 0. Bd. II S. 209.
309
Schutze der Gesundheit ihrer Klientel, indem sie wie
z. B. die berühmte Mrs. Goadby einen Arzt hielten,
•der die Gesundheit der Mädchen vor deren Aufnahme
ins Bordell feststellen und jede in dieser Beziehung
Zweifelhafte abweisen musste.^) Nach Girtann er wurde
es sogar in London „unter ausschweifenden jungen Leuten
Mode, in einer kleinen Schachtel beständig ein Stückchen
Speck bei sich zu führen, um im Notfälle sich desselben
zu bedienen, und die Eichel vor dem Beischlaf damit
einschmieren zu können“.^)
Sogar das alte Motiv der Übertragung einer venerischen
Krankheit aus Rache taucht auch hier bisweilen auf.
Ein Edelmann erzählte der Kupplerin Charlotte Hayes,
dass er mit einem Rivalen in der Liebe seiner Gattin
gewettet habe, dass letzterer binnen einem Monate die
Syphilis acquiriren werde, und ersuchte die Hayes ihm
ein syphilitisches Mädchen zu verschaffen, durch welches
er sich an seinem Nebenbuhler rächen wolle. Die
Hayes lieferte ihm für 30 Pfund ein solches Mädchen,'
das dann den Betreffenden auch wirklich inficirte.^)
Erschreckend war auch bis in die Mitte des 19, Jahr¬
hunderts die Verbreitung der Syphilis unter Kindern.
Wenn Ryan konstatirt, dass die Bordelle alljährlich ca.
100000 Besuche von Knaben empfingen,^) so dürfen
wir uns nicht darüber wundern, dass während der Jahre
1827 — 1835 nicht weniger als 2700 Fälle von venerischen
Krankheiten bei Kindern im Alter von 11 bis 16 Jahren
9 „Serails de Londres“ S. 12.
2) Christoph Girtann er „Abhandlung über die
venerische Krankheit“ Göttingen 1788 Bd. I S. 275.
3) „Se'rails de Londres“ S. 20—21.
Ryan „Prostitution in London“ S. 186.
310
vorkamen. Logan, der dies feststellte, bemerkt: „In:
einem unserer Hospitäler traf ich fünf kleine Mädchen^
die an einem schändlichen Uebel litten, im Alter von
13, von 12, 11, 9 und 8 Jahren. Die Mutter der letzteren
litt ebenfalls an derselben Krankheit. Drei dieser Mädchen
waren im Hause ihrer Mutter und zwar nicht durch Kinder
verführt worden.“^) Es giebt in London sogar besondere
Krankenheime für solche jugendlichen Prostituirten, wO'
venerische Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren verpflegt
werden. Unter den Hospitälern für venerische Krankheiten
ist besonders bekannt das Lock Hospital am Harrow
Koad, das bereits 1746 gegründet wurde. Mitteilungen
über die Zahl der in diesem und in anderen Hospitälern
behandelten Personen macht Lecour in seinem Werke^
über die Prostitution in Paris und London.^) Nach Ky an
wurden von Januar 1747 bis März 1836 44973 venerische
Kranke ins Lock Hospital aufgenommen.
In den letzten Decennien des 19. Jahrhunderts war
die Verbreitung der venerischen Krankheiten in London und
den englischen Hafenstädten eine so grosse geworden, dass
sogar sogenannte „Gesundheitsbureaux“ zar Beschaffung
gesunder Prostituirter eingerichtet wurden, denen von den
untersuchenden Aerzten diesbezügliche Atteste ausgestellt
wurden."*)
Dass England durch seinen ungeheuren überseeischen
Verkehr und durch sein über die ganze Erde sich aus-
0 Ryan a. a. 0. S. 120; France „Va-nu-pieds“ S. 40.
C. J. Lecour „La Prostitution ä Paris et ä Londres“-
Zeme edit. Paris 1882 S. 270 ff.
Ryan a. a. 0. S. 186.
“i) Lecour a. a. 0. S. 273; A. Blaschko „Syphilis und
Prostitution“ Berlin 1893 S. 147.
311
dehnendes Kolonialreich gegenwärtig der Hauptherd der
venerischen Ansteckung ist and am meisten die Geschlechts¬
krankheiten verbreitet, hat bereits Jeannel hervorge-'
hoben, und bestätigt Tarnowsky.'-^)
Es scheint aber, dass in der allerletzten Zeit diese
Verhältnisse sich gebessert haben, da wohl infolge einer
günstigeren Gestaltung der sozialen Zustände und infolge
der Aufklärung des Volkes über die Gefahren und Folgen
venerischer Leiden die Zahl der an Syphilis erkrankten
Personen in England bedeutend zurückgegangen ist,^) wie
denn auch gegenwärtig bei den unverheirateten Engländern
eine grosse Scheu vor der regellosen ausserehelichen
Befriedigung des Geschlechtstriebes besteht und das früh¬
zeitige Heiraten wieder mehr auf kommt.
Von grossem Interesse ist die Geschichte der Kur¬
pfuscherei auf sexuellem Gebiete in England.
Die Kurpfuscherei, die ja, wie schon der alte saler-
nitanische Vers: Fingit se medicum quivis idiota profanus
bezeugt, ein allgemeines Uebel des Menschengeschlechtes
ist, hat in keinem zivilisirten Lande so günstige Existenz-
und Vermehrungsbedingungen gefunden, wie in England.
J. Jeannel „Die Prostitution in den grossen Städten
im neunzehnten Jahrhundert“ deutsch von Fr. \V. M ü 1 1 e r
Erlangen 1869 S. 90 — 91.
2) ß. T a r n 0 w s k y „Prostitution und Abolitionismus“
Hamburg 1890 S. 214.
3) A. Blaschko „Hygiene der Prostitution und der veneri¬
schen Krankheiten“ Jena 1900 S. 69 — 72.
— 312
Samuel Johnson meinte, dass die Ursache dieses ausser¬
ordentlichen Gedeihens der Quacksalber in England auf
dem Umstande beruhe, dass neun Zehntel seiner Ein¬
wohner Narren wären, was medizinische Angelegenheiten
beträfe J)
Gemäss dem bekannten Worte, dass Hunger und
Liebe die Welt regieren, hat sich auch die Kurpfuscherei
von jeher den Gebieten der Verdauungskrankheiten und
der Geschlechtsleiden mit Vorliebe zugewendet und be¬
sonders auf letzterem erstaunliche Leistungen hervorge¬
bracht, welche vielleicht die lehrreichsten Aufschlüsse
darüber geben, wie weit menschliche Narrheit, Verworfenheit
und Aberglauben gehen. Wenn man die Geschichte der
Kurpfuscherei und medicinischen Charlatanerie aller Zeiten
und Völker betrachtet, ergiebt sich auf eine unwiderleg¬
bare Weise die Richtigkeit der Gleichung „Kurpfuscherei =
Verbreitung des geschlechtlichen Lasters und der Un¬
sittlichkeit.“ Diese Beziehungen der Kurpfuscherei zu
dem Geschlechtsleben und den geschlechtlichen Verbrechen
hat neuerdings Dr. C. Reissig in seiner interessanten
Schrift über „Medicinische Wissenschaft und Kurpfuscherei“
sehr drastisch beleuchtet.^)
1) A. Müliry „Darstellungen und Ansichten zur Ver¬
gleichung der Medizin in Frankreich, England und Deutsch¬
land“ Hannover 1836 S. 148.
2) C. Reissig „Medicinische Wissenschaft und Kur¬
pfuscherei“ Leipzig 1900 S. 114 ff. — Er verweist besonders
auf das „entsittlichende Treiben vieler Magnetiseure, Laien¬
hypnotiseure und ähnlicher Leute, die unter dem Deckmantel
von Helfern der Kranken allerlei unsittliche Gelüste
befriedigen“ und teilt dafür sehr charakteristische Bei¬
spiele mit. Polizeiliche Ermittelungen haben ergeben, dass
zahlreiche Masseusen und männliche Pfuscher, die „diskrete
Frauenkrankheiten“ behandeln, sich mit Kindsabtreibungen,
313
In England hat die sexuelle Kurpfuscherei von jeher
ganz besonders geblüht und ihren Vertretern reichste
Früchte getragen. Im frühen Mittelalter waren besonders
„heilkundige Frauen“, „Kräuterweiber“, „Hexen“ u. a.
auf diesem Gebiete thätig, während bis zur Keformation
die männlichen Quacksalber eine relativ seltene Erschei¬
nung waren. Jedoch tauchte zur Zeit Eduards IV.
sogar schon ein „Gesundbeter“ namens Grig auf, der aber
für diese zweideutige Thätigkeit an den Pranger kam und
rücklings auf einem Pferde sitzend durch die City reiten
musste. Auch Heinrich VHI. ging überaus scharf
gegen die Kurpfuscher vor. Zu seiner Zeit durchzog
„Merry Andrew“ d. i. A ndrew Borde, ein sehr witziger
und gelehrter Charlatan, von seinen Dienern begleitet,
das Land und hielt sehr originelle Reden an die stets
zahlreich herbeiströmenden Gaffer, worauf er unter lautem
Beifall des Pöbels seine Wunderkuren coram publico ver¬
richtete.^) ln der 1678 veröffentlichten „Quack’s Academy,
or the Dunce’s Directory“ wird eine sehr humoristische
Verkuj)pelungen, künstlicher geschlechtlicher
Erregung, Verschaffung des Menschenmaterials
zur Befriedigung perverser Gelüste befassen. — In
einem Artikel „Durchlauchtigste Kurpfuscherei“ im „Aerztlichen
Vereinsblatt No. 418, August 1900, berichtet Dr. Reissig, dass
es „Ihrer Durchlaucht der Prinzessin Maria von Rohan in
Salzburg“ als eine heilige Pflicht erscheint, dem Tischler (!)
Kühne in Leipzig unterm 9. November 1889 zu bezeugen,
dass seine Geschlechtsreibebäder (!) „von unschätzbarem Werte
und wunderbarer Wirkung gewesen sind“ und „den Aerzten
die genaueste Prüfung dieser neuen Heilmethode zu em¬
pfehlen sei.“
J. C. Jeaffreson „ A Book’ about Doctors“ London.
0. J. S. 52.
2) „Döings in London“ S. 172—173.
314
Aufzählung der Requisiten und Hülfsmittel eines Quack¬
salbers gegeben und u. a. ihm auch empfohlen, fleissig
die „Ale-Houses“ zu besuchen und mit den „nurses and
midvvives“ der Stadt Beziehungen anzuknüpfen, besonders
aber stets „beredt und unverschämt“ zu seinA) Der be¬
rühmteste Chalatan aus der Zeit Karls II. war Thomas
S aff old, ein Weber, der aber behauptete, alle Krank¬
heiten heilen und ausserdem wahrsagen zu können. Durch
ihn wurde das seitdem bei den englischen Kurpfuschern
so beliebt gewordene System der Verteilung von Zetteln
an die Passanten eingeführt. Er stellte in Cheapside,
Fleet Street, am Strand und selbst in den geheiligten
Bezirken von Whitehall und St. James^s Leute auf, die
den Vorübergehenden mit Poesie oder Prosa bedruckte
Zettel in die Hand drückten. Die Verse machte er selber.
Ein satyrisches Gedicht, dass nach seinem am 12. Mai
1691 erfolgten Tode, erschien, beleuchtet durch folgende
Verse seine besonders dem schönen Geschlechte zugewen¬
dete anrüchige Thätigkeit:
„Lament, ye damseis of our London city,
(Poor unprovided girls) tho’ fair and witty,
Who, maskt, would to this house in couples come ;
To understand your matrimonial doom;
To know what kind of men you were to marry.
And how long time, poor things, you were to tarry.“
Zur Zeit der Königin Anna erfand Paul Cham¬
ber len ein „Halsband“ gegen schwere Geburten,^) ein
anderer Charlatan empfahl zu demselben Zwecke sein
„Unicorn’s Horn Powder“, wodurch er mehreren Frauen
- t
Jeaffreson a. a. 0. S. 53—54.
2) ibidem S. 56.
2) Vergl. „Biographisches Lexikon hervorragender Arzte“
von x4. Hirsch und E. Gurlt, Wien 1884. Bd. I S. 697.
315
das Leben gerettet haben wollte, die nicht gebären konnten,
bevor sie nicht sein „Pulver“ genommen hatten.^) Im
jjTatlei“’ No. 240 vom 21. Oktober 1710 wird bereits
das Treiben der Kurpfuscher mit ihren Zettelverteilungen
sehr anschaulich geschildert. Ebenso geisselt Ned Ward
in seiner am Anfänge des 18. Jahrhunderts erschienenen
,,History of London Clubs“ die gemeingefährlichen Prak¬
tiken der Quacksalber:
Biit banefiil, Quacks, in Pliysick’s Art unread,
To Weaving, Cobling, or Tumbling bred,
Or eise poor Scoundrels, wlio for Scraps, Thanks
Swept Stages for their Master Mountebanks.
These to the AVorld destructive Slops cominend
And do their poys’nous Cheats to life extend,
By vain pretences pick the Patient’s Purse
And with sham Med’cines make ’em ten times worse.
Um 1730 „heilte‘^ ein gewisser Joshua Ward mit
seinen wunderbaren „Tropfen“ alle Krankheiten, vertrieb
mit denselben selbst die übermässige Geilheit alter Lebe¬
männer und stellte damit die verloren gegangene Keusch¬
heit junger Mädchen wieder her.‘Q
Die eigentliche weder früher noch später wieder
erreichte Blütezeit des Kurpfuschertums in England war
die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, das Zeitalter der
„Aufklärung“, welches aber gerade jeder Art von Aber¬
glauben, Magie, von ärztlichem Betrug und Schwindel
überaus günstig war.^) „Der Arzt,“ sagt C. J. Weber,
„der mit offenen Augen und mit den Augen geübten
1) H. Sampson „A. History of Advertising“ London.
1874. S. S85.
2) Vergl, „Gentleinan’s Magazine‘' vom Juli 1734.
Vergl. darüber Kuno Fischer „Schiller als Philosoph^
2. Auflage, Heidelberg 1891 Bd. I S. 97 — 105.
316
Verstandes so oft im Finstern tappen musste, hört nun
von Anschauungen aus der Magengrube, von Manipuliren
der Schenkel, Weichen und Busen, das von einer Manns¬
hand weit kräftiger wirkt als von der Hand eines Weibes;
er hört von Hellsehen mit verschlossenen Augen, von
selbstverschriebenen Arzeneien und ihren Wundern, von
Desorganisation und Eltstasen, die den Nervenkranken
mit der ganzen Natur in Verbindung setzen und mit dem
Keiche der Geister.“^)
Das Treiben der Pfuscher um jene Zeit schildert
V. Schütz^) sehr anschaulich. ,, Wer Pillen oder Pulver
verkauft, nennt sich öffentlich Doktor, ohne um eine
Promotion von irgend jemand befragt zu werden. Viele
solcher Doktoren halten öffentliche Medicinläden, ohne dass
deren Arzneien einer Prüfung unterworfen sind. Jeder
Apotheker hat das Recht, als Arzt zu heilen und thut es
auch. Eine Menge Deutscher, Holländer und Franzosen,
die nichts gelernt haben und im V^aterlande keinen Brod-
erwerb finden, wenden sich nach London und morden
ihre Nebenmenschen nach Belieben. Sie nennen sich nicht
nur Doktoren, sondern fügen auch diesem Titel oft noch
seltsame Prädikate hinzu als z. B. praktizierender
Arzt von ganz Frankreich, von Holland und
dergleichen, oder : Leibarzt der angesehensten
Fürsten des römischen Reichs u. s. w. Diese
Herren machen äusserlicli viel Aufwand und kurieren teils
in, teils ausser dem Hause. In allen Strassen, an der
Börse und Kaffeehäusern stehen Männer und Weiber (oft
auch dieser Doktoren ihre Livereibedienten), teilen Medicin-
1) C. J. Weber .,Demokritos“ Stuttgart 1862 Bd. HI
S. 166.
-) v. Schütz a. a. 0. S. 22 — 24.
317
Zettel aus, die oft von dem sonderbarsten Inhalte sind.
Einer bittet, man möge ihm den Morgenurin senden, er
verlangt den Patienten gar nicht zu sehen, und will doch
immer die dienlichsten Medikamente verordnen. Ein
anderer verspricht der Unfruchtbarkeit beider Geschlechter
zu Hülfe zu kommen. Der Dritte verspricht sogar das
Gegenteil, die Fruchtbarkeit des weiblichen Geschlechts
nach Gefallen zu hemmen, die meisten aber rühmen ihre
Geschicklichkeit in Kuren galanter Krankheiten. Noch
andere erbieten sich, in ihren eignen Häusern zu accouchiren,
sie versichern, dass ihre Häuser sehr bequem dazu ein¬
gerichtet sind, offerieren Betten und Aufwartung und
ersuchen Damen, sich dieserhalb bei ihnen zu melden.
Alle Ecken der Strassen, der Leuchtenpfähle, sogar des
königlichen Palais zu St. James sind mit dergleichen
Affichen beklebt, und die Londoner Polizei begünstigt
sichtbarlich diesen medicinischen Unfug. So wurde z. B.
in Towerhill täglich eine medicinische Bude erbaut. Das
Gerüste war oben mit Leinen bedeckt und an der Seite
eine hölzerne Treppe angebracht. Hier versammeln sich
Kranke, welche ein Arzt öffentlich und zwar unentgeltlich
heilt, bloss um sich Kundschaft zu verschaöen. Majestätisch
bestieg dieser Doktor das Gerüste, hielt eine feierliche
Anrede an die Zuschauer und dann operierte er seine
Patienten, die der Keihe nach auf Stühlen und Bänken
sassen ... Er Hess sodann Medicinzettel austeilen und
hielt zum Beschluss abermals einen feierlichen Epilog.
Wenn er das Gerüste verliess, so folgten ihm bald die
Kranken, die Bedienten packten den Medicinkasten zu¬
sammen und das Theater wurde abgebrochen, welche
Farce sich täglich wiederholte. Schütz erzählt dann
weiter, wie er einmal von einem solchen Charlatan in,
318
einem Wirtsliause angeredet und eingeladen wurde, ihn
zu besuchen, was er anfangs ablehnte, später aber beim
zufälligen Vorbeigehen nicht mehr ausschlagen konnte,
zumal da das Haus sehr glänzend aussah. „Er führte
mich in ein schönes möbliertes Zimmer, wo er mich mit
einigen Damen bekannt machte, die er seine Cousinen
nannte. Es waren fünf wohlgeputzte und wohlgeschmückte
weibliche Geschöpfe, und ich konnte sehr bald merken,
zu welcher Klasse von Londoner Damen ich solche zu
rechnen hatte. Ich hatte Mühe, mich von dieser Gesell¬
schaft loszumachen, versprach aber sehr feierlich, mich
noch den nämlichen Abend wieder einzustellen. Nachher
erfuhr ich von einem Deutschen, der unweit diesem
Hause wohnt, dass ich mich in meiner Vermutung nicht
betrogen hatte, und dass in gedachtem Hause ausser
mancherlei Galanterien auch die grössten Spitzbübereien
verübt würden.“ Diese innige Connection der Quacksalber
mit den Bordellen beruhte zum Teil wohl auch auf dem
Umstande, dass sie hier den Patientenfang in grösserem
Massstabe treiben und zugleich ihre Mittel gegen die
venerischen Leiden sowie ihre sonstigen Ratschläge in
sexuellen Dingen am besten anbringen konnten. Der
Verfasser der „Müssiggänger in London“ berichtet, dass
diese Charlatane es besonders auf die vom Lande kommen¬
den Personen abgesehen hatten, die meist wegen geschlecht¬
licher Leiden jenen in die Hände fielen. Q
Derjenige Charlatan, welcher entschieden am raffi-
nirtesten von allen auf die geschlechtlichen Instinkte
seiner Klientel spekuliert hat, der wahre Cagliostro
der Kurpfuscherei war Dr. James Graham, der be-
„Offenherzige Schilderung der Müssiggänger n. s, w.“
London 1788 Bd. H S. 28 — 30.
319
rülimte Erfinder des ,,liimnilisclien Bettes“ und des
„Tempels der Gesundheit“.^)
Er wurde als Sohn eines Sattlers in Edinburgh im
Jahre 1745 geboren, promovirte zum Doktor, prakticirte
in Pontefraet, ging dann nach Amerika, wo er sich als
Philanthrop aufspielte, der zu Nutz und Frommen der
Menschheit reiste, um in den verzweifeltsten Krankheiten,
welche der Behandlung der übrigen Ärzte getrotzt hatten,
noch Hilfe und Bettung zu bringen. Er sammelte hier
einen grossen Schatz von Erfahrungen, die er später ver¬
wertete. Da er ein schöner Mann, von höflichem Wesen
und grosser Beredsamkeit war, der die Gabe der Unter¬
haltung in hohem Grade hesass, so erlangte er bald Eintritt
in die ersten Kreise, besonders in Neu-England, wo wie
er selbst sagt, er einen „goldenen Kuf“ sich erwarb.
Dann kehrte er nach England zurück, bereiste das ganze
Land und war nach seinen Angaben sehr erfolgreich in
der Behandlung verzweifelter Fälle. 1775 liess sich
Die Litteratur über diese Persönlichkeit von wirklich
sittengeschichtlicher Bedeutung ist sehr gross, zudem ist
Graham eine ständige Figur in ganz- oder halberotischen
englischen Schriften. Die wichtigsten Angaben finden sich
bei H. Sampson „A History of Advertising“ London 1874 S.
411 — 421; J. C. Jeaffreson „A book about doctors“ S. 218
bis 223; John Davenport „Aphrodisiacs and Antiaphro-
disiacs“ S. 121 — 125; J. W. v. Archenholtz „England und
Italien“ Bd. I S. 158 — 165; dessen „Annalen“ Bd. III S. 214,
Bd. XI S. 359, Bd. V S. 364. Über eine eigene, das „himm¬
lische Bett“ behandelnde Schrift siehe unten. Auch in
deutschen Eroticis wird Graham’s Bett öfter erwähnt oder
auchin ähnlichen Schilderungen nachgeahmt, wie z. B. in dem
„Paradies“ der Liebe am Ende des zweiten Bandes von F.
W. B r u c k b r ä u ’ s erotischer Schrift „Rosa’s Gardinenseufzer.“
Stuttgart 1832 S. 182 — 199.
320
Graham in London nieder, eröffnete ein Haus in
Pall Mall, wo er besonders Augen- und Ohrenkranke
behandelte und darauf sich beziehende Annoncen in den
Tageszeitungen erliess, die bereits, wie Sampson sagt,
die „Würze der Kurpfuscherei“ an sich trugen. Nach
einiger Zeit besuchte er Schottland und hatte grossen
Zulauf aus vornehmen Kreisen infolge seiner fascinirenden
Manieren und des Kufes seiner wunderbaren Kuren. Er
war so populär, dass eine Niederlassung in Edinburgh ihm
sicher grossen Gewinn gebracht hätte, aber er kehrte nach
London zurück, wo er nunmehr eines der „originellsten
und extravagantesten Institute, das man sich denken kann,
einrichtete“ (Sampson), dessen Zweck nach den An¬
kündigungen des Doktors „die Hervorbringung einer weit
stärkeren, schöneren, energischeren, gesunderen, klügeren
und tugendhafteren menschlichen Easse sein sollte, als
die gegenwärtigen unbedeutenden, närrischen, mürrischen,,
lasterhaften und verstandesarmen Vertreter derselben seien,
welche sich streiten, fechten, beissen, einander den Hals
abschneiden, ohne dass sie wissen warum.“ Die Idee war
wirklich einzig und originell. Sie gründete sich auf
eine genaue Kenntnis der menschlichen Natur, und der
unglaubliche Erfolg bewies die Kichtigkeit dieser Berech¬
nung. Im Mai 1779 eröffnete Graham seinen berühmten
„Tempel der Gesundheit“ in den Adelphi, mit dem darin
enthaltenen „himmlischen Bett“, das allein 16000 Pfund
Sterling gekostet haben soll. Archenholtz erzählt:
„Der Einfall war äusserst original und ganz ohne Beispiel.
Ein Mann, der von seinem Vermögen in seinem Vaterlande
im Überfluss leben konnte, verliess es und wagte ^ alles
das Seinige, um in einem anderen Lande den Charlatan
zu spielen. — Man sah die äusserste Pracht allenthalben
321
in diesem Tempel, künstlich gemachte elektrische Feuer,
die bogen artigen Schimmer verbreiteten und Strahlen von
sich warfen; transparente Gläser von allen Farben, mit
kluger Wahl und vielem Geschmack angebracht; kostbare
Vasen mit den vortrefflichsten Wohlgerüchen angefüllt,
die eine Art von schmachtender Begierde erweckten.
Alles dies, das er jedermann umsonst zeigte, war hin¬
reissend, und spannte die Vorstellung von denjenigen
Dingen, die im Heiligtum des Tempels zu sehen waren,
aufs höchste, da Pracht, Kunst und Erfindung schon in
diesem Vorhofe desselben erschöpft zu sein schienen.
Dieser Aeskulap gab für den Preis einer Guinee gedruckte
Lebensregeln, vermittelst welcher er vergab, der Un¬
fruchtbarkeit des einen und dem Unvermögen des anderen
Geschlechtes abzuhelfen. Nach einer sehr umständlichen
Anzeige der nötigen Vorbereitungen, die erfordert wurden,
um mit gutem Erfolge an dem Erzeugungswerke zu
arbeiten, worunter er die Reinlichkeit auch als ein sehr
wirksames Mittel anpries, empfahl er sehr die Moderation
bei den Opfern, die man dem Hymen darbringt. Er
verengte, man sollte zeitig zu Bette gehen und früh
aufstehen, die Fenster des Schlafzimmers nicht mit Laden
verwahren, damit das Licht, besonders aber das Mondlicht
hinein dringen könne. Auch riet er den Eheleuten, sich
mit Singen zu unterhalten. Denn „dadurch werden die
Seelen eines glücklichen Paares weich gemacht und mit
Liebe und Harmonie erfüllt, ihre Körper und Seelen
begegnen sich, mischen sich, überlassen sich dem Eifer
einer heimlichen Entzückung, und fliegen gleichsam nach
Elysium. Diese glücklichen Wesen glauben sodann nicht
mehr Einwohner dieser Unterwelt zu sein.“ In diesem
Tone fuhr er fort, bis er zu seiner Kauptbatterie kam:
21
322
„Wenn man meinen Vorschriften auf das genaueste nach¬
gekommen ist, und, um sich zu stärken, den göttlichen
Balsam eingenommen hat, den ich zuhereite, und für das
Wohl der Menschheit nur für eine Guinee die Bouteille
verkaufe, wenn, sage ich, ungeachtet aller dieser Mittel,
man nicht seinen Zweck erreicht, so bleibt mir noch ein
ausserordentliches Mittel übrig, dessen Erfolg aber un¬
fehlbar ist. Dies ist ein wunderbares und himm-
lischesBett, dasich „Magneto-Electric“ nenne, es ist das
erste und einzige, das in der ganzen Welt existirt, oder
jemals vorhanden gewesen ist. Es steht im zweiten Stock,
in einem grossen und prächtigen Zimmer, rechter Hand
meines Orchesters, im Vorderteil meiner reizenden Ein¬
siedelei. In meinem benachbarten Kabinet ist ein Cylinder,
durch welchen die Ausflüsse des himmlischen und alles
belebenden Feuers in das Schlafzimmer geleitet, so wie
auch die Vapeurs stärkender Medikamente und orien¬
talischer Käucherwaren durch gläserne Röhren dahin
geführt werden. Das himmlische Bett selbst ruht auf
sechs massiven und transparenten Säulen; die Betttücher,
von Purpur und himmelblauem Atlas, sind über Matratzen,
mit arabischen und anderen morgenländischen Essenzen
parfümirt, gebreitet, und zwar im Geschmacke des per¬
sischen Hofes, wie es in dem Zimmer der Favorit-Sultanin
im Serail des Grossherrn befindlich ist. Dieses Bett ist
das Resultat eines unermüdlichen Fleisses und der hart¬
näckigsten Arbeit, ohne die Kosten zu rechnen, die uner¬
messlich sind. Uebrigens unterlasse ich keine Behutsamkeit,
welche die Delikatesse sowohl als der Wohlstand nur immer
verlangen können; denn weder ich noch meine Leute
haben nötig zu wissen, wer die Personen sind, die in
diesem Zimmer ruhen, das ich das „Sanctum Sanctorum“
323
nenne. Man zeigt niemals das himmlische Bett denjenigen,
die durch Neugierde gelockt, den Best meiner Appartements
zu sehen kommen. Diese Behutsamkeit ist nicht weniger
weise als delikat; denn wer könnte dem Vergnügen, ja
der Entzückung Widerstand thun, die dieser bezaubernde
Ort erregt, welcher neue Ideen von Verfeinerung einflösst,
wodurch die Wollust und der vervielfältigte Genuss der
sinnlichen Vergnügungen aufs höchste gebracht wird, wovon
aber die Folge ist, dass unsre Tage verkürzt und die
Triebfedern des Körpers und der Seele geschwächt wer¬
den. Diejenigen, die in diesen wonnereichen Ort dringen
wollen, werden ersucht, mich schriftlich davon zu benach¬
richtigen, und ihre gewählte Nacht zu bestimmen ; hierbei
wird eine Banknote von 50 Pfund Sterling gelegt, für
welche sie ein Einlassbillet empfangen werden.“ In einer
Note, die zum Supplement der Beschreibung des himm¬
lischen Bettes dient, fügt der Doktor hinzu; „Nichts ist
erstaunenswürdiger als die göttliche Energie des himm¬
lischen und elektrischen Feuers, womit dieses Bett angefüllt
ist, sowohl als mit einer Mischung magnetischer Ausflüsse,
üie sehr wirksam sind, den Nerven alle ihre nötige Kraft
zu geben. Zu diesem allen kommen noch die melodischen
Töne der Harmonica, der Cölestina, sanfter Flöten, ange¬
nehmer Stimmen und einer grossen Orgel. Die Macht
und Eigenschaft dieses zusammengesetzten Ganzen kann
nicht fehlen, bei Philosophen und Aerzten Verwunderung
und Vergnügen zu erregen. Man hat niemals an ein
ähnliches Mittel gedacht, um die Unfruchtbarkeit der
Weiber zu heben, sie zu Müttern zu machen, und dem
bejahrten Manne seine ursprüngliche Kraft wieder zu
geben.“ — Man wmrde den Engländern Unrecht thun,
wenn man glaubte, dass die Hoffnung der wunderbaren
21*
324
Wirkungen sie so häufig zu diesem himmlischen Bette?
führte. Fast jedermann sah diese glänzende Farce für
das an, was sie war. Genug, Graham und reiche nach
Wollust jagende Engländer befanden sich wohl dabei.
Wie viele giebt es deren nicht, die hundert und mehr
Guineen an einem Abend in einer Taverne oder einem
Bagnio verschwenden, ja in den grossen Subscriptions-
Spielhäusern Tausende verspielen? Warum sollte nicht
ein solcher, der nun einmal sein Geld los werden will,
50 Pfund anwenden, um sich ein Vergnügen zu verschaffen,
wobei alle seine Sinne berauscht werden, und er eine nie-
empfundene Wollust geniesst? Junge Leute, die mit Geld
reichlich versehen aus der Provinz kommen, um sich eine¬
kurze Zeit in London zu vergnügen, Offiziere von der
Marine, und Kaper, die grosse Summen für Prisen bezogen
haben, und solche in wenigen Tagen anbringen wollen,,
da sie der Dienst und die Hoffnung neuer Beute wieder
auf die See treibt; Leute, die mit Keichtum beladen, aus
Ostindien kommen; unterhaltene Maitressen der Grafen,,
die Lust haben, diese neue Art der Wollust zu versuchen,,
und ihren Liebhaber deshalb anliegen, welche sich um so
viel eher dazu bequemen, da hierbei das äusserste Incognito
beobachtet werden kann; dies waren die Hauptkunden
unseres Doktors, ohne die Menge anderer Verschwender
zu rechnen.“
Als weiterer Attraktion bediente sich Graham der
Dienste einer schönen jungen Frau, die er „Vestina, die
rosige Göttin der Gesundheit“ nannte, und die bei seinen
Abendvorlesungen zugegen war und nach der An¬
kündigung das „geheiligte vitale Feuer bewachte, dessen
Anwendung in der Kur von Krankheiten sie täglich
leitet“. Kurze Zeit lang versah die schöne Emma Hart,
325
<iie später als Emma Hamilton so berühmt geworden
ist, diesen Dienst. Sie begleitete Graham auch zu der
Demonstration seiner Erdbäder, welche dieser als das
sicherste Mittel gegen alle Krankheiten anpries und die
darin bestanden, dass man sich nackt bis an den Hals
mit Erde bedecken Hess, am besten aber sich in die
Erde eingraben liess. Er selbst ging mit gutem Beispiele
voran und liess sich noch im September 1790 mit einem
Wundarzte Wilkinson so tief in die Erde einscharren,
dass nur beider Köpfe sichtbar waren. In diesem Zustande
verharrten sie sechs Stunden lang, begafft von mehr als
dreitausend Menschen beiderlei Geschlechts!
Im Frühjahr 1781 wurde der „Tempel der Gesund¬
heit“ nach Schomburg House in Pall Mall verlegt, und
der „Temple of Hymen“ und das „Celestial Bed“ wurden
dem Staunen der Profanen und Neugierigen ausgestellt
und „Vestina, die Gigantische“ stellte auf ihrem „himm¬
lischen Throne“ ihre Reize zur Schau. Der Eintritt in
diesen elysischen Palast kostete einen Schilling, aber die
■einzelnen Herrlichkeiten des Innern erforderten wieder die
Erlegung eines bei weitem grösseren Obolus. Auch
verkaufte er Medicamente, Lehrbücher, seine Biographie
u. s. w. „Vestina’s, der rosigen Göttin, warme Vorlesung“^)
kostete 2 Schilling 6 Pence. Bisweilen wurden eine
herrliche Beleuchtung, sowie „elysische Promenaden für
„II Convito amoroso, or A Serio-comico-philosophical
lecture on the causes, nature and effects of love and beauty
. . . and the prolific intluences of the celestial bed, by Hebe
Vestina, the rosy goddess of youth and of health, from the
electrical throne at the temple of hymen, in London.“ London,
Hebe Vestina, sold at the temple of hymen in Pall Mall 1782,
8^,102 Seiten (Die Vorrede ist unterzeichnet: „Vestina tertia“)
326
Damen und Herren‘‘ veranstaltet, zu welchen auch maskirte
Personen zugelassen wurden. „Die bezaubernde Glorie
dieser magischen Scenen“, heisst es in einer Ankündigung,
„wird um 7 Uhr beginnen und um 10 Uhr zu Ende sein,
während welcher Zeit orientalische Wohlgerüche und
aetherische Essenzen die Luft parfümiren und das
hymenaeische Bett im Lichte des sanften himmlischen
Feuers erglänzU^
Aus den satirischen Anspielungen in Zeitschriften und
Broschüren jener Zeit lässt sich mit aller Deutlichkeit
auf den wahren Charakter jener Zusammenkünfte im
„Tempel der Gesundheit‘‘ und vor und auf dem „himmlischen
Bette“ ein Schluss ziehen. Auch nach Sampson’s Er¬
mittelungen ist es sicher, dass Gr ah am ^s Haus eigentlich
weiter nichts als ein fashionahles, luxuriös eingerichtetes
Bordell war.
Diese Herrlichkeit dauerte nur bis zum März 1784,
wo der Tempel der Gesundheit für immer geschlossen
und alle Möbel zugleich mit dem berühmten Bette ver¬
kauft wurden. Graham trieb zwar noch seine übrigen
Charlatankünste, hielt u. a. Vorlesungen über Makrobiotik,
in denen er die Kunst, ohne Essen (sic) ein gesundes
und langes Leben zu führen, lehrte, kam aber immer
mehr zurück und soll in den neunziger Jahren nahe bei
Glasgow in sehr elenden Verhältnissen gestorben sein.
Auch der Mesmerismus feierte in England
Triumphe. Auf dessen innige Verknüpfung mit geschlecht¬
lichen Dingen weist Eugen Sierke hin. Die Klagen
gegen den „Magnetismus“ Mes me r’s wegen Gefährdung
der Sittlichkeit waren sehr häufig. Eine anonyme Bro¬
schüre unter dem Titel „Von den Missbräuchen, zu denen
der Mesmerismus Anlass gegeben hat“ hob alles hervor.
327
was in der „Kette“ und den „Krisen“ fnr die Sittlich¬
keit Gefährliches läge. Auch andere Flugschriften wiesen
auf das bedenkliche Treiben der Magnetiseure und ihrer
Patienten hin. Mehrere Skandale kamen zur Kenntnis
der Pariser Behörden, und der Mesmerist D e s 1 o n bestätigte
sogar dem Polizeipräfekten, dass der geschlechtliche Miss¬
brauch eines magnetischen oder in der Krise befindlichen
Mädchens möglich sei.') In England führte der von
Cagliostro zum „übernatürlichen Künstler“ geweihte
Maler Loutherbourg den Mesmerismus ein under richtete
in der Londoner Vorstadt Hammersmith seinen „magnetisch¬
magischen Tempel“, wo „fanatische Männer und Weiber“
sich von ihm in die Geheimnisse und Wunder des Mesmeris¬
mus ein weihen Messen.^). Er fand bald Nachfolger, u. a.
in einem gewissen Maina du c, einem Schüler Mesmers,
der in London eine „Wunderschule“ anlegte, wohin gleich¬
falls zahlreiche Gläubige strömten, um für 150 Guineen
in die Mysterien des Magnetismus eingeführt zu werden.^)
Sogar Georg IV. wohnte als Prinz den Seances dieses
Schwindlers bei.^)
Den Mesmeristen reihten sich die Rosenkreuzer
an, die als „Nachfolger der chaldäischen Weisen“, als
„Schüler der ägyptischen Priester“ die Geheimnisse der
Heilkunde den staunenden Zuhörern offenbarten. Die
1) Vergl. Eugen Sierke „Schwärmer und Schwindler zu
Ende des achtzehnten Jahrhunderts“ Leipzig 1874 S. 168 — 169.
2) Archenholtz „Annalen“ Bd. III. S. 212 — 213; J. C
Jeaffreson „A book about doctors“ S. 60 ft.
3) Archenholtz a. a. 0. S. 213.
■^) P. F i 1 z g e r a 1 d „The Life of George the Fourth“ London
1881 Bd. I S. 87.
228
Versammlungen der englischen Kosenkreuzer fanden in
Hatton Garden Street in London statt, i)
Sogar ein Vorläufer von Leopold Schenk stellte
sich ein. Im September 1776 brachte die „Morning Post“
eine lange Anzeige eines Piemontesen, Namens Lattese,
worin er ankündigte, dass er „durch eine lange Eeihe von
Experimenten das wundervolle Geheimnis der Erzeugung
eines Knaben oder eines Mädchens je nach dem Wunsche
der Eltern entdeckt habe. Sollten sie ein Mädchen wünschen,
so kann der Erfolg nicht mit absoluter Sicherheit garantiert
werden, obgleich die Chancen sehr zu Gunsten eines
solchen Ereignisses sein werden; aber sollten ihre Wünsche
sich auf einen Sohn richten, so können sie sich fest
darauf verlassen, dass sie nach Anwendung einiger leichter
und natürlicher Mittel thatsächlich einen solchen bekommen
werden.“ Lattese war so von der Unfehlbarkeit seiner
Methode so fest überzeugt, dass er das Honorar erst nach
der — Entbindung beanspruchte.^)
Schäfer Ast, der bekanntlich die Krankheiten durch
blosses Betrachten der Haare (sic) erkennt und heilt, ist
bisher als origineller „Erfinder“ dieser absonderlichen
Idee betrachtet worden. Leider muss ich ihm diesen
Kuhm gar sehr schmälern. Denn ich finde bei Ar ch e n-
1) Archenholtz a. a. 0. S. 215. — Der sexuelle Mes¬
merismus wird auch in einer erotischen Schrift behandelt:
„The Power of Mesmerismen, a highly erotic narrative of
Voluptuons Facts and Fancies“ London 1880. Der „Held“
verführt durch Mesmerismus seine ganze Familie zu geschlecht¬
lichen Ausschweifungen und „mesmerisirt“ dann den Groom,
den Stubenburschen, den Prediger, zwei Nichten ii. s. w.
(Französische Übersetzung: „Le Magne'tiseur Libertin“)
2) H. Sampson a. a. 0. S. 396 — 397.
329
lioltz^) folgende Angabe aus dem Jahre 1795: ,,Ein
<iuacksalber liess im Juli in den Strassen von London
Handbillets austeilen, worin er sich anheischig machte,
durch die Sympathie Kranke beiderlei Geschlechts von
allen Zufällen zu befreien, wenn man ihm nur eine Haar¬
locke zusenden wollte.“
Eine Erwähnung verdient auch das grosse Überwiegen
des deutschen Elementes unter den Londoner
Kurpfuschern des 18. und 19. Jahrhunderts. Hüttner
bezeichnet von allen deutschen Abenteurern, die in London
ihr Glück versuchen, die medicinischen als die weitaus
schädlichsten. „Diese Marktschreier rühmen sich auf die
unverschämteste Art grosser Wunderkuren, die sie in
andern Ländern verrichtet haben und hier wiederholen
wollen. Der Eine macht Blinde sehend, der Andeie
wirkt selbst gegen die Natur durch die Wiederherstellung
ausgemergelter Siechlinge. ... Sie bezahlen gewissenlos
Menschen aus allen Ständen, um eidlich vor Gericht zu
erhärten, dass sie durch den alleinigen Gebrauch ihres
Universalmittels von Krankheiten sind geheilt worden,
die sie nie hatten „German Doctor“ und
Quacksalber waren im 18. Jahrhundert gleichbedeutende
Begriffe. Böttiger nimmt als Ursache des grossen
Erfolges der deutschen Kurpfuscher ihre gewöhnlich sehr
grosse Unkenntniss der englischen Sprache an. „Es ist
wörtlich wahr, dass beim hiesigen Pöbel das Ansehen
des fremden Arztes in dem Maasse wächst, als er das
Englische mordet, verstümmelt und amalgamirt. Denn
je dunkler und unverständlicher, desto gelehrter!“^)
Archen holtz „Annalen“ Tübingen 1798 Bd. XVI
S. 127.
Hüttner a. a. 0. S. 247; S. 218.
3) Böttiger a. a. ü. Bd. HI S. 21; S. 22.
330
Ein solcher deutscher Charlatan war der berüchtigte
van Butscheil, eins der grössten Originale des 18.
Jahrhunderts. Er hatte an seinem Hause eine wunder¬
same Inschrift^) anbringen lassen und paradierte täglich
in allen Zeitungen mit seinen noch seltsameren Annoncen.
Als seine Frau starb, liess er sie einhalsamieren und lud
seine Patienten zur Besichtigung der Leiche ein. In
einer der Annoncen heisst es frech: „Kommt von
10 bis 1 Uhr. Denn ich gehe zu Niemandem Auch
pries er den Frauen, welche hübsche Kinder wünschen, ein
unfehlbares Mittel an. „Bin ich nicht,“ sagt er, „der
erste Heiler von bösen Fisteln, ich der Mann mit dem
schönen Bart wie Hippokrates? Jedes Haar von dem¬
selben verkaufe ich den Schönen, welche hübsche Kinder
wünschen. Ich kann es ihnen erzählen, wie sie es machen.
Es ist ein Geheimnis. Einige (nämlich Haare) sind ganz
braun, andere silberweiss, ein halbes Quarter voll, lang
wachsend bei Tag und bei Nacht, nur — 15 Monate!“
In diesem Mixtumcompositum des elendesten Englisch
0 Sie lautete :
By
His Majesty’s
Royal
Letters Patent
Martin
Van BiitchelPs
New Inyented
Spring Bands
And Fastenin gs
For
The Apparel
Of
Human Beings
And
Brüte Creatures.
Dazwischen waren Verse und Kurmethoden eingestreut.
Vergl. Sampson a. a. 0. S. 399.
331
und der sinnlosesten Sätze geht es weiter. Auch verfertigte
dieses Original „magnetische Kniebänder“, wofür er 50
Guineen verlangte und bekam. Er hatte natürlich grossen
Zulauf. Viele besuchten aber sein Haus nur, um ihn zu
sehen und sein Kauderwelsch zu hören. Mit seinen
Geheimmitteln hatte er solchen Erfolg, dass der Staat
sich veranlasst sah, im Jahre 1783 eine Steuer auf „patent
medicines‘‘ zu legen, die seitdem bestehen] blieb und
viel Geld eingebracht hat.^)
Unter den Kurpfuschern in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts verdient vor allem St. John Long
eine Erwähnung, der von Hause aus ein Maler war, dann
aber mit seltenem Geschick sich auf die Kurpfuscherei
warf und um 1830 in Harley Street in London einen
ungeheuren Zulauf, namentlich von Weibern, hatte. Seine
beiden Hauptmittel waren ein Liniment, das er selbst
einrieb, und eine Mixtur, deren Dämpfe die Patientinnen
durch eine grosse Inhalationsröhre einatmen mussten.
Da sah man junge und alte Damen dicht gedrängt in
seinem Wartezimmer vor zwei enormen Inhalatoren, die
nach allen Richtungen Inhalationsröhren ausschickten, aus
welchen die Damen mit Begierde die „kräftigen“ Dämpfe
einatmeten. Im Nebenzimmer empfing der grosse Magier
andere Patientinnen. Einigen empfahl er das Verbleiben
bei den Inhalatoren, andere entkleidete er eigenhändig
und rieb ihnen sein wunderbares Liniment entweder auf
Rücken und Gesäss, oder auf Schultern und Busen ein !
St. John Long war ein schöner Mann, verkehrte in der
9 Vergl. S a m p s o n a. a. 0. S. 399 — 400; Hüttner
a. a. 0. S. 219.
332
vornehmsten Gesellschaft und wurde besonders von dem
weiblichen Teile derselben verhätschelt. Er behandelte
seine weibliche Klientel „very unscrupulously“, kam
wegen mehrerer von ihm verschuldeter Todesfälle vor
Gericht, wusste aber bis zu seinem frühzeitigen Tode sein
Ansehen zu behaupten. Von seinen weiblichen Verehrern
wurde ihm in Kensal Green ein Denkmal gesetzt. i)
Grossen Eufes in der Behandlung venerischer Krank¬
heiten erfreuten sich am Anfänge des 19. Jahrhunderts
die beiden Charlatane Douglas und Matthews. Ersterer
liess z. B. folgende Annonce in den vornehmsten Londoner
Zeitungen abdrucken:^)
,, Menschen jeden Ranges bezeugen dem Altar der
Ehe ihre Verehrung; um so mehr ist es unumgänglich
nötig, dass diejenigen, deren Constitution durch die
geheime Krankheit gelitten hat, eine Erneuerung ihres
Körpers vornehmen; denn nichts ist mehr dazu geeignet,
Hymens Glückseligkeit- zu zerstören, als Krankheiten, die
Folgen uiibed achtsamer Vergnügungen sind. Diese Be¬
trachtungen haben den Doktor Douglas vermocht, da er
noch Student auf einer der vornehmsten Universitäten der
Welt war, seine ganze Aufmerksamkeit auf Lustkrankheiten
und ihre Folgen zu richten“.
Matthews behandelte in 40 Jahren 90000 venerische
Kranke, was den Verfasser des „Tableau descriptif de
Londres“ zu einer interessanten Berechnung seiner Ein¬
nahmen veranlasst.^)
9 J. C. Jeaffreson a. a. 0. S. 225—236; Mühry a. a.
0. S. 149.
2) Archenholz „Annalen“ Bd. XIX S. 191.
3) „Tableau descriptif, moral, philosophique et critique
de Londres en 1816“. Paris 1817 Bd. I. S 135.
333
In Cornwall herrscht der Glaube, dass der siebente
Sohn eines siebenten Sohnes ein besonders glücklicher
Arzt sei. Dies erwähnt z. B. schon der berüchtigte
Lebemann der Restaurationszeit, der Earl of Ro ehester
in einer Rede „The Quack Doctor’s Speech“, welche er
als Charlatan verkleidet auf einer Bühne hielt. Diesen
Aberglauben machten sich auch zwei Charlatane Dr.
B enj amin Thornhill und Dr. B o s sy zu Nutze, indem
sie als solche siebenten Söhne des siebenten Sohnes auf¬
traten. Bossy hielt vor versammeltem Volke in Covent-
garden von einer eigenen Plattform aus, auf welcher die
Patienten auf Stühlen sassen, bombastische Reden in
„englisch-deutschem Dialekt“ und ergötzliche Zwiegespräche
mit den Patienten unter dem Gelächter der Gaffer.^)
Zwei andere Kurpfuscher jener Zeit waren Katter-
felto, der sogar noch ein warmes und beredtes Gedicht
auf das „Segen spendende“ himmlische Bett von Graham
verfasste, sowie Morison, dessen „Pillen“ noch heute
vom Volke als üniversalmittel gebraucht werden. ,, Morison
hat ein Programm zu zeigen, worin er eine Skizze seiner
Biographie giebt, und auch erwähnt, dass er in Deutschland
studirt habe und zwar in Hanau; nach fünf und dreissig
Jahren körperlichen und Seelenleidens habe er die glück¬
liche Entdeckung gemacht, nachdem die ganze Facultät
ihn nicht hätte heilen können. Seine Abbildung befindet
sich auch dabei, wo er zu seiner Kleidung gewählt hat
einen Pelzrock, einen Schnurrbart und einen weissen Hut“.^)
Sampson a. a. 0. S. 377.
2) „Döings in London“ S. 173.
Mühry a. a. 0. S. 150.
334
Eine höchst ergötzliche Schilderung von der Keclame
der Kurpfuscher in London um 1830 giebt Adrian, der
seine Erlebnisse darüber auf einer Wanderung durch den
Strand und Fleet Street erzählt.
Auch die englischen Kurpfuscher der Gegenwart
machen immer noch glänzende Geschäfte. Gewöhnlich
besitzen sie eine „Office“ an einer der Hauptverkehrs¬
strassen (Fleet Street, Oxford Street etc.), in deren Fenstern
sie meist eine höchst sonderbare Ausstellung verschiedener
auf ihre Kunst sich beziehender Gegenstände veranstalten
(Grosse Medicinflaschen mit hochtönenden Inschriften,
Nachbildungen von Körperteilen, sehr häufig Schädel mit
GalFs phrenologischem Schema bemalt, Electrisir- und
Magnetisirmaschinen u. s. w.) Jedem Besucher Londons
werden diese Läden der Charlatane sofort ins Auge fallen.
Eine Spielart des Kurpfuschertums stellen die Wahr¬
sager und Wahrsagerinnen (Fortune-tellers) dar,
die, wie Kyan bemerkt, für die Verbreitung des Lasters,
der Verführung zur Unzucht und zum Ehebruch ganz
besonders in Betracht kommen. Der Verfasser der
„Müssiggänger in London“ hat ihr Treiben sehr
anschaulich geschildert. Die Wollstonecraft^) eifert
besonders gegen die schönen männlichen Wahrsager:
„Hier in London giebt es eine Menge Blutegel, die im
Verborgenen lauern und sich von dem schändiichen
Gewerbe nähren, durch das Nativitätstellen leicht¬
gläubige Weiber zu hintergehen. . . Ich lebte einst in
der Nachbarschaft eines solchen Mannes, der zugleich ein
1) Adrian „Skizzen aus England“ Frankfurt a. M. 1830
Bd. I S. 36—39.
‘^) Ryan a. a. 0. S. 108.
0 „Müssiggänger in London.“ Bd. II S. 65 — 79.
4) M. W ollstonecraft a. a. 0. Bd. II S. 335; S. 337.
335
schöner Mann war und sah mit Erstaunen und Unwillen
Weiber, deren ganzer Aufzug und Gefolge einen Rang
ankündigte, schaarenweise seinem Hause zueilen.“ Unter
den weiblichen Wahrsagerinnen des 18. Jahrhunders war
Mrs. Williams am Bedford Square besonders berühmt,
ferner die „Zauberin von St. Giles.“^)
Noch heute erfreuen sich geheimnisvoll thuende
Wesen dieser Art eines grossen Zulaufes. So erzählt der
„Daily Telegraph“ in der Nummer vom 10. Juli 1900
recht interessante Dinge von der Wahrsagerin Zuleika,
die als Beratherin der vornehmen Londoner Damenwelt
in Liebes- und anderen galanten Angelegenheiten anno 1900
einen bedeutenden Ruf hatte und vielleicht noch jetzt hat.
1) Archen lioltz „Annalen“ Bd. III S. 215.
Sechstes Kapitel.
Die Flagellomanie.
In der Einleitung zum ersten Bande dieses Werkes
(S. 28) habe ich die Flagellomanie d. h. die Sucht
zu prügeln und zu geissein und die Vorliebe für den
Gebrauch der Rute als ein den Engländern eigentümliches
Laster bezeichnet, und diese unter allen Ständen und
Lebensaltern verbreitete Leidenschaft das interessanteste
Kapitel in der Geschichte des englischen Sexuallebens
genannt. In sehr naiver Weise haben Kritiker mich
zu verbessern geglaubt, indem sie darauf hinwiesen, dass
auch bei anderen Völkern das Prügeln als Strafmittel
und die Rute als sexuelles Stimulans eine Rolle gespielt
habe und noch spiele.
Diese Thatsache war mir sehr wohl bekannt und
kann in Wahrheit Niemandem entgehen, der sich auch
nur ganz oberflächlich mit dem Studium der Geschichte
des erotischen Flagellantismus beschäftigt. Ich wusste
ganz genau, dass der Mensch im allgemeinen, ganz
abgesehen von Rasse und Nationalität, von Kultur und
Civilisation, von jeher eine grosse Neigung für die Miss¬
handlung seines Mitmenschen durch Prügeln mit ver¬
schiedenen Instrumenten bekundet hat, wobei auch häufig
sexuelle Motive mit im Spiele gewesen sein mögen.
337
Schopenhauer hält sogar die Sucht zu prügeln für
eine spezifische Eigenschaft des Menschen, was ich aller¬
dings nicht mit unterschreiben möchte. Er sagt: „Sogar
aber lehrt ein unbefangener Blick auf die Natur des
Menschen, dass diesem das Prügeln so natürlich ist, wie
den reissenden Tieren das Beissen und dem Hornvieh
das Stossen : er ist eben ein prügelndes Tier. Daher auch
werden wir empört, wenn wir in seltenen Fällen ver¬
nehmen, dass ein Mensch den andern gebissen habe;
hingegen ist, dass er Schläge gebe und empfange, ein
so natürliches wie leicht eintretendes Ereignis . . . Bei
allen Vergehungen, mit Ausnahme der schwersten, sind
Prügel die dem Menschen zuerst einfallende, daher die
natürliche Bestrafung“.^)
Es ist gewiss richtig, dass das Prügeln, Geissein und
Peitschen als Strafmittel seit alten Zeiten auf der ganzen
Erde verbreitet gewesen ist, sowohl unter civilisirten als
auch unter wilden Völkern und Stämmen, ebenso wenig
ist zu bezweifeln, dass dieses Strafmittel häufig zugleich
als ein Aphrodisiacum gewirkt hat oder von dem die Strafe
Erteilenden aus sexuellen Motiven angewendet wurde.
Die Beziehungen der aktiven oder passiven Flagellation
zum Geschlechtstriebe sind sicherlich immer und überall
bekannt gewesen.
Nichtsdestoweniger erhalte ich meine Behaupcang,
dass England das klassische Land der
Flagellomanie gewesen ist und zum Teil
noch ist, vollkommen aufrecht. Denn diese Behauptung
gründet sich auf thatsächliche Verhältnisse.
L Arthur Schopenhauer „Aphorismeu zur Lebens¬
weisheit“ in: Parerga und Paralipomena herausge^eben von
Eduard Grisebach, Leipzig (Reclam) Bd. I S. 430 — 431.
22
338
In keinem Lande ist die Leidenschaft, für die Ente
so systematisch gepflegt und ausgebildet worden, wie in
England, in keinem Lande ist die gesamte Litteratur
seit dem 17. Jahrhundert, die poetische und die prosaische,
die anständige und die pornographische, so sehr erfüllt
von diesem Thema wie hier. Gleichfalls haben nirgends
sonst Bühne und Tageszeitungen dasselbe in solcher
Öffentlichkeit behandelt, was bei der sonstigen englischen
Prüderie in sexuellen Fragen doppelt auffällig ist. Endlich
dürfte ein anderes Volk kaum so zahlreiche Künstler
aufweisen, die ihr Talent diesem eigenartigen Sujet ge¬
widmet haben, wie dies in England der Fall ist.
Die bei weitem grössere Verbreitung der Flagellomanie
in England geht auch mit Sicherheit aus dem Umstande
hervor, dass in den übrigen westeuropäischen Ländern
diese Leidenschaft fast stets unter dem Deckmantel der
Eeligion auftrat und wesentlich auf das religiöse Gebiet
beschränkt blieb, während ihr rein weltlicher Charakter
in England einer grösseren Verbreitung bedeutenden
Vorschub leisten musste und thatsächlich geleistet hat.
Schon Frusta sagt: „In England, dem klassischen
Lande der Freiheit, war das Peitschen, Geissein und
Prügeln von Alters her sehr im Schwange und ist es
zur Stunde noch, trotzdem dass es hier keine Jesuiten
giebt. Die Hauserziehung wird mit ungemeiner Strenge
getrieben und die Flagellation bei beiden Geschlechtern
angewendet. Am längsten dauert sie bei dem männlichen
Geschlechte. In den grossen Kollegien standen vor noch
nicht langer Zeit selbst 18 bis 21jährige junge Leute
noch unter der Eute.^Ö
Giovanni Frusta „Der Flagellantisinus und die
Jesuitenbeichte“ Stuttgart 1846 S. 254.
339
Und mein 1900 verstorbener Freund Pisanus Fraxi,
selbst ein Engländer und der grösste Kenner des
menschlichen Geschlechtslebens und seiner Verirrungen
uuf der ganzen Erde und bei allen Völkern, der sich
diese Kenntnis durch weitausgedehnte, langjährige Eeisen
in allen Erdteilen erworben hat (vergleiche meine Würdigung
des Lebens und der Werke dieses berühmten Gelehrten
im dritten Bande dieses Werkes, Kapitel 11) hat meine
Behauptung, dass den Engländern dieses' Laster eigen¬
tümlich sei, durchaus gebilligt. Auch bemerkt er
selbst in der Einleitung seines „Jndex librorum prohibi-
torum“: „Die Neigung, welche die Engländer am meisten
kultivieren, ist unzweifelhaft diejenige zur Flagellation.
Natürlich kann nicht geleugnet werden, dass die Kute in allen
katholischen Ländern von den Priestern als ein Instrument
zur Befriedigung der eigenen Lüsternheit gebraucht worden
ist. Auch ist der Gegenstand sehr ernsthaft und wissenschaft¬
lich von einem holländischen Arzte (Meibom) behandelt
worden. Und doch hat diesesLaster sicher¬
lich in England tiefer Wurzeln geschlagen
als irgendwo anders, und nur hier, meine ich,
giebt es Männer, die mehr Vergnügen darin finden die
Kute zu empfangen als sie selbst zu geben. Dies ist eine
Thatsache und würde die Discretion es nicht verbieten,
■so würde es leicht sein, Männer in den höchsten Stellungen
in der Diplomatie, Litteratur, der Armee u. s. w. namhaft
zu machen, welche gegenwärtig dieser Idiosynkrasie huldigen,
und es wäre ebenso leicht, die Orte anzugeben, die sie
m diesem Zwecke besuchen. — Unzählige Bücher
in englischer Sprache sind diesem Gegenstände ganz allein
gewidmet ; kein englisches Eroticum ist frei von
iSchilderungen der Flagellation und zahlreiche separate
22*
340
Bilder stellen Flagellationsscenen dar. Die Rute hat
Mann und Weib getrennt, ihre Anhänger haben die vor¬
nehmsten Töchterschulen ihren Gelüsten dienstbar gemacht,
und in früherer Zeit sprach man auf der Bühne ohne
jede Zurückhaltung davon.
Als stringentester Beweis aber für die Prävalenz
Englands in Beziehung auf die Flagellomanie kann die
Thatsache gelten, dass die neuere und neueste flagellan-
tistische Litteratur in Deutschland und Frankreich sich,
zum weitaus grössten Teile aus Übersetzungen
oder Nachbildungen englischer Originalien,
zusammensetzt. Weder die Franzosen noch die-
Deutschen haben eben jemals in ihrem Geschlechtsleben
diese Neigung so sehr bekundet, dass sie einen Niederschlag
von dem Umfange in der erotischen und nichterotischen
Litteratur gefunden hätte, wie dies bei den Engländern
der Fall ist. Es handelte sich bei jenen Völkern immer
nur um einzelne Lebemänner und impotente Individuen,,
welche zum Gebrauch der Rute als Aphrodisiacum griffen,,
während in England von jeher eine wahre Leidenschaft
für die Rute geherrscht hat, die viel allgemeiner verbreitet
war als in anderen Ländern. „Alle zarten Rücksichten
moderner Humanität,“ sagt T a i n e, „waren nicht im.
Stande, bei dieser Nation die Faustkämpfe und den Ge¬
brauch der Rute zu verdrängen.“^)
1) Pisaiius Fraxi ,.Jndex librorum prohibitorum :
being notes bio-biblio-iconographical and critical on curious and
uncommon books“ London 1877 S. XL — XLI.
2) H. T a i n e „Geschichte der englischen Litteratur“,,
Deutsch von L. Kätscher, Leipzig 1878 ßd. I S. 43. Auch
Eulenburg nennt England das „gelobte Land, die Hochburg
des Flagellantismus“ (Eulenburg „Sadismus und Masochis¬
mus“ Wiesbaden 1902 S. 60.)
341
Dass es das specifiscli englische d. h. das angel-
'sächsische und nicht das keltische bezw. normannische
Element ist, welches mit dieser Neigung behaftet ist,
beweist die Thatsache, dass die alten Angelsachsen
den Gebrauch der Kute in England einführten und sowohl
angelsächsische Männer als auch Frauen mit einer wahren
Leidenschaft dieselbe anwendeten, die den Kulturhistorikern
von jeher aufgefallen istG- Auch Hector France
nennt den Gebrauch der Rute eine „Institution ancienne
■et vraiment nationale“ und einen „usage tont saxon“,
der durch die geheiligte Tradition, vor allem aber durch
Beispiel und Nachahmung von einer Generation auf die
andere vererbt worden sei.^)
Die Verbreitung der Flagellomanie unter allen Ständen
und Lebensaltern der englischen Gesellschaft ist ein
weiterer Beweis dafür, dass es sich um eine specifische
^nationale Eigentümlichkeit und nicht etwa um eine auf
bestimmte Kreise von Lebemännern u. dergl. beschränkte
Leidenschaft handelt. Der Verfasser der Vorrede zu einer
der bekanntesten englischen flagellantistischen Schriften
bemerkt: ,, Viele Leute, die nicht genügend mit der
menschlichen Natur vertraut sind, glauben, dass die
Leidenschaft für die Flagellation entweder auf Greise
•oder auf die durch zu viele sexuelle Ausschweifungen
Erschöpften beschränkt sein müsse. Aber das ist nicht
der Fall. Denn es giebt ebenso viele Jünglinge und
Männer in der Vollkraft des Lebens, welche von dieser
Leidenschaft ergriffen werden, als alte und geschwächte
derselben huldigen“. Der Verfasser führt dann Generäle,
' 1) T h 0 m a s Wriglit „Domestic manners in England
•during the midie ages“ London 1862 S. 56.
H. France „Les Nuits de Londres“ Paris 1900 S. 229.
342
Admiräle, Obersten, Kapitäne, Bischöfe, Kicliter, Advokaten,.
Lords, Mitglieder des Unterhauses und Ärzte als Lieb¬
haber der Rute an.^) Ebendasselbe lässt sich von dem
weiblichen Geschlechte sagen, bei dem der Gebrauch der
Rute sich nicht bloss auf die niederen Stände beschränkt,
sondern bis in die höchsten Kreise hinein verbreitet ist,
wie aus der späteren Darstellung sich ergeben wird.O
Taine scheint geneigt zu sein, die allgemeinste
Ursache der Rutenleidenschaft der angelsächsischen Rass&
in ihrer Lebensweise zu erblicken, vor allem in dem auch
von mir im vorigen Kapitel ausführlich gewürdigten
übermässigen Fleisch- und Alkoholgenusse, der den Ge¬
brauch solcher scharfen Stimulantien, wie es die Flagellation
ist, mindestens begünstigt. Nach dem Trinken und dem
Genüsse unglaublicher Mengen Fleisches sättigt sich das
„plumpe menschliche Vieh vollends mit Lärm und
Sinnenreiz‘^^)
Mir erscheint der übermässige Gebrauch der Rut&
in England wesentlich als ein Ausfluss der Brutalität,
die ich in der Einleitung zu Bd. 1. als einen wesentlichen
Zug des englischen Nationalcharakters ausführlich ge¬
schildert habe. Insofern nun die Brutalität in einem
gewissen Zusammenhänge mit der Lebensweise steht, hat
natürlich auch letztere eine ursächliche Bedeutung für
die Flagellomanie.
Neben der Brutalität spielt aber ein anderes Moment
eine Hauptrolle in der Geschichte des englischen Flagellantis-
„Venus School Mistress or Birchen Sport».
Reprinted from the edition of 1788, with a Preface by Mary
Wilson, containing some account of the late Mrs. B e r k 1 e y
Paris, Societe des Bibliophiles etc. 1898 S. VIII. (Neudruck).
2) Vergl. auch H. France a. a. 0. S. 229.
3) Taine a. a. 0. S. 43 — 44.
343 —
mus. Das ist das geschlechtliche. Um dieses zu
verstehen, muss man sich die allgemeinen Beziehungen
der Flagellation zur Sexualität vergegenwärtigen.
Die wissenschaftliche Erkenntnis dieser Beziehungen
ist verhältnismäsig neueren Datums. Der erste Arzt,
welcher sich mit der Frage des erotischen Flagellantismus
litterarisch beschäftigt hat, war Johann Heinrich
Meibom der Ältere, Professor der Medizin in Helmstädt.
Die Idee zu seiner Schrift entsprang aus einer
Tischunterhaltung bei einem vornehmen Lübecker Patrizier,
hei welcher auch die Frage auf den medicinischen Wert
der Flagellation kam, welcher von einigen Anwesenden
bestritten wurde. Meibom dagegen trat für die An¬
wendung der Flagellation zu medicinischen Zwecken ein
und schrieb zur weiteren Erläuterung seiner Ansichten im
Jahre 1629 seine berühmte Abhandlung über den „Nutzen
des Geissein in medicinischer und sexueller Beziehung‘‘.^)
Dieselbe hat das bezeichnende Motto:
Delicias pariunt Veneri crudelia flagra;
Dum nocet, illa juvat; dum juvat, ecce nocet.
Erberief sich darin auf Aristoteles, Galen, Caelius
Aurelianus, Rhazes, Avicenna, Petron, Ovid^
Tibull, Apulejus, Menghus Faventinus, Pico
dellaMirandula, CoeliusRhodiginus u. A. als
Vorläufer seiner Theorie und erklärt das Geissein für
eines der mächtigsten und sichersten Aphrodisiaca.
Im Jahre 1669 veranstaltete der dänische Arzt
Thomas Bartholinus eine neue, vortreffliche Ausgabe
der Schrift des älteren Meibom, die er mit einem Briefe
1) J. H. Meibom ins „Tractatus de usu flagrorum in re
medica et Yenerea‘‘ Leyden 1629 — 2. Ausgabe, Lübeck, 1639 12®,
48 S. — Leyden (Elzevir) 1643, 4® — London 1655, 32® (nach¬
gedruckt in Paris 1757) — Kopenhagen 1669, 8® — .
344 —
an den jüngeren Meibom begleitete, welcher neue
interessante Mitteilungen über das Thema, besonders
über die Flagellation in Eussland enthält, und durch einen
ebenfalls dasselbe Thema behandelnden Brief des jüngeren
Meibom ergänzt wird.i)
Dieses Buch wurde später von Mercier de Compiegne
ins Französische übersetzt und mit neuen Anmerkungen
und Zusätzen versehen.^) Bereits vorher war eine
englische Übersetzung erschienen, an die noch andere
Abhandlungen über sexuelle Fragen angeschlossen wurden.
Der zweite berühmte Autor über den Flagellantismus
nach Meibom, zugleich der erste Geschichtsschreiber
desselben, war der Abbe Boileau, der Bruder des be¬
rühmten Dichters. Sein Werk“^), das im Jahre 1700
zuerst Lateinisch erschien, dann bald ins Französische
übersetzt wurde ^), behandelte in 10 Kapiteln die religiöse
0 „De usii flagrorum in re medica et venerea, lumborum-
que et renum officio, Tliomae Bartholini, Joaiinis Hen-
rici Meibomi filii etc.'‘ Kopenhagen 1669, 8^ — Frankfurt
1670 §0, 144 S.
‘0 Mercier de Compiegne „De l’utilite de la flagel-
lation dans les plaisirs du mariage et dans la me'decine“ Paris
1792; 1795; 1800, 12^, 156 S. ; Besan^on 1801. 8^. 100 S
„A Treatise of the use of flogging at venereal affairs. . .
by Henry M e i b o in i u s , to which is added a Treatise of
Hermaphrodites etc. ; a Treatise of Flogging etc.“ London 1718,
12°, 68, 6 und 88 S. mit einem Bilde, welches einen Mann
darstellt, der eine Frau geisselt, während eine andere zuscbaut.
Deutsche Übersetzung „Von der Nützlichkeit der Geisselhiebe
in medizinischer und physischer Beziehung u, s. w.“ io; Der
Schatzgräber u. s. w. von J. Scheible, Stuttgart 1847 Bd. IV,
S. 245—363.
Ü Boileau „Historia Flagellantium, de recto et ^^erverso
flagrorum usu apud christianos“ Paris 1700.
Die beste Übersetzung ist die des Abbe Grauet:
„Histoire des Flagellans, oü Fon fait voir le bon et le mauvais
usage des Flagellations parmi les chretiens, par des preuves
tirees de l’Ecriture sainte, etc,, trad. du latin de M. l’abbe
Boileau, docteur de Sorbonne“ Amsterdam 1732, 12®
345
Flagellation von den ältesten Zeiten bis zum Ende des
17. Jahrhunderts in polemischer Weise, indem der Verfasser
überall die weltliche und sexuelle Seite der „Disciplin“
hervorhebt. Auch betont bereits Boileau nachdrücklich
die Gefahren der Verbreitung des Geisseins durch psychische
Ansteckung und enthüllt schonungslos das verderbliche
Gebahren gewisser religiöser Sekten und Orden in dieser
Beziehung. Kein Wunder, dass das Bnch von seiten der
letzteren, namentlich der Jesuiten die heftigsten Angriffe
erfuhr. Diesen Leuten antwortete der Dichter Boileau,
die Partei seines Bruders ergreifend, mit folgenden Versen:
Non, le livre des Flagellans
N’a jamais condamne', lisez ]e bien mes Peres,
Ces rigidite's salntaires
Que pour ravir le Ciel, saintement vlolens,
Exercent siir leurs corps tant de Cliretiens austeres.
II blame seulement cet abus odieux
D’etaler et d’offrir aux yeux
Ce qne leur doit toujours cacher la bienseance,
Et combat xivement la fansse pie'te,
Qni, SOUS couleur d’eteindre en nous la volupte',
Par fausterite meme et par la penitence
Sait allumer le feu de la liibricite'.
Boileau’s Werk ist von dem Engländer J. L.
Delolme, der ein Exemplar desselben in Italien kaufte,
einer gründlichen Umarbeitung unterzogen und mit einem
interessanten Kommentar versehen worden. Das Ganze
erschien 1777 in englischer Sprache.^) Es ist ein
schätzbares Werk.
b Fergl. z B. J. B. Thiers „Critique de Phistoire des
Flagellans et justification de Pusage des disciplines volontaires“.
Paris 1703.
„The History of the Flagellants, or the Advantages of
Discipline ; Being a Paraphrase and Commentary on the „Historia
346
Im Jahre 1720 veröffentlichte Martin Schurig
ein recht bemerkenswertes Kapitel über den erotischen
Flagellantismus in seiner grossen „Spermatologia historico-
medica“.^) Er erwähnt in einem besonderen Abschnitt
auch eine besondere Spezialität der Flagellation, die
sogenannte „Urtication“ (s. darüber unten).
Vom ärztlichen Standpunkte hat der Genfer Arzt
Fran9ois Amedee Doppet die Bedeutung der Flagel¬
lation als Aphrodisiacum untersucht und darüber eine
kleine, aber inhaltreiche Schrift veröffentlicht.^)
Das 1825 erschienene treffliche Werk von Lan-
juinais behandelt die Flagellation als Strafmittel, bietet
aber auch mannigfache Beziehungen zur geschlechtlichen
Flagellation dar.^)
Flagellantiuin“ of the Abbe Boileau, Doctor of the Sorbonne
etc. By One who is not Doctor of the Sorbonne (J. L. D e -
lolme), London 1777, gr. 8^. Neuausgabe unter dem Titel
„Memorials of Human Superstition etc.“ London 1784.
Martin Schurig „Spermatologia Historico-Medica“
Frankfurt a. M. 1720 S. 253 — 258.
„Traite du fouet, et de ses effets sur le physique
de l’amour, ou Aphro disiaqu e externe. Ouvrage medico-
philosophique, suivi d’une dissertation sur les moyens d’exciter
aux plaisirs de l’amour^ parD*** (F. A. Doppet), me'decin“,
(Paris) 1788, 12®, XVIII, 108 S. — Deutsche Übersetzung; „Das
Geissein und seine Einwirkung auf den Geschlechtstrieb oder
das äusserliclie Aphrodisiacum, eine medicinisch-philosophische
Abhandlung, nebst einem Anhang über die Mittel, welche den
Zeugungstrieb aufregen. Von D***“ in: Der Schatzgräber
in den litterarischen und bildlichen Seltenheiten u. s. w. von
J. Scheible, Stuttgart 1847, Theil IV S. 367 — 424.
3) J. D. Lanjuinais „La bastonnade et la Flagellation
pe'nales, conside'rees chez les peuples anciens et chez les
modernes“. Paris 1825.
347
Ein höchst wertvolles, mit echt deutscher Gründlich¬
keit verfasstes Buch ist Ernst Günther Förstemanns
(Gymnasiallehrers in Nordhausen) Monographie über dio
christlichen Geisslergesellschaften des Mittelalters aus dem;
Jahre 1828.1)
Auch Giovanni Frusta’s 1834 zuerst erschienene
Schrift „Der Flagellantismus und die Jesuitenbeichte‘^
beleuchtet die geschlechtlichen Missbrauche im religiösen
Flagellantismus auf grelle Weise, enthält aber aucb
sonst zahlreiche interessante Details und originelle An¬
schauungen.“)
Erwähnung verdienen die in den 40iger Jahren er¬
schienenen Schriften von Mailet^), Corvin^) und der
Artikel „Rute“ in dem Wörterbuche ,,Eros“.
Die gewiss wertvollste Schrift über den Flagellantismus
ist niemals veröffentlicht worden, existirt vielleicht aber
noch im (unbeendigten) Manuscript. Es dürfte nur
wenigen bekannt sein, dass der gelehrte Diplomat Karl
Freiherr von Martens (1790 — 1862; vergl. über
ihn Brockhaus’ Konversationslexikon, 14. Aufl. Bd. XL
S. 635) ein grossartiges Werk über die Flagellation
lange Jahre vorbereitete, aber nicht vollenden konnte, da
er durch den Tod daran gehindert wurde. Der Bibliograph
Graesse berichtet darüber in seinem „Tresor de livres
rares“: „Es ist schade, dass das seltsame Werk über die
0 E. G. Förste mann. „Die christlichen Geisslerge-
sellscliaften“ Halle 1828.
2) G. Frust a „Der Flagellantismiis und die Jesuiten¬
beichte“ Stuttgart 1834. 8^, VIII, 315 S. — Neue Ausgabe 1846^
3) Felix Mailet „Les Flagellants“ Montauban 1843-.
4) Corvin „Die Geissler“. Leipzig 1847.
G „Eros“ Stuttgart 1849 ßd. II.
348
Kasteiungen und Strafen der Mönche und Nonnen, welches
der Baron Karl von Martens unternommen hat, wobei
er von der Ansicht ausging, dass alle diese Massnahmen
nur zum Zwecke der Befriedigung der ge¬
schlechtlichen Begierden erfunden und aus ge¬
führt worden seien, nicht beendigt worden ist. Als
Grundlage für seine Untersuchungen über diesen Gegen¬
stand hatte er eine beinahe vollständige Sammlung von
Geissei- und Strafinstrumenten jeder Art zusammengehracht,
welche nach seinem Tode zu Dresden öffentlich versteigert
wurde.“
Als ein nur teilweiser Ersatz dieses gross angelegten
Werkes kann das englische Werk über die Geschichte der
Rute von James G. Bertram betrachtet werden, der
dasselbe zuerst 1870 unter dem Pseudonym ,,Rev. Wm.
Cooper“ veröffentlichte.^) Trotz des Mangels der ge¬
naueren Quellenangaben bietet dieses neuerdings auch ins
Deutsche Q übersetzte Buch noch immer die beste Über¬
sicht über die verschiedenen Anwendungsarten der Rute
und eine relativ vollständige Sammlung des in den früher ‘
genannten Werken zerstreuten Materiales.
Dagegen kann die schöne Abhandlung über Flagel¬
lation von Pisanus Fraxi (1879) als ein muster¬
gültiges Specimen bibliographischer und litterargeschicht-
9 J. G. Th. Graes se „Tre'sor de livres rares et precieux“
Dresden 1863 Rd. IV S. 420.
9 „Flagellation and the Flagellants. A History of the Rod
in all countries from the earliest period to the present time.
By the Rey. Wm. Cooi:)er, B. A. With numeroiis illustra-
tions.“ Edinburg 1870 — 2. Auflage, London, J. C. Hotten,
1873, 8^ — 3. Aufl. London 1896.
9 „Der Flagellantismus und die Flagellanten. Eine Ge¬
schichte der Rute in allen Ländern“. Deutsch von Hans
Dohrn, Dresden 1899, 8^.
349
liclier Forschung bezeichnet werden, welches für weitere
Untersuchungen auf diesem Gebiete vorbildlich sein solltet)
Vielfach hat die neuere Litteratur über Flagellation
aus den letztgenannten Werken geschöpft, so Michal in
seiner „Geschichte des Stockes“, von Hurlbert ins
Englische übersetzt“), ferner JeandeVilliotin seinen
verschiedenen Elaboraten^), die aber immerhin manches
Neue bringen, ebenso wie die besonders die Flagellation
in der belletristischen Litteratur berücksichtigende Studie
von Ullo und das brauchbare Buch von Hansen.^)
Die letzten der Erwähnung werten Autoren über die
Flagellation sind A. Eulenburg;, der in seiner neuesten
Schrift diesem Gegenstände sehr interessante, besonders
in kritischer und litterargeschichtlicher Hinsicht beachtens¬
werte Ausführungen widmet ^), und J. Bloch, der eine
neue Theorie der Flagellation aufstellt, die er aus ihren
physiologischen Elementen ableitet (siehe unten).
9 P. Fraxi „Centuria librorimi absconditorum“ London
1879, S. 442—474.
„The story of the stick in all ages and lands. Translated
and adapted from the French of Antony Real (Fernand
Micha 1). A new edition with an introducting letter by
William Henry Hurlbert, and the illustrations by
Alfred Thompson, New York 1892, 8L
3) ,, Etüde sur la tlagellation aux points de Yiie me'dical
et historique“ Paris 1899 ; „La flagellation ä travers le monde“
Paris 1899 ^ „Curiosites et anecdotes sur la flagellation“ Paris
1900. „En Virginie“, Paris 1901 (mit Bibliogra2:)hie).
Ullo „Die Flagellomanie“ Dresden 1901; D. Hansen
„Stock und Peitsche. Ihre Anwendung und ihr Missbrauch im
modernen Straf- und Erziehungswesen“. 2. Aufl. Dresden 1902,
80, 213 S.
5) A. Eulenburg „Sadismus und Masochismus“ Wies¬
baden 1902 S. 57 — 68 (mit guter Bibliographie).
0) J. Bloch „Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis“ Dresden 1903 Teil II S. 75 — 97.
350
Tor der nähern Betrachtung der einzelnen Elemente
-und Beziehungen der sexuellen Flagellation und ihrer
Ausübung in England soll die Frage beantwortet werden,
ob das Geissein als Aphrodisiacum im Altertum bekannt
war. Zwei erfahrene Autoren der Gegenwart haben die
Frage im allgemeinen verneint.
P i s a n u s F r a x i sagt : „Es ist der Erwähnung
wert, dass den Alten die Flagellation als ein Aphro-
■ disiacum unbekannt gewesen zu sein scheint. Die Geissei
wurde zwar in Rom freigebig gegen Sklaven, Kinder und
gelegentlich sogar gegen Schauspieler in Anwendung
gebracht. Zweifellos empfanden auch einige der Aus-
peitscher, seien es Herren oder Eltern, gemäss der Bruta¬
lität oder Grausamkeit ihrer Natur, Vergnügen bei dem
Werke. Aber ich kenne keine einzige Stelle bei
griechischen oder römischen Schriftstellern, welche
vermuten Hesse, dass Flagellation als ein direktes
Erregungsmittel des Geschlechtstriebes benutzt wurde.
Die Schläge, welche von den Luperci bei dem Feste ihres
Gottes ausgeteilt wurden, waren Symbole der Reinigung
und Fruchtbarkeit, aber durchaus nicht auf Hervorrufung
einer geschlechtlichen Begierde berechnet.“
Auch Eulenbur g^) meint, dass sich bei den
Schriftstellern' des klassischen Altertums keine ganz
sicheren Spuren einer Bekanntschaft mit den aphrodi¬
sischen Eigenschaften der Flagellation nachweisen lassen.
Sogar der Missbrauch der Flagellatioii als Strafmittel sei
in jenen Zeiten nicht so sehr hervorgetreten, da die
0 P. Fraxi „Centuria librorum absconditorum“ S. 442
Anmerkung.
2) A. E u 1 e n b u r g „Sadismus und Masochismus“ S, 57
<bis 58; S. 63.
351
Geisselung eines Freien den niclitorientalisclien Nationen
widerstrebt, der Sklave aber als Sache gegolten habe.
Wenn auch zugegeben werden muss, dass die sexuelle
Flagellation, wie sie im christlichen Mittelalter und in
der Neuzeit in ständiger Verbindung mit religiösen
Gebräuchen (Geisselfahrten, „Disciplin“ der Mönche und
Nonnen u. a. m.) aufgetreten ist, dem Altertum so gut wie
unbekannt gewesen ist, so liegen doch unzweifelhafte
Zeugnisse dafür vor, dass die sexuell stimulierende
Wirkung des Geisseins den Alten sehr wohl bekannt
gewesen ist und wahrscheinlich ebenso häufig wie jetzt
von einzelnen Lebemännern absichtlich herbeigeführt
wurde. — Die 1766 erschienene Schrift über den ,, Ge¬
brauch der Alten, ihre Geliebte zu schlagen“ enthält nur
sehr wenig Beweiskräftiges für die Existenz der erotischen
Flagellation im Altertume. D o p p e t^) sagt: ,, Wollüstige
Eeibungen, hervorgebracht mittelst Rutenstreiche und
ähnlicher Mittel, kannten schon die Venuspriesterinnen
zu Babylon, Tyrus, Athen und Rom, nur waren sie viel¬
leicht weniger elegant als die Methoden, deren sich ihre
heutigen Berufsverwandtinnen in London, Paris, Neapel
und Venedig bedienen“, macht aber keine näheren
Quellenangaben.
Wenn man bedenkt — um zunächst auf die Ver¬
hältnisse bei den Griechen einzugehen — , dass bei
der sexuellen Flagellation (wenigstens der aktiven) die
kallipygischen Reize des gepeitschten Individuums eine
grosse Rolle spielen und sich nun daran erinnert, dass
die Griechen sogar eine Venus Kallipygos verehrten, der
zu Ehren die berüchtigten kallipygischen Spiele veranstaltet
D 0 p p e t „Das Geissein u. s. w.“ a. a. 0. S. 377.
352
wurden (s. darüber unten), bei welchen wollüstige Be¬
wegungen jenes Körperteiles den Hauptreiz für die Zu¬
schauer bildeten, so liegt die Vermutung nahe, dass auch
die Beziehungen der Flagellation zu diesen Dingen nicht
unbekannt gewesen sind. Für diese Kenntnis der erotischen
Flagellation bei den Hellenen spricht auch die vielsagende
Thatsache, dass gewisse Hetären Beinamen führten, die
auf ihren Ruf als Flagellantin hindeuten wie z. B. die
KafieTVJtrj (von Axtfiuo = schmieden und tvjt?] der Schlag),
von deren „lieblicher Hand“ geschlagen zu werden
Timokles als eine hohe Wonne preist.^) Auch die Er¬
zählung des Lucian über den Cyniker Peregrinus
Proteus, der sich vor versammeltem Volke der Mastur¬
bation hingiebt und sich dabei von den ümherstehenden
schlagen lässt^), sowie die unter Aufsicht von Priesterinnen
alljährlich stattfindende öffentliche Auspeitschung junger
Männer im Tempel zu Sparta^) weisen deutliche erotische
Nüancen auf.
Mit absoluter Sicherheit lässt sich aber die Existenz
der sexuellen Flagellation bei den alten Römern be¬
haupten. Josua Eiselein hat einige sehr wichtige
Belegstellen dafür in dem Commentar zu seiner deutschen
Übersetzung von Butler’s „Hudibras“ mitgeteilt.^) So
spricht bereits P 1 a u t u s nur allzudeutlich von der
„V i r g a r u m 1 a s c i v i a .“ Auch das uralte Fest der
1) Vergl. darüber J. Bloch „Beiträge zur Ätiologie der
Psychopathia sexualis.“
2) Delolme a. a. 0. S. 86.
3) ibidem S. 73 — 74.
4) ,,S a m ii e 1 B u 1 1 e r s Hudibras, ein schalkhaftes Helden¬
gedicht“ Verdeutscht und commentirt von Josua Eiselein,
Freiburg i. B. 1845 S. 102 u. S. 188.
353
Luperealien lasse sich schwerlich ohne die Voraussetzung
einer Kenntnis der aphrodisischen Wirkungen der Flagellation
erklären. Als die Frauen in Kom und Italien nur schwer
concipirten, verkündete Juno, die man um Kat und Bei¬
stand angerufen hatte:
Italidas matres, inquit, caper hirtus inito !
Zum Glücke war ein Augur dabei, der die Sache
cum grano salis verstand, einen Bock zu opfern, und mit
Riemen aus desen Fell die Hinterbacken der Weiber zu
peitschen befahl, welches sie fruchtbar machen würde.
Daraus entwickelte sich dann das Luperealienfest, welches
am 15. Februar jedes Jahres gefeiert wurde, bei welchem
die nackt umherlaufenden Weiber^) von den ebenfalls
nackten Luperci mit ziegenledernen Riemen geschlagen
wurden..
Die folgende von Eisei ein angeführte Stelle des
Dichters Ausonius ist ebenfalls recht bezeichnend für die
Neigung der Römer zur Flagellation:
Sit mihi talis amica, velim,
Jurgia ([uae temere incipiat,
Nec studeat quasi casta loqui;
Piilchra, procax, petulante manu,
V^erbeia quae ferat et regerat,
Caesaque ad oscula confugiat.
Besonders beliebt war bei den Römern jene Art der
erotischen Flagellation, die man Urtication nennt d. h.
das Geissein mit Brennnesseln, dieses „irritamentum Yeneris
languentis et acres Divitis urticae“ wie luvenal sagt.
In Petron’s „Satyricon“ ergreift Enothea, um dem im-
1) Vergl. darüber die Bemerkung von W. H e i n s e in
seiner Übersetzung des Petronius, Neudruck von A.
W e i g e 1 , Leipzig 1898 Bd. I S. 43.
23
354
potenten Encolpius zu neuen Kräften zu verhelfen, ein
„Büschel grüner Nesseln, und fing an, bedächtlich alle
Teile unter dem Nabel zu hauen“.
Fe st US berichtet sogar von Leuten, die sich gegen
Bezahlung auspeitschen Hessen und die man „Flagratores“
nannte.^) Offenbar dienten dieselben den sexuellen Gelüsten
aktiver Flagellanten.
Interessant ist auch eine Bemerkung im Talmud,
dass Schlagen auf den Kücken Ursache des Samen¬
flusses d. h. der Ejaculation sein könne.
Nach alledem kann wohl nicht mehr bezweifelt werden,
dass die Alten bereits die Flagellation als ein Aphrodisia-
cum gekannt und benutzt haben. Jedoch sollte die
sexuelle Flagellation erst im Mittelalter eine eigen¬
tümliche systematische Ausbildung erhalten durch
ihre Verquickung mit der Religion, wie sie uns in den
Erscheinungen des Flagellantismus oder der Geissler-
fahrten und der klösterlichen Di sei plin entgegentritt.
Von dieser eigentümlichen Richtung der sexuellen
Flagellation sagt Frust a: „Man muss dies Gemälde des
Flagellantismus auch als Krankengeschichten des mensch¬
lichen Verstandes, als Denkmale des Wahnsinns, als
Nachtstücke der Phantasie, als eine anatomische Galerie
von moralischen Skeletten und Abnormitäten betrachten“.^)
Dieser Schriftsteller vindicirt den christlich-ger¬
manischen Völkern den zweifelhaften Ruhm, das „Prügel-
0 P e t r 0 n i u s , übersetzt von II ei ns e Bd. II S. 154.
2) D e 1 0 1 m e a. a. 0. S. 85.
3) J. Pr euss „Die männlichen Genitalien und ihre Krank¬
heiten nach Bibel und Talmud“ in Wiener med. Wochenschrift
1898 Nr. 14.
4) Frusta a. a. 0. S. VH.
355
oder Flagellationssystem“ nicht nur theoretisch, sondern
auch praktisch mit Eaftinement am weitesten ausge¬
bildet zu haben. Der „Geissellustsport mit dem Kecord
des Heiligengeruches“, i)der in der fürchterlichen psychischen
Epidemie der Geisselfahrten des 13. und 14. Jahrhunderts
solche wahnvvitzigen Krämpfe von Wollust und Schmerz
hervorrief, beschränkte sich in späteren Zeiten mehr auf
■die „Disciplin“, deren conditio sine qua non zuchtlose
Entblössung war, und die sich bald aus einer „oberen“
in eine „untere“ verwandelte, bei welcher letzteren die
Geisselung des Gesässes^) die Hauptrolle spielte. Hierüber
finden sich in den geschichtlichen Darstellungen des Mönchs¬
tums, der Klöster, der Jesuiten und anderen geistlichen
Orden ausführliche Nachrichten.^)
Sicherlich hat die noch bis in die neueste Zeit geübte
religiöse Flagellation nicht wenig zur Verbreitung der
Flagellation auch in weltlichen Kreisen beigetragen, da
die Mönche und Nonnen bald von der Selbstgeisselung
und Geisselung unter einander zur Flagellation ihrer
weltlichen Beichtkinder übergingen und auf diese Weise
unzählige aktive und passive Liebhaber der Kute
künstlich züchteten, während diese hinwiederum durch
Bethätigung ihrer so erworbenen Neigungen für eine
weitere Verbreitung derselben sorgten.
Betrachtet man daher die „Disciplin“ vom rein mensch¬
lichen Standpunkte aus, so kann man Mich eiet nicht
1) E u 1 e n b u r g a. a. 0. S. 63.
2) In der Nonnensprache wird das Gesäss auch als „Fuss“
bezeichnet. Vergl. F. J. Lipowsky „Gemälde aus dem
Nonnenleben“ 4. Aufl. München 1828 S. 116.
3) Vergl, auch Eulenburg a. a. 0. S. 63—66.
23*
356
Unrecht geben, wenn er ausruft; „Quoi! lorsque dans les
bagnes meme, sur des voleurs, des meurtriers, sur les plus
feroces des bommes, la loi defend de frapper, — vous, les-
bommes de la gräce, qui ne parlez que de charite, de la
bonne sainte Vierge et du doux Jesus, vous frappez des-
femmes . . . que dis-je, des filles, des enfants, ä qui Ton
ne reprocbe apres tout que quelques faiblesses.“i)
Wenn wirklich die sexuelle Flagellation d. b. das-
Schlagen, Geissein, Peitschen zum Zwecke der Erregung
bezw. Steigerung der Libido sexualis oder als Begleit¬
erscheinung des Geschlechtsaktes, sogar als dessen Surrogat
aus natürlichen Erscheinungen der Vita sexualis sich
erklären lässt, so darf man voraussetzen, dass dieselbe
nicht nur beim Menschen vorkommt, sondern sich auch
im Tierreiche nachweisen lässt. In der That geht dies
aus den nachfolgenden interessanten Mitteilungen des
Physiologen Bur dach mit Sicherheit hervor.
„Bei manchen Tieren finden sich eigentümliche
Organe zur Reizung. So hat der Scorpion unter der
Klappe der Zeugungsöffnung auf jeder Seite einen Kamm,
der wahrscheinlich als Palpe dient, womit Männchen und
L J. Mi dielet „Le Pretre, la Femme et la Familie“
Paris 1875 Teil II Capitel V. — Nach Frusta (S. 315) sollen
besonders die italienischen Damen des 16. Jahrhunderts, durch
die Klostererziehung dazu vorbereitet, durch die Jesuiten ge¬
leitet und durch schlüpfrige Lektüre zu allerlei lüsternen
Phantasien verführt, einen bedeutenden Antheil an der
Verbreitung der Neigung zur Flagellation gehabt haben.
357
Weibchen sich gegenseitig streicheln. Bei Helix und Par¬
macella findet sich in einem blinden Anhänge der gemein¬
schaftlichen Zeugungshöhle der sogenannte Liebespfeil, ein
spitziges, kalkiges, vierschneidiges Körperchen, das auf
einer kleinen Warze steht; nachdem sie die Zeugungshöhle
nach aussen umgestülpt haben, schleudern sie den Pfeil
hervor und verwunden einander damit an irgend einer
Stelle; jede Schnecke fürchtet sich davor, und versteckt
sich in ihr Haus, wie sie den Pfeil der anderen erblickt,
bis er sie endlich unerwartet erreicht, wobei er dann
abbricht, um späterhin sich von Neuem zu erzeugen.
Andere Tiere verwunden sich auf andere Weise; Der
Hahn hackt die Hühner auf Hals und Hinterkopf, und
der männliche Aguti bringt dem Weibchen eine grosse
Bisswunde im Nacken bei; ebenso beisst der wilde Kater
die Katze in den Nacken. Bei Anderen besteht die
Beizung in einem sanften Schlagen: so schlägt
der weibliche Fisch mit dem Kopfe an den
Hinterleib des Männchens, die Tritonen legen
die Köpfe aneinander, das Männchen richtet
den Kamm auf, bewegt ihn rechts und links,
und schlägt mit dem gekrümmten Schwänze
das Weibchen; das Männchen von Salarnandra
exigua beugt den Schwanz nach vorn, bewegt
ihn sehrschnell, undschlägtdanndasWeibchen
damit, das von Salarnandra platycauda stellt
sich zur Seite, klammert sich mit denVorder-
füssen an, schlägt mit dem Schwänze das
Wasser, nähert ihn dann dem Weibchen und
schlägt es damit.“^)
K. F. Bur da eil „Die Physiologie als Erfahrungswissen¬
schaft“ Leipzig 1826, Bd. I, S. 433.
258
Es ergiebt sich hieraus, dass auch bei Tieren gewisse
schmerzhafte Manipulationen vorgenommen werden, um
den Geschlechtstrieb zu erregen und zu steigern. Diese
schmerzhaften Manipulationen bestehen aus Bissen, Stichen,
hauptsächlich aber aus Schlägen. Die Vorgänge bei
Tritonen und Salamandern kann man als eine typische Fla¬
gellation ante coitum auffassen.
Beim Menschen kann die sexuelle Flagellation, wenn
sie auch an sich gewiss nichts Normales darstellt, doch
aus den natürlichen Begleiterscheinungen des gewöhnlichen
Geschlechtsaktes abgeleitet werden.
Nach Bloch ist deshalb die Flagellation der haupt¬
sächliche Modus der Bethätigung sadistischer Neigungen
geworden, weil gerade „bei ihr sich alle physiologischen
sadistischen Begleiterscheinungen des geschlechtlichen
Verkehrs vereinigen und stärker potenziert zu Tage treten.
Der Sadist kann nur bei der Flagellation das vollstän¬
dige Ensemble der aetiologischen Momente gemessen, die
die sadistischen Lustgefühle in ihm wachrufen. Die
Flagellation wird daher ganz allgemein am besten aus
einer Nachahmung und einer bewussten Synthese
aller physiologisch auftretenden sadistischen Begleiter¬
scheinungen des Coitus erklärt.“^)
Gewisse Äusserungen, Bewegungen, Farbenverände¬
rungen des flagellierten Individuums sind solchen Er¬
scheinungen beim Geschle(ihtsakte ähnlich und erwecken
daher ähnliche Ideenassociationen, welche geschlechtliche
Empfindungen wachrufen.
Wenn wir nun die einzelnen Motive der sexuellen
Flagellation untersuchen, wobei zunächst vorausgesetzt sei,.
1) J. Bloch a. a. 0. S. 76.
359
dass es sich um die am meisten übliche Form derselben,
die Geisselung des Gesässes, die sogenannte „untere Dis-
ciplin“ handle, so tritt uns zunächst ein von diesem
Körperteile ausgehender rein aesthetischer Reiz als
eine mittelbare Ursache der Flagellation entgegen.
Delol me^) erzählt, wie eine alternde Dame, erschreckt
über die Runzeln ihres Gesichtes, vor einem grossen
Spiegel den übrigen Körper erblickte und zu ihrem* Ent¬
zücken entdeckte, dass die Formen jenes Teiles noch
tadellos schön waren. Er führt dann weiter aus, dass der
häufige Anblick des Gesässes auf viele Menschen einen
sehr starken Reiz ausübe und so die Gedanken auf diese
Gegend gelenkt würden, wodurch eine Praedisposition für
die Flagellomanie geschaffen werde. Er misst dem „Sight
in Love“ eine grosse Rolle bei.
Die alten Griechen hatten die aesthetische Bedeutung
des Gesässes sehr genau erkannt, wofür die mythologische
Schöpfung der Aphrodite Kallipygo s Zeugnis ablegt.
Auch neuere Anthropologen und Aesthetiker weisen nach¬
drücklich auf die Schönheit jenes Körperteils hin. Moreau
bemerkt: „Les reliefs qui les (les cuisses) surmontent
posteri eurement, ces formes, dont la Venus Callipyge
offre le plus parfait modele, ont un genre de beaute
qu’il serait difficile de decrire, et qui parait consister
principalement dans le passage agreable que ces
renflemens etablissent entre le torse et le membre.^‘ '^)
Der Aesthetiker Schasler^) nennt das Gesäss einen
9 Delolme a. a. 0. S. 328 — 329.
9 J. L. Moreau „Histoire naturelle de la femme“ Paris
1803 T. Ip. 306—307.
9 Max Sc basier „Aesthetik“ Leipzig und Prag Bd. 1.
S. 175—176.
360
„mit Unrecht verachteten oder doch mindestens bespöttel¬
ten“ Teil des Körpers und motiviert dies folgendermassen:
„Die hohe aesthetische Bedeutung desselben, selbst im
Vergleich mit dem Busen, beruht darin, dass das Gesäss
nicht nur überhaupt die für die Entleerung bestimmte
Öffnung des Unterleibs, den After, verdeckt — eine
Funktion, die beim Tiere dem Schwanz zufällt — sondern
dass es vorzugsweise durch eine plastisch schöne Abrun¬
dung bestimmt scheint, die Anschauung von jeder Er¬
innerung an jene zwar natürlichen, immerhin aber un¬
ästhetischen Funktionen abzuziehen und dieselben ver¬
gessen zu machen; eine Bestimmung, die beim scham¬
losen Tiere gänzlich in Fortfall kommt. Ausserdem deutet
die Bezeichnung „Gesäss“ schon darauf hin, dass nur
dem Menschen, nicht dem Tiere, ein eigentliches Sitzen,
soferne es dem Körper eine harmonische Stellung anzu¬
nehmen gestattet, zukommt. Der Affe sitzt zwar auch,
aber diese Stellung ist ihm ebensowenig naturgemäss und
erscheint daher bei ihm ebensowenig schön, wie das auf¬
rechte Gehen, welches nur den Mangel an Proportionalität
seiner Gliederung umsomehr hervortreten lässt.“ Hieraus
erklärt sich nachFrusta die Thatsache, dass durch den
Anblick der enthüllten kallipygischen Beize die „künstle¬
rische Beschaulichkeit“ bei beiden Geschlechtern geweckt
wird, die eine „mit dem Schönheitssinn in Verbindung
stehende Schwelgerei des Gesichts- und Gefühls-Organes“
zur Folge hat.^
Auch neuere Dichter haben den aesthetischen Beiz
dieses Körperteiles gewürdigt. Delolme und Bertram
(Cooper) nennen Kabelais, Lafontaine, Bousseau,
Scarron, Lord Bolin gbr oke als Bewunderer desselben.
Pavillon, ein französischer Schöngeist unter Ludwig
1) Frusta a. a, 0. S. 311.
361
XIV. besingt sogar seine Pracht und Herrlichkeit in einem
■Gedicht „La metamorphose da Cal d’Iris en Astre.“i)
Neben der allgemeinen aesthetischen Bedeutung des
’Gesässes, welche ihm aus seiner oben von Moreau und
Schasler geschilderten Eigenschaft als Übergangspartie
zwischen Rumpf und unteren Extremitäten erwächst, sind
es auch in Hinsicht auf die Form die gröberen plasti¬
schen Reize dieses Teiles, welche eine gewisse Wirkung
ausüben. G. Jaege r meint, dass derselbe nur seiner Plastik
wegen reize. Es sei nach dem Aesthetiker Vischer
die ,, pfirsichartig geformte“ Beschaffenheit des Gesässes,
welclie ein aesthetisches Wohlgefallen erwecke.^) Ebenso
ei*klärt de Sade aus der „rondeur, conformation, forme
enchanteresse“ die Anziehungskraft, welche diese Gegend
ausübt (Justine I, 42). Hierher gehört auch die inte¬
ressante Bemerkung Doppet’s: „Ich habe selbst in meinen
Schuljahren häufig genug bemerkt, dass die hässlichen
und magern Jungen nur selten an die Reihe kamen.“
Namentlich scheint eine den Durchschnitt überragende
Grösse des Posterius, wie sie bekanntlich bei gewissen
Negervölkern und den Hottentotten in sehr starkem Masse
vorhanden ist^), einen gewissen Reiz für zahlreiche Indi-
L Delolme a’. a. 0. S. 234 — 238; Cooper a. a. 0. S. 4.
Eine Analyse des Gedichtes von Pavillon findet sich bei
J. L e m 0 n n y e r „Bibliographie des ouvrages relatifs ä Tainour,
aux femines et au mariage“ TJlle 1899 ßd. IH S. 215.
2) G. Jaeger im „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“
Leipzig, 1900 Bd. II S. 65.
Do pp et a. a. 0. S. 402.
'^) Vergl. darüber die Mitteilungen bei W. Reinhard
„Unter dem Bakel“ Dresden 1903 S. 176 — 180. — Die Frau ist
in dieser Beziehung vor dem Manne bevorzugt, „hlatibus gau-
dent maioribus feminae, id quod jam Cercidas poeta de V'e-
nere et Atheniensibus feminis, inde AcOJujtvyoi'^ a se dictis
jiraedicavit“. J. Rosenbaum „De sexuali organismorum
fabrica etc.“ Halle 1832 S. 51.
362
viduen zu haben. Daher bedienen sich nicht selten
Flagellanten der künstlichen Vergrösserung dieses
Teiles. In der „Exhibition of Female Flagellants“ verlangt
ein solcher „Philopodex“ von dem Maler, dass er die
weiblichen Posteriora lieber über als unter der Grösse
abbilden solle, welche die gewöhnliche Proportion dem
Maler oder Bildhauer erlaube. Andere beobachten Flagel¬
lationsszenen durch — Vergrösserungsgläser, um den
flagellierten Teil möglichst riesenhaft vor Augen zu haben.
In der „Venus Schoolmistress“ findet sich eine sehr
merkwürdige Einteilung der menschlichen Posteriora.
Der Verfasser behauptet, dass dieselben bei Knaben bis
zum 16. Lebensjahre fast immer sehr ähnlich seien, aber
nach dieser Zeit eine mehr „individuelle“ Beschaffenheit
annehmen. Einige behielten ihre kindlichen Formen,
andere nehmen bei starker Vergrösserung einen harten
und rauhen Charakter an. Der Verfasser behauptet
weiter, dass die Männer mit stark entwickelten Posteriora
sich früher verheirateten als die übrigen, da diese kalli-
pygischen Adonisse auf Frauen eine grosse Anziehungskraft
ausüben und in der Potentia coeundi et generandi andere
Männer übertreffen.^)
Aus der alleinigen Wirkung dieser allein die Form
betreffenden aesthetischen und plastischen Reize erMärt sich
die Thatsache, dass es zahlreiche Individuen gieht, die, ohne
zur eigentlichen Flagellation zu schreiten, sich schon mit
dem blossen Anblicke der enthüllten Posteriora begnügen
und daraus eine geschlechtliche Befriedigung schöpfen.
1) Eine solche Szene wird in den „Memoiren einer
russischen Tänzerin“ Milwaukee 1893 Bd. II. S. 81 ff. ge¬
schildert.
2) „Venus Schoolmistress“ S. 97 — 98; S. 99.
363
„Flagellation und Entblössung sind untrennbar,“ sagt
Ryan, „und rufen sogar bei Kindern oft Erection
hervor.“^) Häufig genügt schon zu diesem Zwecke die
Entblössung ohne die nachfolgende Geisselung.
So betrachten in einer deutschen Flagellationsschrift
mehrere Personen die ihnen dargebotenen kallipygischen
Reize durch Operngläser,^) und in der „Justine“ des
Marquis de Sa de (Bd. III S. 34) findet gar eine grosse
kallipygische Revue von Mädchen, Knaben, Frauen und
Greisinnen vor dem Libertin Verneuil statt. In gewissen
ländlichen Gegenden der Bretagne wird dieser Exhibitio¬
nismus der Nates in einer höchst eigentümlichen Weise
vollzogen, nämlich mittelst eines sogenannten „Toull er
c’has“ französisch „chatiere“, das ist ein grosser Apparat
in Form einer hölzernen Brille, durch welche der Zuschauer
seinen Kopf steckt, während ein Weib vor dem Betreffenden
ihre Hinterseite entblösst.^)
In England hat diese sonderbare Liebhaberei für
den blossen Anblick kallipygischer Reize sogar eine eigene
Art von Prostituirten erzeugt, die sogenannte „po sture
girls“. Dieser Typus scheint um 1750 aufgekommen
zu sein. Denn in verschiedenen um jene Zeit verötfent-
lichten erotischen Schriften werden sie zuerst erwähnt.
So ist in der „History of the Human Heart, or the Adven-
tures of a Young Gentleman“ (London 1769 S. 116) von
den „posture girls“ die Rede, welche ,,stripped stark
Ryan a. a. 0. S. 382.
2) „Am Venusberg oder Pensions-Erlebnisse“ Budapest
o. J. S. 49.
„Glossaire cryptologique du breton“ in: Kavjizadic;
Recueil de documents pour servir ä l’e'tude des traditions popu-
laires. Paris 1899 Bd. VI S. 65 — 66.
364
naked and mounted tliemselves on the middle of the
table“, um liier die betreffenden Schönlieiten zu demon¬
strieren. In der fünften Erzählung (The Eoyal Kake, or
the Adventures of Prince YoriclP’) der „New Attalantis for
the Year 1762“ wird „Posture Nan“, die ,, grösste Mei¬
sterin ihres Geschlechtes in dieser Kunst“ gerühmt. Das
Treiben dieser „posture girls“ in einem Dirnenlokal der
Great Russell Street wird im „Mitternachtsspion“ sehr
anschaulich geschildert. ,, Sehen Sie dort“, sagte ürbanus,
„einen Gegenstand, der zugleich unseren Unwillen und
unser Mitleid erregt. — Eine schöne Frau liegt auf dem
Boden ausgestreckt und bietet jene Teile den Blicken dar,
welche, wenn sie nicht jeder Scham entblösst wäre, sie
eitrigst zu verbergen suchen Avürde. Da sie dem Trünke
ergeben ist, kommt sie gewöhnlich angeheitert in dieses
Haus und entblösst sich meistens nach zwei oder drei
Gläsern Madeira in dieser unanständigen Weise vor den
Männern. Sehen Sie, sie wird jetzt wie ein Tier hin¬
ausgetragen. Man verlacht sie, ist aber entzückt über
solche Prostitution einer unvergleichlichen Schönheit.“
Wenn wir nun zu den Motiven des eigentlichen
Flagellationsaktes übergehen, so haben wir zunächst die
Reize colorist ischer Natur zu erwähnen, welche vor
und während der Ausführung des Aktes auf das Auge
des aktiven Flagellanten wirken. Das Kolorit spielt
überhaupt in der Vita sexualis beider Geschlechter eine
grosse Rolle. Schasler bemerkt darüber: „Zn diesen
„The Midnight Spy“ London 1766 S. 67 — Nicht zu
verwechseln mit den „Postnre Girls“ sind die „Posture Masters“
d. h. Jongleure und Schlangenmenschen, die seit Karl II.
diesen Namen führten. Vergl. J. Strutt „The Sports and
Pastimes of the People of England“ London 1830 S. 235 — 236.
365
plastischen Elementen des geschlechtlichen Gegensatzes
tritt nun noch der Unterschied des Kolorites hinzu,
und zwar zunächst als äusseres Merkmal des Geschlechts¬
unterschiedes überhaupt neben der tormalen Gestaltung.
Da die Haut des Mannes im allgemeinen härter und
trockener, die des Weibes dagegen weicher und feuchter
ist, so spielt das männliche Kolorit mehr in’s Bräunliche,
das des Weibes mehr in’s Kosige. Hiermit steht dann
weiterhin im Zusammenhänge der leichtere Wechsel des
Jncarnats, das Erröten, Erblassen u. s. 1, was beim
Manne erst bei heftig erregtem Innern eintritt, während
es beim Weibe, ebenso wie die Thränen, bei den leisesten
Regungen kommt und geht.“
Nach Bloch ist die Rötung gewisser Teile eine
allgemeine anthropologische Erscheinung der geschlecht¬
lichen Aufregung. „Die intensive dunkelrote Färbung
des Gesichtes und der Genitalien nebst ihrer Umgebung
ist eine physiologische Begleiterscheinung der sexuellen
Brunst, die meist durch die damit verknüpfte Turgescenz
der männlichen und weiblichen Genitalien um so greller
in die Erscheinung tritt und zu Gefühlsassociationen führt,
in welchen das Blut eine hervorragende Rolle spielt.“^),
Grosse macht auf die biologische und ethnologische
Bedeutung der roten Farbe für den Geschlechtstrieb
aufmerksam und verweist auf die interessante Thatsache,
dass bei Tieren häufig die sekundären Geschlechtscharaktere
rot gefärbt sind (glühend rote Gesäss- und Backen¬
schwielen des brünstigen Pavian, scharlachroter Kamm
des Hahnes u. s. w.
Schasler a. a. 0. Bd. I. S. 178.
2) J. Bloch „Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia
sexualis.“ Theil II S. 89.
3) ibidem S. 39 — 40.
366
Indem also der Flagellant eine Rötung der Nates
hervorbringt, sucht er nur eine natürliche Begleiter¬
scheinung der Libido sexualis zu erzeugen. Hierfür spricht
auch der Umstand, dass wilde Völker sich die Hinterbacken
rot färben, so dass diese wie hei den Affen grell hervor¬
treten. Nach Bloch übt auch der Kontrast der Farben
zwischen den nichtflagellirten und den flagellirten Stellen
eine sexuelle Wirkung aus.
Der eigenartige und sehr starke sexuelle Reiz, welchen
der Anblick des Blutzuflusses zu den flagellirten Teilen
und der dadurch bedingten Rötung^ liefert, wird denn
auch in allen flagellantistischen Schriften gebührend her¬
vorgehoben. Frusta berichtet: „Ein berühmter und
in der Meinung hochgestellter deutscher Fürst des acht¬
zehnten Jahrhunderts, welcher in seine junge und schöne
Gemahlin ausserordentlich verliebt war, fand sie niemals
liebenswürdiger, als wenn er sie nach Noten mit der
Rute durchgestäupt hatte. Sie erhielt — denn sie selbst
empfand geringen Spass an der Sache — unter dieser
Bedingung alles, was sie von ihm verlangte. Was ihn
am meisten dabei gereizt haben soll, war die
Verwandlung des Jncarnates der Haut. Stunden¬
lang betrachtete er die also colorirten Reize und konnte
sich nicht satt daran sehen. Ähnliche Dinge erzählt
Brantöme inseinen „Dames galantes.“ Bloch macht
darauf aufmerksam, dass man diese Leidenschaft für die
Farbenveränderungen bei der Flagellation auch auf manchen
bildlichen Darstellungen von Flagellationsscenen wahr-
1) Delolme a. a. 0. S. 234.
2) Bloch a. a. 0. S. 80.
Z. B. in „Raped on the railway“ London 1899 S. 140.
4) Frusta a. a. 0. S. 312.
367
nehmen könne, indem die flagellirten Teile meistens grell
rot gezeichnet werden, i)
Der Verfasser der „Romance of Chastisement‘‘
(London 1870 S. 82) meint, dass die Posteriora des
Menschen die Fähigkeit besässen auch ohne Flagellation
ganz von selbst zu erröten, und behauptet das abwechselnde
Rot- und Blasswerden dieser Teile selbst gesehen zu haben.
Die stark en Be wegungen und Zuckungen, in
welche die flagellirten Teile während der Züchtigung
geraten und die ebenfalls als eine Imitation gewisser
Bewegungen beim Coitus aufgefasst werden können^),
bilden einen weiteren Reiz. Das „Erzittern‘‘, die „oscillirende
Bewegung“, die ,, wollüstigen Zuckungen“ der flagellirten
Teile werden denn auch regelmässig bei der Schilderung
von Flagellationsscenen erwähnt. Schon in einem Briefe
des Alkiphron heisst es über die Bewegungen der
Nates bei den „kallipygischen Spielen“ (nach der
französischen Übersetzung des Abbe Richard): „Dans
leur jeu rapide, dans leurs convulsions aimables,
ces spheres n’ont pas le tremblement de celles
de Myrrhine. Leur mouvement ressemble au doux
gemissement de l’onde. Aussitot eile redouble les lascives
Bloch a. a. 0. II. S. 81.
2) „Die alten Inder“, sagt Bloch (a. a. 0. S. 79) „welche
in Beziehung auf die Beobachtung und Zusammenstellung der
äusseren Erscheinungen der Libido sexualis Ausserordentliches
geleistet haben, bezeichnen als Symptom der wollüstigen Brunst
des Weibes auch „zuckende Bewegungen der Hinterbacken“.
Ebendieselben Zuckungen jener Region treten im höchsten
sexuellen Orgasmus in potenziertem Masse auf. Sie gleichen
dann ganz den durch Schmerz oder Todeskampf xerursachten
reflektorischen Bewegungen und erregen eben deswegen, weil
sie als vollkommen dem Willen entzogener Akt erscheinen, den
sadistisch veranlagten Mann.“
368
crispations avec tant d^agilite, qu’un applaudissement
universel lui decerne les honneurs du triomphe“.i) In
den ,,Kallipygen“ wird die Bewegung der Posteriora von
einem Zuschauer sogar gewissermassen „beseelt“, indem
erbemerkt, es schiene ihm, als ob jener Teil die Empfindungen
beschreiben wolle, die ihn bei der Flagellation bewegen.^)
Eine sehr wichtige, vielleicht die hauptsächliche
Ursache der aktiven Flagellation bildet die sadistische
Veranlagung des Flagellanten. C o o p e r sagt : „Unter den
Elementen, aus denen die Leidenschaft der Flagellanten
zusammengesetzt ist, scheint — einem alten Schriftsteller
zufolge — die Hauptsache „ein Gefühl von Befriedigung
über die Schmerzen anderer zu sein, entstehend aus dem
bösen Princip, das, im Verein mit dem guten, in jedes
Menschen Herzen zu finden ist, und die nahe Verwandt¬
schaft zwischen Grausamkeit und Wollust, welche den
Anblick der oft lächerlichen Bewegungen und Konvulsionen
der gezüchtigten Menschen ergötzlich findet“.
Frusta^) will in diesem Gefühle des Wohlbehagens
am Schmerze des Anderen noch eine andere Nüance finden,,
nämlich „eine Art Ironie der Wollust und Grau¬
samkeit zugleich, welche mit den für das physische
Auge nicht selten lächerlichen Konvulsionen und den
Geberden des Misshandelten einen oft sich selbst unbe¬
wussten Scherz treibt.“ Am reinsten tritt dieses sadistische
Element in der aktiven Flagellation in jenen seltenen
Fällen hervor, wo Menschen Tiere flageliieren, nur um
1) B. Du tour „Histoire de la Prostitution“ Brüssel 1861
Bd. I S. 190—191.
2) „Die Kallipygen“ Milwaukee 1898 S. 142.
3) Cooper a. a. 0. S. 164,
‘^) Frusta a. a. 0. S. 311.
369
die Wollust der Grausamkeit geiiiessen zu können, ohne
geschlechtliche Berührungen vorzunehmen. Freilich giebt
es auch andere, noch seltenere Fälle — ein solcher ist
mir von zuverlässiger Seite berichtet worden — wo
Menschen nach der Flagellation die Tiere sodomitisch
missbrauchen.
Jene Fälle, in denen Individuen am liebsten möglichst
zahlreichen Auspeitschungen Zusehen, lassen sich ebenfalls
auf vorwiegend sadistische Neigungen zurückführen. Ein
Offizier, der oft zugesehen hatte, wenn seine jüngeren
Geschwister bestraft wurden, bekam infolgedessen eine
ganz unsinnige Leidenschaft für das Schlagen. Er pflegte
die Angestellten in einem holländischen Zuchthause zu
bestechen, dass sie ihn das Amt des Zuchtmeisters ver¬
sehen liessen, und wenn das nicht anging, so sah er
wenigstens zu, wie die weiblichen Gefangenen gepeitscht
wurden.^)
Diese sadistischen Flagellanten werden am meisten
durch den Anblick des bei der Geisselung fliessenden
Blutes erregt, weshalb die Züchtigung immer bis zu
diesem Punkte ausgedehnt werden muss, um dem Flagel¬
lanten die gewünschte Befriedigung zu verschaffen. Dies
wird z. B. in der „Justine“ des Marquis de Sade (I, 265)
geschildert. D u f o u r erblickt gerade in diesem Blutdurste
den charakteristischen Unterschied des antiken und des
christlichen Flagellantismus. Er sagt: „L’usage de la
flagellation dans l’antiquite etait bien comme de tous les
debauches, qui Pappelaient en aide pour se preparer aux
plaisirs de Pamour. Mais, au moyen-äge, si la flagellation
erotique ne s’exercait plus que rarement et dans le plus
1) C 0 0 p er a. a. 0. S. 165.
24
370
profond mystere, eile avait pris un caractere de ferocite
sanguinaire, qui se reproduisait dans les actes des Flagel-
lants.“^)
Bei der passiven Flagellation tritt das masoch¬
istische Element in den Vordergrund. Den Flagellirten
erfüllt ein „mystisches, aus Sinnlichkeit und Phantasie
zusammengesetztes Gefühl von Demütigung unter die
Gewalt eines Stärkeren, von Zurückversetzung seiner
Persönlichkeit in das kindliche Alter, sodann eine tiefe
Scham und Freude zugleich über die zugefügte Miss¬
handlung Nach V. Kr afft-E bin g^) dient den von
der Perversion des Masochismus Beherrschten als Ausdruck
der von ihnen ersehnten Situation der Unterwerfung unter
das Weib hauptsächlich die passive Flagellation. Eine
solche Situation wird sehr drastisch durch das bekannte
Bild von Hans Baidung veranschaulicht, auf welchem
Aristoteles der Phyllis als Pferd dient und von ihr
mit der Geissei angetrieben wird. Der folgende von
Cooper^) berichtete Fall illustrirt ebenfalls den Masochis¬
mus des Flagellirten. Ein Edelmann aus der Zeit G e o r g’ s IL
mietete sich ein Haus in London und eine hübsche Haus¬
hälterin. Ein Mal in jeder Woche musste dieselbe alles
für ihn bereit halten, was man braucht, um eine Stube
zu scheuern, und auch zwei Frauenzimmer kommen lassen,
von denen die eine die Haushälterin, die andere das Stuben¬
mädchen vorstellen und ihm bei der Arbeit behilflich sein
mussten. Wenn nun der Edelmann die Stuben scheuerte,
1) Dufour a. a. 0. Bd. V. S. 150.
2) Frusta a. a. 0. S. 312.
V. Krafft*Ebing „Psychopathia sexualis“ 10. Aufl.
Stuttg. 1899. S. 90.
‘^) C 0 0 p e r a. a. 0. S. 167— 16S.
371
benalim er sich dabei, als ob er ein Mädchen aus dem
Armenbause wäre und verrichtete seine Arbeit so schlecht,
dass ihn immer eine oder auch beide Frauenzimmer so
schlugen, wie die Gemeindekinder von den Hausfrauen
geschlagen zu werden pflegen !
Ferner wird in des englischen Dichters Otway
Komödie „Venice Preserved“ (Akt III, Scene 1) eine
solche masochistische Flagellationsscene beschrieben. Der
:senile Senator Antonio besucht seine Maitresse Aquilina,
um Wildfang mit ihr zu spielen. Er verlangt von ihr,
dass sie ihm ins Gesicht spucken solle, spielt dann die
Kolle eines Hundes, kriecht unter den Tisch, bittet sie,
ihn wie einen Hund zu behandeln, ihn zu treten u. s. w.,
bis zuletzt die Courtisane eine Rute holt und ihn hinaus-
peitscht.^) Ebenfalls enthalten die „Justine“ und „Juliette“
von de Sade mehrere derartige Schilderungen (z. B.
Justine I, 320).
F r u s t a^) glaubt auch dem Wortzauber eine gewisse
Wirkung bei der Flagellation zuschreiben zu müssen. Denn
durch das Nennen des Werkzeuges der Geisselung würden
viele Frauen zum Erröten gebracht, weil in dem Worte
virga eine lüsterne Zweideutigkeit liege, da es sowohl
die Rute als auch das männliche Glied bezeichne. Übrigens
wird bezeichnender Weise auch das deutsche Wort Rute
sowohl für das Geisselinstrument als auch für das Membrum
virile gebraucht.
Ein anderer mystischer Reiz der Flagellation soll auf
der von ihr ausgehenden magnetischen Wirkung be¬
ruhen. „Sodann kommt noch das Geheimnis des tier-
1) Vergl. P. Fraxi „Centuria librorum absconditoruiii“
•S. 450.
2) Frusta a. a. 0. S. 312.
24*
— —
ischen Magnetismus hinzu, welcher die durch Zerquälung
des Körpers und Aufreizung der Lebensgeister gesteigerte
und völlig metamorphosirte Phantasie zu Bildern und
Vorstellungen hintreibt, welche in dem gewöhnlichen sich
nicht zeigen. Es ist dies eine merkwürdige Erscheinung^
welche namentlich in dem Leben und in dem Ideengang
der grossen Mystiker Damiani, Franz von Assisi,,
der heiligen Brigitta, Hildegard, Theresia u. s. w.,
Taulers, Thomas a Kempis, Heinrich Suso u. A.
überrascht.“^)
Diese „magnetische Theorie“ der Flagellation wird
ausführlich in der englischen Flagellationsschrift „The Ro-
mance of Chastisement“ entwickelt. Wenn die Flagellation
von einer geschickten weiblichen Hand ausgeführt wird, so-
geht nach dem Verfasser eine Art von Magnetismus von der
Flagellantin auf das (nota bene oft männliche) Opfer über
und von diesem wieder zurück auf die Geisslerin. Eine
Flagellierte schildert ihren „magnetischen“ Zustand fol-
gendermaassen : „Furcht und Scham waren vergangen¬
es war als wenn ich meine Person den Umarmungen
eines Mannes preisgab, den ich so sehr liebte, dass ich
seine wildesten Wünsche anticipierte. Aber kein Manu
schwebte mir in Gedanken vor; vielmehr war Martinet-
(die Gouvernante) der Gegenstand meiner Anbetung, und
ich fühlte durch die Rute, dass ich ihre Leidenschaft
teilte. Der Rapport, wie die Magnetiseure ihn her¬
steilen, war so stark, dass ich ihre Gedanken erraten-
konnte. Hätte sie gewünscht, dass ich meine Vorderseite
ihren Schlägen darböte, so würde ich mit Gewalt mich
bemüht haben (trotz der Fesselung) zu gehorchen. E&
Frusta a. a. 0. S. 318. •
373
ging ein magnetischer Schauer durch uns Beide, der mit
jedem Schlage zunahm. Es war mir aber unmöglich zu
sagen, ob es mehr Schmerz oder Lust war.“
Erwähnenswert ist auch eine merkwürdige Äusserung
Stilling’s, die G. H. v. Schubert in seiner berühm¬
ten „Symbolik des Traumes“ anführt: „Es ist fast un¬
glaublich, welche unlautere und unsinnige Quellen jene
süssen religiösen Entzückungen haben können, auf welche
Einige so stolz sind. Eine gewisse fanatische Ge¬
sellschaft in den dreissiger Jahren des vorigen
Jahrhunderts rief sie, auf eine Art von magne¬
tischer Weise, 'durch fortgesetztes eigenes
Kneipen undKeiben des Leibes hervor. Und
jene Entzückten wurden für Wiedergeborne gehalten!“^)
Für die Erklärung des mittelalterlichen Flagellantismus
und der klösterlichen Disciplin kommt hauptsächlich die
wollüstige Betonung der religiösen Empfin¬
dungen in Betracht, welche sich aus der nahen Ver¬
wandtschaft zwischen Keligion und Wollust ergiebt. Bloch
nennt sogar in einem gewissen Sinne die Geschichte der
Religionen zugleich die Geschichte einer besonderen Er¬
scheinungsform des menschlichen Geschlechtstriebes, worin
ihm übrigens schon v. Schubert in dem ebengenannten
Werke vorangegangen ist. „Religion und Sexualität be¬
rühren sich auf das innigste in jener Ahnung des
Metaphysischen und jenem Abhängigkeitsgefühle; daraus
entspringen jene merkwürdigen Beziehungen zwischen
beiden, jene leichten Übergänge religiöser in sexuelle
Gefühle, die in allen Lebensverhältnissen sich bemerkbar
LG. H. v. Schubert. „Die Symbolik des Traumes.“
3. Autl. Leipzig 1840 S. 199.
374
machen. Tn beiden Fällen wird die Hingabe, die Ent-
äusserung der eignen Persönlichkeit als ein Lustgefühl
empfunden. . . Die Identität beider Empfindungen erklärt
ihr häufiges Ineinanderübergehen, ihre beständige associative
Verknüpfung. . . Die religiöse Kasteiung, Busse, Selbst-
zerfleischung spiegelt sich wieder in der geschlechtlichen
Selbstpeinigung“. 1) v. Krafft-Ebing^) stellt die diesen
innigen Zusammenhang zwischen religiöser und geschlecht¬
licher Empfindung sehr gut bezeichnende Formel auf:
„Keligiöser und sexueller Affektzustand zeigen auf der
Höhe ihrer Entwicklung Übereinstimmung im Quantum
und Quäle der Erregung und können deshalb unter
geeigneten Umständen vicariiren.“
Der Hauptcharakterzug der religiösen Geisselung, die
Askese, die Selbstdemütigung, weist daher sehr aus¬
geprägte geschlechtliche Elemente auf. Bloch sagt
darüber: „Die Askese entspringt aus dem schon vom
primitiven Menschen tiefempfundenen Gegensätze zwischen
Geist und Materie, wobei die letztere, beim Menschen das
körperliche Dasein, besonders dessen intensivste Äusserung,
den Geschlechtstrieb darstellend, als das unreine Element
aufgefasst wird, das zu Gunsten des rein geistigen
bekämpft, überwunden und womöglich vernichtet werden
muss. Neben dem Gelübde der Armut ist die geschlecht¬
liche Abstinenz, der Kampf gegen das „Fleisch“
(„caro“ der alten Kirchenväter bezeichnet stets die Geni¬
talien) der vornehmlichste psychologische Charakterzug
der Askese. Um aber diesen übermächtigen, in jedem
J. Bloch „Beiträge zur xitiologie der Psychopathia
sexualis“ Dresden 1902 Teil I S. 77 — 78.
2) V. Krafft-Ebing a. a. 0. S. 9.
375
Menschen zeitweilig intensiv gesteigerten Sexualtrieb
niederzukämpfen und womöglich auszurotten, musste der
Asket immer vor ihm auf der Hut sein, immer
an ihn denken. So kam er dahin, sich mehr mit dem
Geschlechtstrieb zu beschäftigen als dies der normale
Mensch für gewöhnlich zu thun pflegt. . . Geschlechtliche
Kasteiung und geschlechtliche Ausschweifung: das sind
die beiden Pole, zwischen denen sich das Leben des
Asketen bewegt, welches also in jedem Falle eine starke
sexuelle Beimischung aufweist. Die Askese ist dann oft
nur das Mittel, den sexuellen Genuss in einer anderen
Form und in gesteigerterer Weise sich zu verschaffen.“
Wenn nun auch die religiöse Flagellation
o o
ursprünglich durch ein „religiöses Vorurteil über das
gottgefällige Tilgen irdischer Vergehen durch freiwillige
oder von anderen verursachte Schmerzen, oft auch durch
eine gemischte Empfindung über die vermeintliche Bändigung
der irdischen Natur“ hervorgerufen sein mag, so stellt
sich doch mit dem Zwange der Notwendigkeit das g e =
schlechtliche Moment in Bälde ein. Dem mystischen
Element gesellt sich bald das physisch-sinnliche zu. Als
ein unseren Gegenstand näher berührendes Beispiel solcher
Verbindung von Eeligion und Wollust mag der englische
König Jakob II. genannt werden, einer der grÖsstenWollüstlinge
seiner Zeit (s. oben S. 63 — 6 7), zugleich aber ein überaus bigotter
Katholik. Seine von ihm arg vernachlässigte und betiogene
Gemahlin Maria von Modena bewahrte, wie Macaulay
berichtet, bis an das Ende ihres Lebens und hinterliess
bei ihrem Tode dem Kloster Chaillot als einen Schatz die
Rute, mit welcher er das gegen sie verübte ^''nrecht
J. Bloch a. a. 0. S. 95 — 96.
2) Frusta a. a. 0. S. 312.
376
kräftig an seinena Rücken gerächt hatte.*) Die religiöse
Disciplin zog am schnellsten dann geschlechtliche Miss-
hräuche nach sich, wenn dieselbe von Personen ver¬
schiedenen Geschlechts mit einander vorgenommen
wurde, und der Mann dem Weib oder das Weib dem
Manne die Geisselung zu Teil werden Hess. Mit Recht
sagt ein puritanischer Schriftsteller: „Es ziemt dem Manne
nicht, sich von einem Weibe schlagen zu lassen und das
Mädchen wird verdorben, w’enn es von einem Mann
Streiche empfängt“.^)
Eine grosse Rolle spielt die passive Flagellation als
ein blosses Praep arativmittel zum Beischlaf. Pisanus
Fraxi ist der Ansicht, dass die Flagellation, wenn sie
überhaupt einen Wert habe, doch nur ein praeparatorischer
Akt, ein „incentive to a higher pleasure“ sei, ein Mittel
zum Zweck, nicht der Zweck selbst.^)
Diese rein physische Wirkung der Geisselung auf
das Genitalsystem erklärt sich aus der reflectorischen
Erregung der Genitalsphäre, insbesondere der im Rücken¬
mark und im S3^mpathischen Nervensystem gelegenen Centren
derselben durch scharfe und schmerzhafte Reize, welche
die Haut, insbesondere in der Nähe der Genitalien, treffen.
Schon de Sa de bemerkt: „üne grande inflammation
agit extraordinairement les esprits animaux qui coulent
dans la cavite de ces nerfs, et les determine au plaisir,
si cette inflammation est produite sur les parties de la
generation ou sur celles qui l’avoisinent, voilä qui explique
les plaisirs re9us par les coups, les piqüres, les pin^ures
1) Th. B. Macaulay’s Geschichte von England, Deutsch
von W. Be sei er, Braunschweig 1852 Bd. III S. 78.
2) Cooper a. a. 0. S. 174.
P. Fraxi „Index librorum prohibitorum“ S. 242.
377
■ou le fouet“ (Justine III, 175 — 176). Der Arzt Meibom
behauptet sogar, dass man die Wirkung der Flagellation
auf das Zustandekommen der Erection genau beobachten
könne und die „oscillationes membri“ nach der Zahl der
applicirten Hiebe sich richten.^) Frusta führt diese
aphrodisische Wirkung der passiven Flagellation auf die
„raschere Circulation des Blutes“ zurück. „Bei dem
passiven Flagellantismus, nämlich da wo die Flagellation
aus Mysticismus oder Manie durch sich selbst oder andere
vorgenommen wird, und namentlich in der Mönchsdisciplin
in so seltsamen und mannigfachen Variationen vorkömmt,
dagegen gewahrt man bei sorgfältigem Studium der
menschlichen Natur ebenfalls einen wollüstigen Reiz, be¬
wirkt durch den rascheren Kreislauf des Blutes, welcher
in Folge der Streiche (wenigstens der mit feinen Werk¬
zeugen ausgeteilten), sich einstellt“. S churig vergleicht
nicht übel die Wirkung der Flagellation mit dem Schlafen
in Rückenlage auf weichen Federbetten. In beiden
Fällen werde die Lumbalgegend in übermässiger Weise
erhitzt und so die Libido sexualis geweckt.^) John
Davenport sagt : „ As an erotic stimulant ,more particularly,
it may be observed that, considering the many intimate
and sympathetic relations existing between the nervous
branches of the extremity of the spinal marrow, it is
impossible to doubt that flagellation exercised upon the
buttocks and the adjacent parts, has a po werful efiect
upon the Organs of generation.“-*)
1) Meibom a. a. 0. 310 — 311
2) Frusta a. a. 0. S. 312.
3) Martin S churig „Spermatologia historico-medica“
Frankfurt a. M. 1720 S. 256 — 257.
4) Davenport a. a. 0. S. 113.
378
Als Beispiel für eine solche präparatorisclie Wirkung der
passiven Flagellation sei die Herzogin Leono re Gonzaga
von Mantua erwähnt, die sich von ihrer Mutter nait Ruten
peitschen liess, um in der ehelichen Umarmung wärmer
zu werden und zu concipirenA) Hierher gehört auch ein
von LudovicusCaelius Rhodiginus in seinen
berühmten „Lectiones antiquae“ mitgeteilter Fall, den ich
im lateinischen Original wiedergebe.
„Non multis abhinc annis vixisse quendam in Venetiis,
non gallinaceae salacitatis, verum ingenii stupendi maxime,
quodque vix impetret tidem, ex adjuratissimis compertum
est: qui quo pluribus atfectus fuisset plagis, eo impetuosius
ardentiusque in concubitum ferebatur praeceps.^)
Jedoch dient auch die aktive Flagellation sehr häufig
lediglich präparatorischen Zwecken, um den Flagellanten
schnell in einen für die Ausübung des Coitus günstigen
Zustand zu versetzen. Das gilt sowohl von Frauen wie
von Männern. Die Thätigkeit weiblicher Flagellantinnen
endet sehr oft mit der Herbeirufung eines Mannes, der
die durch die Vollziehung der Geisselung in ihnen erweck¬
ten Gelüste befriedigen muss. „Ces rages amourenses la
prenaient chaque fois qu’elle avait fouette quelque joli
derriere“ heisst es in einer französischen Flagellations-
schrift^J. Ebenso geht der Weg männlicher Flagellanten
nach der Ausübung der activen Flagellation nicht selten
zur Ehefrau oder ins Bordell. Thomas Barth olinus
berichtet: „Perser und Russen tractiren ihre Frauen, bevor
sie ihnen die eheliche Pflicht erweisen wollen, mit Stock-
A Eulen burg a. a. 0. S. 58.
‘A Caelii Rliodigini Lectiones antiquae, Basel 1550
fol. 412.
3) ,, Jupes trousse'es“ par E. D. Lisbonne (Paris) 1898 S. 11.
379
sdilägen auf den Hintern. Von den Letztem versichert
uns Barclay, dass die Zärtlichkeit des Ehemannes nach
der Zahl der von ihm ausgeteilten Hiebe abgeschätzt wird.
Der Neuvermählte in Russland verabsäumt die Anschaffung
von Ruten weniger als irgend ein anderes Stück seines
unentbehrlichen Hausrats. Zur Züchtigung werden jene
Ruten gewiss nicht gebraucht, folglich dienen sie keinem
andern Zwecke als dem erwähnten.“^)
Noch deutlicher geht der rein präparatorische Zweck
der Flagellation aus dem folgenden beglaubigten Fall hervor.
„Der Elementarlehrer Franjo M. in Pozega pflegte
nur allzuhäufig fünf, sechs der seiner Zeit anvertrauten
Knaben auf nacktem Leibe blutig hauen zu lassen, um
nach stundenlanger Abschindung der hilflosen Jungen
schnurstracks zu einer Buhldirne zu eilen. Er lachte
vor Vergnügen bei dem Jammergeschrei der Knaben und
seine blauen Augen funkelten dabei vor Wollust.
Die stimulirende Wirkung der aktiven, mehr noch
passiven Flagellation hat man auch zu therapeu¬
tischen Zwecken benutzt. Von den alten Aerzten ist
allen Ernstes die Plagellation dem Heilapparat der Medizin
einverleibt worden, um als probates Mittel gegen ver¬
schiedene Hindernisse des normalen Geschlechtsverkehrs
und der Fruchtbarkeit zu dienen, vor allem aber gegen
Impotenz, und zwar sowohl gegen die Impotentia gene-
randi als auch coeundi. Namentlich sollen die arabischen
Ärzte zu Salerno dieses eigenartige Rezept den in diese Kate-
y Tb. ßartholinus bei J. II. Meibomius „Von der
Nützlichkeit der Geisselhiebe u. s. w.“ in: Der Schatzgräber
u. s. w. Bd. IV. S. 257 — 258.
2) Bloch a. a. 0. Theil II S. 86.
380
gorie gehörigen Patienten verschrieben haben. So soll
der Herzog Alfonso 11. von Ferrara, T a s s o ’ s Protektor
und Peiniger, der von keiner seiner drei schönen Frauen
(Virginia von Medici, Margherita von Gonzaga
und Barbara d’Austria) ein Kind bekommen konnte,
den Beischlaf nicht früher haben vollziehen können als
nach an ihm vorgenommener heftiger Geisselung.^) Bekannt
ist auch der von dem berühmten Bekämpfer der Astrologie
Giovanni Pico della Mirandola in seiner 1495
erscheinenden Streitschrift erzählte und oft citirte Fall
eines Mannes, der ad Venerem nunquam accenditur, nisi
vapulet.“^) Eine sehr anschauliche Schilderung der Flagella¬
tion, wie sie im 18. Jahrhundert in den Bordellen bei
impotenten Wüstlingen und Greisen in Anwendung gezogen
wurde, findet sich in der Schrift von Do pp et.
„Versetzen wir uns nun auf einen Augenblick im
Geist an jene Orte, wo die Wollust feil ist. Hier werden
wir am häufigsten Gelegenheit finden, uns zu überzeugen,
wie oft man zu Geisselungen Zuflucht nehmen muss, wenn
man sich anschickt, dem Liebesgott eine Schlacht zu
liefern. Schon beim Eintritt in jene Tempel der Venus
bemerkt man ähnliche Werkzeuge der verschiedensten
Art. Die Priesterin der Wollust zeigt euch ein Kuten-
bündel, das von einer sehr eleganten ^Schleife zusammen¬
gehalten ist. Sodann führt sie euch zu einer Geissei,
die am Ende jeder Schnur eine goldene oder silberne
Spitze hat, der Griff oder Stiel ist von Kosenholz, und
die Einfassung desselben von sehr kostbarem Stolfe.
Fragt ihr sie, wie ein simpler Mann aus der Provinz,
9 Frust a a. a. 0. S. 314.
2) Vergl. Schurig a. a. 0. S. 254—255; P. Fraxi „Cen-
turia‘- S. 448—449; Eulen bürg a. a. 0. S. 59.
381
wozu diese Waffen gebraucht werden? so wird sie euch
in kindischer Weise antworten: sie dienen dazu, um
Vergnügen zu bereiten. Auch nicht eine Prostituirte
verschmäht dieses Mittel in Anwendung zu bringen, ja,
sie kommt Euch im Voraus damit entgegen, da sie an
dessen Wirksamkeit auch dann nicht verzweifelt, wenn
ein TOjähriger Greis vor ihr steht.
Ich selbst war einmal Zeuge einer seltsamen Szene,,
die den Beweis lieferte, dass die Weisheit kein Schutz¬
mittel gegen die Liebe sei. Ich ward nämlich während
meines Aufenthaltes in Paris in einen der vielen Harems
gerufen, die sich in der St Hororestrasse befinden, um
einer Venuspriesterin, die in ihrem Berufe erkrankt war,,
mit ärztlicher Hilfe beizuspringen. Als ich in ihre
Kammer eintrat, vernahm ich aus dem benachbarten
Zimmer die Scheltworte eines keifenden Weibes, das
Frauenzimmer, welches meinen Beistand erwartete, Hess,
mir nicht erst Zeit, sie um die Ursache des Lärms zu
befragen. Mit leiser Stimme bat sie mich, zu schweigen,,
sie hob ganz vorsichtig den Vorhang und Hess mich
durch eine kleine Öffnung blicken, die mir ein Schauspiel
der lächerlichsten Art darbot. Diese Szene, wie ich erfuhr,
zweimal wöchentlich aufgeführt, bot folgenden Anblick:
Die Hauptperson, eine reizende Brünette, zeigte den Hals,
die Waden und den Hintern ganz entblösst. Sie um¬
standen vier Greise mit stattlichen Perrücken. Ihre
Tracht, ihre Steilung wie ihr Mienenspiel zwangen mich,
die Lippen zu verbeissen, um das mühsam verhaltene
Lachen zu unterdrücken. Diese ergrauten Wollüstlinge
spielten, wie zuweilen Knaben unter sich zu thun pflegen,
„Schulmeisterchens“. Die Dirne Hess, das Rutenbündel
nicht aus der Hand legend, ihnen abwechselnd die kleine*
382
Züchtigung zukommen; der die meisten Schläge in
Empfang nahm, war auch der kraftloseste unter ihnen.
Die Kranken küssten ihre Gebieterin, während
diese sich mit der Züchtigung der unkeuschen Haut
abquälte, und die Komödie nahte sich erst dann ihrem
Ende, als die erschlaffte Natur aller ferneren Bemühungen
spottete. Meine Patientin fand mein Erstaunen sehr
belustigend und erzählte mir hierauf mehrere Anekdoten
noch komischerer Art, wie sie täglich in ihrem Kloster
zum Besten gegeben werden. „Wir haben“, setzte sie
hinzu, „vielleicht das wichtigste Amt in Paris, denn wir
gemessen die Auszeichnung, dass wir den angesehensten
Gliedern des Clerus, der Beamtenwelt und der Kauf¬
mannschaft die Rute geben dürfen.“
An diese Greisengeschichte schliesse ich eine andere,
die de Renneville in seiner „Geschichte der Bastille“
erzählt, und die für die merkwürdige Wirkung der
Flagellation auf abgelebte Greise einen sehr charakte¬
ristischen Beleg liefert.
de Renneville erblickte in einem Zimmer der
Bastille, das ein Greis bewohnte, eine Birkenrute auf dem
Kaminsims und fragte den Aufseher, ob diese für die
Züchtigung eines ebenfalls im Zimmer befindlichen Hundes
benutzt würde.
„Non, me dit notre feroce Philosophe, c’est le violon
de ce vieux fou, en me montrant l’antique Docteur de la
Faculte. Et soudain ce barbare Correcteur empoignant le
redoutable faisseau : allons, dit-il au puerile Vieillard, dans
l’instant, sans replique, chausses bas. Ce bon homme tout
tremblant se jeta ä genoux devant l’impitoyable Satyre,
q Doppet a. a. 0. S. 381—383.
383
et son bonnet a ses genoux, en se grattant la tete des
deux maiiis, il lui dit en pleurant: pourquoi me voulez-
vous foüeter? je n’ai pas encore fait de mal aujourd’hui.
Faut-il me supplier en voiis grattant la tete? lui repondit
Parrogant Pedant, et lui donnant des verges rudement sur
les doigts: allons encore une fois chausses bas; vous
n’amendez pas votre marche, en vous faisant tirer Poreille.
Je crus d’abord que ce n’etoit qu’un jeu; ce qui ne
m’emut pas beaucoup. Mais quand je vis le pauvre
imbecille (sic), redoublant ses pleurs, detacber sa culotte,
et troussant sa cbemise sanglante, decouvrit des fesses
toutes fletries et decbarnees, et tout en galle par la
violence des flagellations, je me mis au devant pour
empecher cet extravagant Bourreau d’outrager un Vieillard
qui auroit bien ete son Grand Pere“.
Vergebens bemüht sich de ßenneville, den Auf¬
seher von seinem Vorhaben, den Greis zu peitschen,
abzubringen. Dieser verhält sich zuerst ganz passiv.
Als aber Kenne vi Ile mit Gewalt ihn aus den Händen
seines Peinigers befreien will, sagt er zu ihm:
„MMez vous de vos affaires; je veux etre foü-
ette moi: c’est cette correction paternelle qui me tient en
vigueur“. Und er lief auf Gringalet (den Aufseher)
zu „ses chausses detachees, il lui abandonna son derriere,
qui fut fustige par le Pedant ä double reprise; car mon
Opposition avoit redouble sa fureur. Apres quoi le Docteur
flagelle, demanda du pain et du beure au PhilosojJie
bouru, qui lui en donna aux charges d’etre plus sage
ä Pavenir. “
h Constantin de Renneville „L’Inquisition Fran^-
oise ou PHistoire de la Bastille“ Amsterdam 1719 Bd. III S.
256. — Ein beigefügter kurioser Holzscbnitt illustriert die oben
geschilderte Scene.
384
[n den Flagellationsschriften wird das Motiv der
Impotenz hänfig verwertet. In der „Venus School-Mistress“
erteilt ein Arzt einem impotenten Ehemann im Bette eine
gute Tracht Prügel, worauf dieser seinen ehelichen Pflichten
nachzukommen vermag. „Madame Birchini’s Dance“
behandelt die Geschichte eines jungen Edelmannes, der
nach mannigfachen Ausschweifungen impotent geworden
ist und durch Madame Birchini’s geschickte Hand seine
frühere Kraft wiedererlangt und ebenfalls nunmehr seine
ehelichen Pflichten erfüllen kann.
In einem französischen Werke „Les Coutumes
Theatrales ou Scenes Secretes des Foyers“ (Paris 1743)
wird das Thema der Flagellation bei Impotenz ausführlich
behandelt. So sagt eine Courtisane zu ihrem Freunde:
Apprends, eher bon ami, que les coups vigoureux
Te rendront plus sensible aux plaisirs amoureux.
Ceux dont la nature trop lente
Ne peut satisfaire une amante;
Par quelques coups de yerge appliques fortement
Se portent an combat plus yigoureusement.
Der Arzt Roubaud empfiehlt in seinem Werk über
die Impotenz thatsächlich die Flagellation als ein unter
Umständen wirksames Mittel und gieht für diesen Zweck
sogar eine eigene von ihm konstruirte elektrische Flagella¬
tionsmaschine an. „J1 a fait construire, ä cet usage, un
balai metallique forme d’une centaine de fils flexibles,,
qui par la diversite de leur composition (cuivre, laiton,,
fer, platine etc.), degageraient une certaine quantite d’Mec-
tricite et dont l’action stimulante s’ajouterait ä celle de-
la flagellation.^)
Venus School-Mistress S. 95—96.
2) ibidem S. 89 — 90.
385
Auch in England wird die Flagellation öfter bei der¬
artigen Zuständen angewendet.
Ein hohes Alter hat der Gebrauch der Flagellation bei
weiblicherSterilität, wie die schon erwähnten L u p e r-
calien bezeugen. Dieses Mittel spielt im Aberglauben ver¬
schiedener Völker eine grosse Rolle. Floss und Bartels'^)
bemerken: „Man will eine ähnliche Procedur (wie bei den
Luperealien) in dem Aufpeitschen wiederfinden, welches am
1. Osterfeiertage die jungen Burschen im Voigt lande und in
anderen Teilen Deutschlands in der Frühe vornehmen,
indem sie mit frischen grünen Reisern die Mädchen aus
dem Bette jagen. Ebenso erinnert an die Luperealien das
Niederlausitzer Zempern und das Budissiner
Semperlaufen. . . Nach Pouqueville existirt in
Athen nicht bloss bei Schwangeren, sondern auch bei
solchen Frauen, die fruchtbar werden wollen, die Sitte, an
einem Felsen in der Nähe der Kallirr hoe sich zu
reiben, und dabei die Moiren anzurufen, ihnen gnädig
zu sein.“ Dieses Reiben geschah bezeichnender Weise
mit den unteren Körperteilen, ln der Kirche St. Hyacinthe
in Paris findet sich folgender Spottvers:
Femmes qui desirez de devenir enceinte
Adressez cy vos voeux an grand Saint-Hyacinthe,
Et tont ce que pour vous le Saint ne ponrra faire,
Les Meines de Ce'ans pourront y satisfaire.
Eine höchst eigentümliche therapeutische Anwendung
findet die Flagellation in dem pornographischen Machwerk
„Am Venusberg“. Hier wird ein alter, fast blinder Mann
jedesmal zu einer Abstrafung von Mädchen herbeigeholt,
weil er beim „Schalle der Rutenhiebe und dem Gewimmer
q Remo „La vie galante en Angleterre“ S. 256.
2) Floss und Bartels a. a. 0. Bd. I. S. 593—594.
25
386
der Gezüchtigten auf kurze Dauer durch Wollust (sic)
eine bessere Sehkraft erlangte, also auch darnach lechzte,
so oft als möglich dieses Glück zu erreichen“ (!!!).
Nicht minder phantastisch sind die Anwendungen der
Rute bei Wahnsinn (Caelius Aurelianus), Hypochon¬
drie, Epilepsie, Gicht, während sie als blosser Hautreiz,
als Revulsivmittel und als Suggestionsmittel gewiss nützlich
sein kann, aber doch besser durch andere, harmlosere
Mittel ersetzt wird. Cooper berichtet von einem Arzte,
der die Rute ungefähr mit den Augen ansah, wie Dr.
Sangrada das kalte Wasser und den Aderlass. Sie sei
ihm ein Universalmittel, da sie „die stockenden Säfte in
Bewegung bringt, die salzhaltigen Niederschläge auflöst,
den Körper von den gerinnenden Feuchtigkeiten reinigt,
den Kopf klar, den Unterleib frei macht, das Blut treibt
und die Nerven stärkt“.^)
Nicht minder interessant ist die Thatsache, dass man
der Flagellation einen gewissen kosmetischen Eflekt
zuschreibt. Sie soll durch die Ableitung der Blutcircu-
lation vom Innern auf die Haut die Entwickelung eines
gewissen Embonpoints in den flagellirten Teilen fördern.
Schon Galen erzählt, dass die Pferdehändler den mageren
Pferden mässige Schläge erteilen, um sie dick zu machen.^)
Besonders günstig soll die Flagellation der Ausbildung der
kallipygischen Reize sein. Dieser Glauben kommt schon
bei einem antiken Komödiendichter vor, wo erwähnt wird,
dass eine Kupplerin ihre Mädchen peitscht, damit sie vollere
Hinterbacken bekommen.^)
Vergl. das interessante Ka23itel „Die berühmten heil¬
kräftigen und medizinischen Eigenschaften der Rute“ bei
Cooper a. a. 0. S. 67 — 70.
Cooper a. a, 0. S. 68.
Eulenburg „Sadismus und Masochismus“ S. 57.
387
Dies Motiv der Flagellation ist in einer etwas freien
Erzählung „Claudine der kluge Backfisch“ verwendet
worden, wo Frau Grünebach, die seit langen Jahren Künstlern
Modell gestanden hat und seihst von ihrer Tante mit der Kute
bearbeitet worden ist, damit ihre Formen an „Plasticität“
gewännen, welcher Zweck in vollem Umfang erreicht ward,
die 15jährige Agnes, ihr Ziehkind und ebenfalls Modell-
■steherin, täglich mit der Rute peitscht. Einem sie darüber
zur Rede stellenden Künstler erwidert sie: „Meine Tante
selig, die war der Meinung, und sie hatte Recht, dass
von dem regelmässigen Bearbeiten mit der Rute ein schöner
Körper nur noch runder und gesunder wird, vorzüglich
bei jungen Mädchen. So wenigstens war es bei mir. Erst
wollten mich die Bildhauer blos zu einer Psyche als Modell
nehmen; aber von dem vielen Schlagen wurden meine
Muskeln und meine Weichteile so entwickelt, dass der
beste Bildhauer der Welt, Danske, ein Freund von.Thor-
waldsen zu meiner Tante sagte: „Das Mädchen ist, von
hinten betrachtet, zu üppig für eine Psyche, ich will sie
als Venus Kallipygos abformen. Sie verstehen ja, was ich
meine .... Nun, und als ich grösser und stärker wurde,
da bin ich als Muse Modell gestanden und dann als Medea,
.aber immer noch geschlagen von meiner Tante, die von
der Rute nicht abliess, so lange sie eine halten konnte.
Nun, und da habe ich die kolossalen Formen bekommen.“^)
Mögen nun alle diese verschiedenartigen Motive bef
der Flagellation mitwirken, zu einer wahren Leidenschaft
wird dieselbe doch erst durch die gewohnheitsmässige
Ausübung. Dies hat schon der alte Pico della Mirandula
A. P. Luciani „Claudine der kluge Backfisch“ Leipzig
{ca. 1878) S. 27 — 28. Vergl. auch hierüber die Vorrede zu den
.„Me'moires d’une danseuse russe“.
25*
388
liervorgelioben.^) Sowohl die aktive als auch die passive
Flagellation können durch häufig wiederholte Anwendung
zu einem unentbehrlichen Reiz für den Flagellanten bezw.
Flagellirten werden. Bloch bemerkt: „Was den Lehrer
und Zuchtmeister betrifft, so kann dieser im Anfang seiner
Thätigköit noch durchaus frei von irgend welchen sadisti¬
schen Neigungen sein, die sich vielmehr erst im Laufe
der gewohnlieitsmässigen Ausübung der körperlichen Züch¬
tigung einstellen, so dass diese allmählig dem Betreffenden.
Zü einem Genüsse wird.“^)
Nach einem deutschen Gelehrten lassen sich die-
Prügel einteilen in Staats- und Privat-, öffentliche und
geheime, freiwillige und unfreiwillige, zweckgemässe und
zweckwidrige, rationalistische und supernaturalistischCy
geistliche und weltliche, reguläre und irreguläre, trockene^
und saftige etc. Prügel. Ferner lassen sie sich unter¬
scheiden: 1) nach dem Subjekte, welches prügelt, 2) nacli
dem Objekte, welches geprügelt wird, 3) nach dem Ma¬
teriale womit, 4) dem Körperteile, auf welchen geprügelt.
Avird; endlich 5) nach der Dauer der Züchtigung.*'^)
Liner nicht minder subtilen Untersuchung haben.
Pater Gretser und Abbe Boileau das „Material“,,
womit geprügelt und gegeisselt wird, unterzogen, und
als hauptsächliche Prügelinstrumente Stock, Peitsche^
Kordel-, Draht- und Riemengeissel, Kuhhaut oder Farm-
schwänz, Birken- und Binsenrute bezeichn et.L Ein wohl
erschöpfendes Kapitel über die Flagellationsinstrumente-
findet sich bei Cooper, dem wir entnehmen, dass ausser
Meibom a. a. 0. S. 265.
Bloch a. a. 0. Bd. II. S. 86.
3) F r u s t a a. a. 0. S. 1.
ibidem.
389
den gewöhnlichen weiter unten genannten Züchtigungs-
instrumenten auch Hüte, Handtücher, Lineale, Besen,
Ketten, Schüreisen, Feuerzangen, Schlüsselbund, Federn¬
bündel, Fächer u. s. w. zu diesem Zwecke benutzt
worden Sind. Sir Thomas Morus pflegte seine erwach-
-senen Töchter mit einer Rute zu schlagen, die aus
Pfauenfedern angefertigt war; einige Fischweiber straften
•einen Galan mit getrockneten Aalhäuten ab und eine
Hausfrau soll ihre Köchin sogar mit einer Hammelkeule
geprügelt haben A) Hansen ergänzt diese Aufzählung
durch die folgende Mitteilung: „Der einfache Strick, den
man ums Handgelenk schlang, die frisch vom Baum
gerissene Birkenrute, der im rohen Busch abgeschnittene
schmächtige Haselstock fanden ihre Vervollkommnungen
in den mit Knoten, Dornen, Bleikugeln, eisernen Stacheln
und Nägeln besetzten Peitschen, in der neunschwänzigen
Katze, in gehärteten Riemen und Ochsenziemern, in mit
scharfen Substanzen getränkten Geissein und anderen
höllischen Schmerzerzeugern, gegen welche der Knieriem
des Schustermeisters eine lächerliche Maus ist. Die
meisten Hiebe sind von jeher mit Stock und Peitsche
ausgeteilt worden. Was nun das Verhältnis dieser beiden
Züchtigungsinstrumente zu einander anlangt, so wird kein
Einsichtiger bestreiten, dass der Stock das mildere
Werkzeug ist.“
Von diesen zahlreichen Flagellationsinstrumenten
haben sich nur einige wenige dauernder und allgemeiner
9 Cooper a. a. 0. S. 160—161. In einem „Brief von
Frau Martinet“ (in den „Flagellations-Erfahrungen“ Dresden
1901 S. 104—105) wird der Pantoffel als der beste Ersatz
der Rute gepriesen.
9 D. Hansen „Stock und Peitsche“ 2. Aufl. Dresden
1902 S. 7—8.
390
Beliebtheit erfreut. Abgesehen von der menschlichen
H a n d , die in vielen Flagellationsschriften gewissermassen
als mildes Praeludium in Funktion tritt, spielt die weitaus
bedeutsamste Bolle als Instrument par excellence der
sexuellen Flagellation die Rute, und zwar meist die
Birke nrute.^)
Sie besingt der englische Satiriker Samuel Butler^)
im „Hudibras“ :
Die Tuo-endmutter Rute straft
Und muntert auf zur Wissenschaft;
Sie kann Naturgebrechen heben
Und faulem Fleische Rührung geben
Sie legt den Grund zu allem Ruhm
In Poesie und Heldentum.
Aus Doppet’s obengenannter Mitteilung erhellt,
dass schon im 18. Jahrhundert die Rute zu den not¬
wendigen Requisiten eines Bordells gehörte, wie denn
auch Hogarth auf der dritten Tafel des Weges einer
Buhlerin das Innere eines Bordellzimmers mit einer Rute
0 Die Birke und ihr Erzeugnis besingt sohon der la¬
teinische Dichter:
Stat prope nullius non hospita laeta Betula
Arentis madidive soll nullo aere tristis.
Mollis et alba cutim, formosam xertice- fundens
Caesariem; sed mens tetrica est, sed nulla nec arbor
Nec fera sylvarum crudelior incolit umbraS';
Nam simul atque urbes concessum intrare doinosque,
Plagosum Orbilium saexumque imitata Draconem,
lila furit, non ulla xiris delicta, nec ullum
Induigens ludum pueris; inscribere membra
Discentum teneroque rubescere sanguine gaudet.
2) Butler’s Hudibras, deutsch von Eise lein S. 102,
391
ausgestattet hat, wozu Liclitenberg recht interessante
erläuternde Angaben macht. Gegenwärtig muss sogar
jede einzeln wohnende Prostituirte und Demimondaine,
um konkurrenzfähig zu bleiben, mindestens ein paar
Enten zur Verfügung haben. Car Her, der ehemalige
Polizeipräsident von Paris und ein genauer Kenner der
betreffenden Verhältnisse, bemerkt: „Bei gewissen Pro-
stituirten kann man ein wahres Arsenal von Peinigungs¬
werkzeugen erblicken, Klopfpeitschen, Ruten, knotige Stricke,
lederne Riemen, in welche Nadelspitzen eingefügt sind etc.
Das getrocknete Blut, das diese verschiedenartigen Instru¬
mente wie ein Ueberzug bedeckt, liefert den Beweis, dass
sie nicht bloss als Spielzeug und zum Schein da sind,
sondern wirklich und thats'ächlich zur Befriedigung unge¬
heuerlicher Launen angewandt werden. “i) Auch ein
Patient v. Krafft-Ebing’s stellt die Thatsache fest,
dass „jede erfahrene Protistuirte irgend ein zur Flagellation
geeignetes Instrument (gewöhnlich eine Rute) im Besitze
zu haben pflegt.“^)
Besonders wirksam sollen Ruten sein, die längere Zeit
in Essig gelegen haben. Schon Pico dellaMirandula und
Caelius Rhodiginus berichten von der Anwendung
eines „flagellum aceti asperitate obduratum“^) und de Sade
bemerkt, dass die in Essig aufbewahrten Ruten ,,acquierent
plus de verdeur et plus de piquant“ (Justine I, 262).
Eine sehr beliebte Art der Flagellation war in früheren
Zeiten und ist zum Teil noch heute die Urtication d. h. das
Peitschen mit Brennesseln, wie dies schon von Petroni us
q Ullo „Die Flagellomanie“ S. 48.
Y, K r a f f t - E b i n g „Psychopathia sexualis“ S. 95.
3) Sch urig a. a. 0. S. 254.
392
(s. oben) beschrieben wird und in dera alten Verse: ,,Mire
per urticas monachus exercet amicas“ sprichwörtlich gewor¬
den ist. Auf diese eigenartige Misshandlung des Körpers
passt wörtlich des gelehrten Virey Ausspruch, dass die
Wollust zuckersüsser sei, wenn sie brenne und kratze.^)
Auch der Dichter des „Hudibras“ gedenkt der „Nesseln,
welche die Triebe aufwecken.“'^) Der Arzt Christian
Franz Paullini kannte einen alten Gärtner, qui semper
ante exercitia venerea membrum et festes viridi urticae
fasce fricabat et caedebat, sicque rem suam agebat animose
ac feliciter. Ebenso berichtete eine Frau, Namens S u s a n n a
Luasiz vor Gericht, dass ihr Gatte ante coitum sibi
urticas porrexisse, jubendo ut membrum ejus virile caederet.
Auf diese Erfahrungen gestützt verordnete Dr. Johann
Christoph AVestphal die Urtication als Mittel gegen
Impotenz, da .ja durch dieselbe sensus tactus sensibilius
afficitur sanguinisque copiosior aftluxus excitatur.“^)
In den Departements de FAin et de la Cöte d’or in
Frankreich dient statt der Brennesseln die Linaria
cymbalaria zur Urtication. Mit den Blättern derselben,
welche auf der Haut ein überaus heftiges Brennen
verursachen, reiben sich die jungen Mädchen in der Nähe
der Geschlechtsteile so lange, bis das Blut herauskommt.
Diese ungewöhnliche Art der Masturbation ist dort sehr
verbreitet. In Kuffey (Cöte d’or) nennt man die Cymbalaria
auch „pinton“, in Poncin (Ain) heisst sie „timbarde“.^)
9 J. J. Virey „Das AVeib“ deutsch von L. Hermann,
Leq)zig 1827 S. 173.
2) Butlers „Hudibras“ ed. Eiselein S. 166.
Sch urig a. a. 0. S. 257 — 258.
4) „Folklore de la France“ in: KQVJixaÖLa^ Paris 1898
Bd. A' S. 358. — Nach Ryan a. a. 0. S. 382 soll die Urtication
nur noch selten in England ausgeübt werden.
393
Als besonders zarter Liebesdienst gilt das Flagelliren
mit Blumen, wie dies z. B. in den „Kallipygen“ (S. 78)
vorkommt und auf einem der Schrift de Villiot’s „En
Virginie“ beigegebenen Titelbilde von der Hand eines
grossen französischen Künstlers dargestellt ist.
Noch sonderbarere Arten der Flagellationsmaterialien
werden erwähnt. So wird in dem Eroticum „Am Venus¬
berg“ auseinander gesetzt,^) dass der feinfasrige Asbest
ein Mittel sei, welches zu Pulver zerrieben und auf die
menschliche Haut gebracht, dort ein heftiges Prickeln und
Brennen hervorrufe, welches immer stärker werde, je mehr
man die eingeriebene Stelle frottire oder kratze. Hierdurch
werde die gleiche Wirkung erzielt, wie durch das Peitschen,
ohne dass die Haut in erheblicher Weise verletzt werde.
Die Wirkung der Urtication und der Eute verbindet
ein nicht selten gebrauchtes Flagellationsinstrument; die
Bürste. Diese tritt z. B. in einer englischen erotischen
Schrift „Lascivious Gems“ (London 1866 S. 48 — 56) in
Funktion, wo der impotente Eduard Tracy von seiner Ge¬
liebten an den Bettpfosten gebunden, erst mit der Ente
und dann mit der Bürste bearbeitet wird. „Still, J was
not satiated. Seizing a hand brush, J struck the raw
tlesh with the bristles, and scrubbed it with them. J then
took the eau de cologne bottle from the dressing table,
and poured the contents over the parts, and resumed the
use of the hair brush. Unter diesen barbarischen Mani¬
pulationen wird natürlich der unglückliche Liebhaber
ohnmächtig.
Eaffinirte Flagellanten sind sogar auf die Idee ge¬
kommen, die Geisselung durch Maschinen besorgen zu
1) „Am Veniisberg“ S. 141 — 142
394
lassen, womöglich solche, die zngleich mehrere Individuen
verprügelt. Diese Phantasien sind meist englisch¬
amerikanischen Ursprungs. Schon im 18. Jahrhundert
machte der englische Lebemann Chace Price den Vor¬
schlag, eine Maschine zu konstruiren, die vierzig Leute
zugleich flagelliren könne ! Der berühmte Schauspieler
Samuel Foote hatte darüber mit dem Erfinder im —
Bordell der Charlotte Hayes eine längere Debatte.
Price wollte sogar diese originelle Erfindung patentireii
lassen.^) Auch Talbot sah um 1830 eine solche merk¬
würdige Flagellationsmaschine in einem Londoner Bor¬
delle.-) Neuerdings sollen die Amerikaner diese Idee
wieder aufgenommen haben. In der englischen Zeitschrift
„Society“ wird darüber folgender Brief von Henry
Rowlands vom 14. Oktober 1899 veröffentlicht:^)
„Wenn man der amerikanischen Presse glauben darf,
so haben unsere Vettern in den Vereinigten Staaten
nichts weniger als eine Maschine zur Austeilung körper¬
licher Züchtigungen erfunden.
Auf Originalität kann diese Erfindung jedoch keinen
Anspruch erheben, denn schon seit langer Zeit besitze ich
ein älteres Werk, das wenigstens schon 80 Jahre
alt ist, und welches ich bei einem Antiquar in der Rue
Montmartre vorfand, in dem ein hölzerner Apparat be¬
schrieben ist, an dem 2 Ruten befestigt sind, mit welchen
man zu gleicher Zeit einen Knaben und ein Mädchen
auspeitschen kann.
\ _
9 „Les Serails de Loadres“ S. 46.
Ryan „Prostitution in London“ S. 381.
2) „John Bull beim Erziehen“ Dresden 1901 N. F. Bd. II
S. 125. Vergl. über „Prügelmaschinen“ auch Hansen „Stock
und Peitsche“ S. 121 — 122 (mit zwei satirischen Abbildungen
S. 122 und 124).
395
Mr. Croquemitaine übernimmt dabei die nötigen^
Manipulationen beim Knaben, während Madame Bri--
quabrac ihre zärtliche Sorgfalt dem Mädchen angedeihen>
lässt. Der Zeichnung nach zu urteilen kann man mit dieser
Maschine in verhältnismässig kurzer Zeit eine ganze
Anzahl von Delinquenten vermöbeln, ohne Ermüdung oder
wesentliches Echauffement der Assistenten.“
Die an der Spitze der Civilisation marschirenden
Amerikaner haben neuerdings auch auf diesem Gebiete-
den Rekord geschlagen, indem sie die Elektricität
für den Betrieb solcher Flagellationsmaschinen heranzogen.
Die Chicagoer Zeitungen berichteten, dass eine Industrie¬
schule in Denver einen elektrischen Flagellationsapparat
für die Erziehung derselben angeschafft habe. D e
Villiot^) beschreibt denselben folgendermassen :
L’apparail en question a la forme d’une chaise äv.
laquelle il manquerait le fond ou le cannage. La patiente
est tenue de s’asseoir sur ce siege, evidemment apres
avoir prealablement decouvert ce qu’irrespectueusement
on appelle le posterieur. Cette chaise fin de siede est
suffisamment elevee pour permettre ä quatre battoirs
fixes au-dessous d’elle, d’operer librement un mouvement
rotatoire plus ou moins rapide seien le bon vouloir de-
l’operateur, qui n’a qu’ä mettre en action une batterie
electrique mise en communication avec la chaise au moyem
de fils mötalliques. Les battoirs mis en mouvement accom-
plissent fort consciencieusement leur täche et ont l’avan-
tage de produire un travail tres regle, tres regulier et sans-
la moindre fatigue pour l’operateur. Quant aux sentiments-
L de Villiot „Etüde sur la flagellation“ Paris 1899*
S. 364-365.
396
de la principale interessee, c’est-ä-dire de l’eleve qui est
fxee dans la chaise au moyen d’etaux qui lui maintiennent
solidement les poignets et les chevilles, les journaux
americains n’eii parlent pas.
L’operateur n’a qu’ä presser sur un bouton, et la
‘Chaise fouetteuse fait le reste.“
Se non e vero, e ben trovato.
Von den Flagellationsinstrumenten wenden wir uns
zu den Flagellationspersonen. Es ist nicht gleichgültig,
wer die Eute handhabt und wie sie gehandhabt wird.
Um zuerst auf den letzteren Punkt einzugehen, so ist vor¬
züglichin England die Flagellation zu einer wahren „Kunst“
ausgebildet worden und hat dort einen eigenen Berufs-
zweigder Prostitution hervorgerufen, die sogenannten
„ governesses “, die ihren Namen von den öfter von
dem Züchtigungsrecht Gebrauch machenden Gouvernanten
-entlehnt haben. In der Vorrede zur „Venus School-Mistress“
heisst es: „Die Frauen, welche den Liebhabern der
Disciplin die meiste Befriedigung verschaffen, heissen
„Gouvernanten“, weil sie durch ihre Erfahrung einen
Takt und einen modus operandi sich angeeignet haben,
den die Allgemeinheit nicht besitzt. Denn nicht die
blosse Handhabung der Rute und die Bereitwilligkeit zu
flagelliren verschaffen einer Frau den Besuch von Lieb¬
habern der Rute. Sie muss vielmehr eine Zeit lang bei
•einer anderen „erfahrenen“ Frau sich gründlich in der
Kunst ausgebildet und vervollkommnet haben. Sie müssen
•eine schnelle und intensive Methode besitzen, die ver-
397
scliiedenen Aberrationen des mensclilicben Geistes zu
erkennen, und müssen daher bereit und willig sein, ihnen
zu willfahren und entgegenzukommen.“
Daher erfordert die sexuelle Flagellation eine grosse
Delikatesse und ein gewisses savoir faire von Seiten der
Flagellanten oder der Flagellantinnen. Der Verfasser^)
einer 1868 in London erschienenen flagellantistischen
Schrift „The Merry Order of St. Bridget“ bemerkt: „Es
giebt sehr grosse Unterschiede in dor Art des Geisseins.
— Die Anwendung oder Erdulduug der Kute bringt
keinen Genuss, wenn sie aut die gewöhnlichste Art ge¬
schieht, wie wenn eine Frau im Jähzorn schlägt. Aber
wenn eine elegante, wohlerzogene Dame sie mit würde¬
voller Miene und graziöser Haltung handhabt, dann werden
sowohl die Ausübung als auch das Erdulden ein wirk¬
liches Vergnügen.“^)
Noch näher wird dies in der ,, Exhibition of Female
Flagellants“ ausgeführt. Flirtilla sagt dort: „Know
then you silly girl, there is a manner in handling this
sceptre of felicity, that few ladies are happy in ; it is not
the impassioned and awkward brandish of a vulgär female
that can charm, butthe deliberate and elegant
manner of a wo man of rank and fashion,
who displays all that dignity in every action, even to
the flirting of her fan, that leaves an indelible wound.
L „Venus School-Mistress“ S. IX.
2) Wahrscheinlich ist es Bertram, der unter dem Pseu¬
donym Cooper die „History of the Rod“ schrieb.
3) „The Merry Order of St. Bridget. Personal
Recollections of the Use of the Rod. By Margaret Anson.
York. Printed for the Author’s Friends. 1857.“ (London 1868)
S. 181.
398
’What a differonce between liigh and low-life in this
particular! To see a vulgär woman wlien provoked by her
^children seize them as a tyger would a lamb, rudely
•^expose tlieir posteriors, and correct them with an open
hand, or a rod more like a broom than a neat collection
-of twigs elegantly tied together; while a well-bred lady,
’Coolly and deliberately brings her child or pupil to task
and when in error, so as to deserve punishment, commands
'the incorrigible Miss to bring her the rod, go on her
knees, and beg with uplifted hands an excellent whip-
'ping etc.“^)
Die sexuelle Flagellation erstreckt sich nur selten
-auf den ganzen Körper. Eine solche Geisselung führt
z. B. der Mönch Clement in der „Justine“ des Marquis
de Sade aus (II, 195 ff.) Meibom erwähnt eine Geisselung
des Armes in geschlechtlicher Absicht.^) Die sogenannte
„obere“ Disciplin (Disciplina sursumodersecundum
supra) geschah auf Schultern und Kücken, bisweilen auch
auf Brust, Oberarm, Hals und Kopf, die „untere“ Disciplin
^(Disciplina deorsum oder secundum sub) auf
Lenden, Hüften und Schenkel.^) Natürlich spielt bei der
■ unteren Disciplin hauptsächlich (aus den oben angeführten
•Gründen) die Geisselung des Gesässes die Hauptrolle.
Die englische Flagellationspraxis hat noch gewisse
■raffinierte Details der Rutenapplication ausgebildet und
vor allem den berüchtigten ,,Cut up“ erfunden, das
heisst die Flagellation der Genital- und Perinealgegend,
welche in den meisten englischen Flagellationsschriften
9 „Exhibition of -Femaln Flageliants in the
.‘-Modest and Incontinent World etc.“ London 1777 S. 4.
9 Meibom a. a. 0, S. 347.
9 Frust a..a. a. 0. S. 20.
399
ausführlicher beschrieben wird, z. B. in ,,The Komance of
Chastisement, or Kevelations of the School and Bedroom“
London 1870 (S. 62), und in „The Kumance of Chastisement,
or the Kevelations of Miss Darc}^“ London 1866. In einer
neueren Schrift wird angegeben, dass der „Cut up“ sogar
in den Schulen gebräuchlich sei.^) Übrigens hat auch
der Marquis de Sa de sich diese raffinirte Marter nicht
entgehen lassen (Justine II, 197).
Weiler empfängt die Ausführung der Flagellation
noch besondere Eigentümlichkeiten und einen individuelleren
Charakter dadurch, dass sie von gewissen anderen Excen-
tricitäten und Zuthaten begleitet wird. Abgesehen von
der sadistischen bezw. masochistischen Veranlagung der
meisten Flagellanten bethätigen viele noch andere perverse
Gelüste bei Ausübung der Flagellation. Der Verfasser
von ,, Venus School-Mistress“ bemerkt: „Ich könnte einen
ganzen Band mit der Aufzählung und Erörterung aller
der verschiedenen und sonderbaren Neigungen anfüllen,
die Männer bei der Flagellation bekundet haben.
So spielt z. B. die Kleidung der Flagellantin oder
des Flagellirten eine grosse Kolle. Zahlreiche aktive
Flagellanten oder Flagellantinnen ziehen der vollständigen
Entblössung ihrer Opfer die nur teilweise vor, da dies
für sie einen grösseren Keiz hat. Mit Kecht nennt der
Verfasser der ,,Romance of Chastisement, or Kevelations
of the School and Bedroom“ (London 1870 S. 80) die
„Nacktheit im Bade“ decent in Vergleichung mit der
höchst unzüchtigen partiellen Entblössung der zu
flagellirenden Mädchen oder Knaben.
0 „With Rod and Bum; or Sport in the West End ot
London. By Ophelia Cox.A true tale by a young governess,“
London and New York 1898 S. 16.
2) „Venus School-Mistress“ S. 55.
\
400
Ähnlich heisst es in der „Rxhibition of Female
Flagellants“, dass die „Nacktheit bei der Flagellation hnmer
eine partielle sein muss, um den höchsten Grad der Be¬
friedigung zu geben'^, und es wird der Vorschlag gemacht,
die Kleidung bei den verschiedenen Individuen so anzu¬
ordnen, dass bei jeder ein anderer Körperteil den Blicken
des Flagellanten demonstrirt wird.
Neben dem Kontrast, den die Kleidung zu den nicht-
bekleideten Körperteilen bildet, wirkt auf die Flagellanten
häufig ganz besonders auch die Zusammensetzung der
Kleidung, das Kostüm als solches. Dies gilt sowohl
für die aktive wie für die passive Flagellation. So verlangt
z. B. ein passiver Flagellant, dass die ihn geissein de Frau
jedesmal zuvor ein — Nonnenhabit anlegt. In der
„Bomance of Chastisemmnt“ tragen die flagellirten Mädchen
Empirekostüm; in einer flagellantistischen Anekdoten¬
sammlung „Sublime of Flagellation“ (London 1786 S. 39)
wird ein junger Liebhaber der Rute besonders durch das
herrliche Kostüm seiner Angebeteten zu der Bitte einer
Züchtigung von ihrer Hand veranlasst. Die mit goldenen
Spangen besetzten Schuhe, die golddurchwirkten seidenen
Strümpfe, die Jupons, der Arm- und Halsschmuck haben
es ihm angethan. Vielfach werden weibliche Ober- und
Unterkleider dort, wo sie in der Gegend der Hüfte und
des Gesässes enden, noch mit besonderen Zierraten ver¬
sehen, um so die Aufmerksamkeit auf diesen Teil zu
enken.
In eigenartiger Weise scheint der bekannte Schrift¬
steller George Augustu s Sala dem Kleidungsfetischis-
L „Venus-School Mistress“ S. 54.
„The Merry Order of St. Bridget“ London 1868 S. 25.
401
mus bei der Flagellation gehuldigt zu haben. In der
von ihm zum grössten Teile verfassten erotischen Schrift
„The Mysteriös of Verbena House“ (zuerst London 1881)
nehmen die Erörterungen über Kleidung einen sehr grossen
Raum ein. So sagt er an einer Stelle; „Die grösste Feindin
der weiblichen Keuschheit ist die Berührung. Lasst das
Mädchen leichte Kleidung tragen, so wird sie kühles Blut
behalten. Nonnen, wenigstens solche auf dem Festlande,
tragen keine Unterkleidung, ebenso wenig thun dies Bauern¬
mädchen. Aber je grösser die Unzüchtigkeit ist — die
professionelle oder jede andere — desto schöner und kost¬
barer werden die Kleider, während die Prüde oder das
alte Mädchen entweder sehr unscheinbare Unterkleider
trägt oder gar keine. Ich kannte thatsächlich eine Dame,
die nicht nur selbst jede Unterkleidung verschmähte,
sondern auch ihren Töchtern verbot, welche zu tragen.
,,Sie ist unanständig“ sagte sie. Und das ist auch der
Fall. Sie bringen etwas, was dem anderen Geschlechte
angehört, mit dem Weibe in unmittelbaren Contakt.“
Reitkleidung hält er für besonders gefährlich für die
weibliche Keuschheit, wegen des engen Anschmiegens
derselben. „Lass die Grazien ganz nackt oder nur mit
einer losen Draperie bekleidet sein, und sie können so
keusch sein wie Susanna. Aber stecke sie in Unterhosen
und sie werden prostituirt werden. Wenn Diana in Unter¬
hosen zur Jagd gegangen wäre, würde sie, glaube ich,
dem armen Actäon nicht so übel mitgespielt haben.“
In seinen weiteren Schilderungen, die sich lang und breit
über die verschiedenen Möglichkeiten der weiblichen Unter-
L „The Mysteries of Verbena House, or Miss Bellasis
birched for thieving. By Etonensis“. London 1898 Bd. 1.
S. 43—45.
26
402
kleidung ergehen, verrät aber der Verfasser seine Vorliebe
gerade für diesen Teil der weiblichen Toilette.
In einer anderen FJagellationsschrift wird als besondere
Attraction die „Dame in Weiss“ geschildert.
„Frau Hautville machte für die Gelegenheit (der
Flagellation) eine sehr hübsche Toilette; sie war ganz in
Weiss, in dem Kostüm einer Novize, wenn sie den Schleier
nimmt. Das Kleid war erheblich verändert, da es lür
die Gelegenheit zu fliessend war, aber Alles war weisse
Seide und Spitzen; und wie ein lieblicher kleiner Engel
sah sie aus, als die Toilette beendet war. Vom Kopf bis
zu den Füssen hatte sie Nichts, was nicht reines Weiss
war. Weisse Atlasschuhe mit auf den Rosetten funkelnden
Diamanten; weisse seidene Strümpfe, die oberhalb ihrer
runden Kniee mit weisssammtenen Strumpfbändern mit
Atlasrosetten befestigt waren ; weisse ünterröcke aus weichem
Linnen und feinstem Flanell mit Lilien gestickt. Ihr Kleid
war aus Seide — von der weichen geräuschlosen Art, die
nicht knistert — reich mit kostbaren Mechelner Spitzen
besetzt und über ihrem Haupte hatte sie einen viereckigen
Schleier.“^)
Zu dem äusseren Schmuck weiblicher Flagellantinnen
in England gehört auch der Blumen st rauss, der ge¬
wöhnlich am Busen befestigt wird und dessen Duft sowohl
die Trägerin selbst als auch die männliche oder weibliche
Person, welche die Züchtigung erleidet, geschlechtlich
erregt.
In der „Venus School-Mistress‘‘ heisst es: „Und Du,
0 Flora! Hohepriesterin der Venus, komm und hilf
0 „Flagellations-Erfahrungen“ deutsch von E. Weber,
Dresden 1901 S. 130—131.
403
Deinen lieblichen Schwestern, ihre hübschen Köpfe und
schwellenden Busen zu verschönern ! Lass Deine süssen
Oaben die erlesenen Genüsse, welche die Liebesgöttin ihren
Verehrern schenkt, vorbereiten und verfeinern !“i) Diese
Apostrophe geht von einem Mädchen aus, das, während sie
die Eute gebraucht, gewöhnlich einen mächtigen Blumen-
strauss an der Brust befestigt, um von Zeit zu Zeit
daran zu riechen, „as the fragrance of the flowers always
excited in me the most pleasing sensations.“ Eine andere
gerät dadurch während der Flagellation sogar in einen
^,lascivious stupor“. Eine dritte berauscht sich an dem
Dufte zahlreicher verschiedener Blumen in ihrem Zimmer,
bevor sie zur Flagellation schreitet.^) Das Bouquet muss
aber möglichst hoch getragen werden, damit sein Duft
auch zu der Nase der Trägerin dringe. Manchmal wird
auch der Blumenstrauss erst nach der Flagellation als
Excitans benutzt. In der „Exhibition of Eemale Flagellants“
{Th. II S. 3) heisst es: „After she had done (whipped
her) she took Miss N. to the garden and picked for
her a beautiful nosegay, but so monstrously large that
she was almost ashamed to wear it. However as her friend
wore one of an equal size, she pinned it to her bosom;
I see, my dear, said she, 3^011 are not acquainted with
the secret influence of flowers; know my dear girl that
their sweet perfume has an uncommon effect on many
men and women; but to have that effect on men they
must adorn a lovely bosom like yours.‘‘
Der von den weiblichen Flagellantinnen getragene
Blumenstrauss übt auch auf die Flagellirten oder der
L „Venus School-Mistress“ S. 4.
2) ibidem S. 24—25; S. 31—33; S. 36; S. 45.
26*
404
Flagellation beiwohnenden Männer, eine stark erregende-
Wirkung aus. In dem Abschnitt „Blumenstrauss und
Kutenhiebe“ der aus dem Englischen übersetzten „Flagel¬
lationserfahrungen“ wird hierauf hingewiesen und erzählt,
wie ein reicher, für die Rute eine ausserordentliche Vor¬
liebe hegender Mann sich an den flagellantistischen Übungem
der von ihm für seine Töchter engagirten Gouvernante
ergötzt und ihr eigenhändig einen Blumenstrauss so gross
wie einen Besen bindet, den sie am Busen befestigen
muss, um während der von ihr den Mädchen erteilten
Züchtigung daran zu riechen, was für Mr. D. ein ,, höchst
bezaubernder“ Anblick ist.^)
Uebrigens scheint früher der Blumenstrauss und dessen
eigenartige Befestigung als Erkennungszeichen in
der flagellantistischen Prostitution gedient zu haben, so
dass die mit solchen Neigungen behafteten Männer bei
dem Anblicke eines solchen Strausses wussten, dass die
Trägerin ihre Gelüste befriedigen würde. Diese „ N o s e-
gays of lechery („bouquet de luxure“) wurden im
18. Jahrhundert vielfach von den englischen Flagellan-
O O
tinnen allabendlich in den grossen Vergnügungsgärten
Ranelagh und Vauxhall zur Schau getragen. Kaum hat
sich solch eine blumengeschmückte Venuspriesterin —
wie in der „Venus-School-Mistress“ erzählt wird — nach
Ranelagh begeben, als sie auch schon von einem leiden¬
schaftlich die Rute liebenden Gentleman angeredet wird,,
der sich gerne von elegant gekleideten und mit einem
enormen Blumenstrauss geschmückten jungen Damen
flagelliren lässt. Das war aber nur ein Fall unter vielen.“}
0 „Flagellations-Erfahrungen“ S. 137 — 139.
-) „Venus School-Mistress“ S. 51 — 52.
405
Eine besondere Gruppe von Liebhabern der Bute
bilden die sogenannten „Voyeurs“ d. h. Individuen, die
geschlechtliche Befriedigung im blossen Zuschauen bei
■der Ausübung der Flagellation durch Andere finden. „Wie
bei anderen Formen der Algolagnie kommt auch hier der
Fall vor, dass die sexuelle Erregung nicht durch active
Ausübung oder passive Erduldung der Flagellation, sondern
•durch den blossen Anblick von Flagellationszenen oder
sogar durch die blosse Vorstellung einer durch Andere
an Anderen verübten Flagellation in genügender Stärke
■erzeugt wird.“^)
So erzählt Frusta, dass ein ihm bekannter be¬
rühmter Officier noch in späteren Jahren in W. und in
M., so oft die Polizei aufgegriffene Freudenmädchen
■durchpeitschen Hess, dem einen und anderen Agenten einen
Dukaten für die Erlaubnis bezahlte, zusehen zu dürfen.-)
Derselbe Autor kannte einen angesehenen Polizeibeamten,
welcher „weibliche Personen dutzendweise mit Ruten auf
den völlig oder bis aufs Hemd entblössten Unterkörper
hauen liess. Mit gebildeten Damen in Gesellschaft sah
■er dem Spiele zu und schnupfte Tabak. In seiner früheren
Zeit gab er den Polizeiagenten zu M. und V. jedesmal
■einen Dukaten für die Erlaubnis, Mädchen oder Weiber,
welche nach 8 Uhr ohne Begleitung auf der Strasse sich
1) A. Eulen bürg „Sexuale Neuropathie“ Leipzig 1895
S. 124. In den „Memoiren einer Sängerin“ (Teil II S. 51) wird
auch diese Neigung, den blossen Anblick von Züchtigungen zu
geniessen, erwähnt und ganz richtig hervorgehoben, dass viele
•dieser Voyeurs oft eine Abneigung davor haben, selbst die
Flagellation vorzunehmen. „Es ist ein himmelweiter Unter¬
schied zwischen dem Thun und dem Zusehen“.
2) Frusta a. a. 0. S. 266.
406
hatten blicken lassen und welche daher nach der Wache'
gebracht worden waren, züchtigen zu sehen. Bei einem
der Hepp! hepp! im Jahre 1819 liess er, ebenfalls in
brillanter Gesellschaft, über 20 eingebrachte, zum Teil
sehr anständige Dienstmädchen, jämmerlich durchstäupen.
Er kam später in Ungnade, weil er einer vornehmen
Dame eine Prise Tabacfe aus einer Dose anbot, worin die
Stäupung eines jungen Frauenzimmers abgebildet zu sehen
war“J) Frusta behauptet, dass dieser Geschmack am
Zusehen bei Züchtigungen besonders in Ungarn verbreitet
sei, wo auch jener hohe Polizeibeamte denselben bekommen
habe. In der That scheint hier in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts ein derartiger Geschmack sehr verbreitet
zu sein. Denn in den „Memoiren einer Sängerin“, die
thatsächliche Verhältnisse schildern, wird erwähnt, dass bei
den nichtöffentlichen Auspeitschungen auf dem Stadthause
in Budapest immer einige Zuschauer, besonders solche
weiblichen Geschlechts und von vornehmem Stande sich
Zutritt zu verschaffen wussten, um ihre sadistischen Ge¬
lüste zu befriedigen.
Die Existenz solcher weiblichen Voyeurs bezeugt auch
eine sehr bemerkenswerte Stelle aus den 1797 in London
erschienenen „Memoirs of John Bell, a Dom^estic Servant“,,
welche Pisanus Fraxi mitteilt.^) Sie lautet:
„Der nächste Dienst, den ich antrat, war bei einer
reichen Wittwe, deren Familie aus zwei Nichten im Back¬
fischalter und einem 12jährigen Neffen bestand. Sie war
eine schöne Frau gewesen und war noch immer hübsch.
Als sie mich engagirte, bemerkte sie, dass sie auf meinen
ibidem S. 305—306.
2) P. Fraxi „Centiiria“ S. 460 — 161.
407
Beistand in allem, was sie von mir verlangen würde,
rechnete, was ich sofort zusagte. Was dieses „alles“ war,
wurde bald offenbar; denn, als ich am andern Morgen das
Frühstück hereinbrachte, fragte sie mich, ob ich jemals
Diener in einer Schule gewesen sei und geholfen habe, die
Kinder zu prügeln ? Ich verneinte dies, bemerkte aber, dass
ich oft meinen Bruder, den ich Lesen gelehrt hätte, geprügelt
habe. Etwa eine halbe Stunde später, rannte ihr Neffe gegen
mich, als ich gerade einen Teller in der Hand hatte,
welcher hinfiel und zerbrach. „Nun, John“, sagte sie,
„halte den Jungen fest, während ich eine gute Hute
hole“. Sie holte dieselbe schnell aus einem Schranke
und übergab sie mir mit den Worten: „Setz Dich hin
und gieb ihm die Kute wie Du sie Deinem Bruder ver¬
abreichtest“. Ich strafte unverzüglich den kleinen Burschen
ab und liess ihm eine gehörige Züchtigung angedeihen,
während meine Herrin mit unverkennbarem Vergnügen
jusah. „Sehr gut“, sagte sie, „Du siehst, was der Junge
nötig hat und Du kannst es ihm immer geben, wenn er
es verdient, aber nur in meiner Gegenwart, merke Dir
das“. Jetzt begriff ich, dass sie eine heftige Leidenschaft
dafür hatte, bei der Züchtigung der Kinder zuzusehen,
aber ich muss trotzdem gestehen, dass mein Erstaunen
ausserordentlich war, als sie noch an demselben Abend
nach dem Tliee mir befahl, dieselbe Ceremonie an ihren
beiden Nichten vorzunehmen. Es war in der That etwaS)
Neues für die jungen Damen des Hauses, von einem Be¬
dienten gezüchtigt zu werden. Als die Herrin mein
Zögern bemerkte, blickte sie mich streng an und rief:
„Sofort, auf diesem Sofa, oder Du verlässt das Haus!“
Hierauf verabreicht denn der Diener den beiden jungen
Mädchen und noch einmal dem Knaben die von seiner
Herrin gewünschte Tracht Prügel.
408
„Ich brauche nicht die verschiedenen Weisen zu
schildern, in welchen ich meine neuen und ungewöhn¬
lichen Pflichten ausführte. Am Morgen wünschte sie ge¬
wöhnlich die Vornahme der Züchtigung, während sie bei
der Näh-Arbeit sass und die Hiebe und ihre Nadelstiche
zählte. Am Abend genoss sie das Vergnügen beim Thee,
aus der Untertasse schlürfend, dabei in aller Euhe sagend:
„Bitte, John, ein wenig mehr rechts, das genügt!“
Schliesslich wird noch ein löjähriger Page engagirt,
der ebenfalls häufig im Beisein der Hausherrin mit der
Euthe gezüchtigt wird.
In einer alten englischen, zum grössten Teil wirkliche
Thatsachen wiedergebenden Anekdotensammlung „The
Cherub, or, Guardian of Female Innocence etc.“ (London
1792) wird das Treiben eines Flagellations -V^oyeurs sehr
anschaulich geschildert. Es handelt sich um einen reichen
alten Bankier aus der Broad Street, der mit zwei Vor¬
steherinnen von Töchterschulen (einer bei Hackney, der
anderen bei Stratford) ein Abkommen getroffen hat,
wodurch er gegen wöchentliche Zahlung einer grossen
Summe eines sehr sonderbaren Vergnügens teilhaftig
wird. Bei seinem allwöchentlichen Besuche in jeder der
Schule findet die allgemeine Abstrafung der Kinder statt..
Während der alte Herr in einem benachbarten Zimmer
durch eine Öffnung zuschaut, werden die Kinder nach
einander hereingeführt, hinten entblösst und mit der Eute
gezüchtigt.
Jj
0 „Tlie Cherub; or, Guardian of Female Innocence. Ex¬
posing the Arts of ßoarding Schools Hired Fortune Tellers
Corrupt Milliners Apparent Ladies of Fashion.“ London
1792 S. 17.
409
Der sexuelle Charakter der Flagellation tritt natürlich
am häutigsten und deutlichsten hervor, wenn dieselbe
zwischen Personen verschiedenen Geschlechtes statt-
tindet. „Der Mann hat immer im Weib in erster Linie
das Geschlechtswesen zu sehen, und der LTnterschied des
Geschlechts ist für die Sinnlichkeit von mächtiger Be¬
deutung. Kein Vater, kein Lehrer, überhaupt kein Erzieher
sollte vergessen, dass das Mädchen eben anderen Ge¬
schlechtes ist als des seinen.“^)
Eine auch ohne alle sexuelle Gelüste von einem
Manne an einem weiblichen Wesen vorgenommene
Züchtigung wird stets allein schon durch den Unterschied
des Geschlechtes eine gewisse geschlechtliche Nüancirung
empfangen, während dies bei Personen gleichen Geschlechtes
jedenfalls viel seltener der Fall ist und erst durch häu¬
tigere Wiederholung eintritt.
Wo dagegen zwischen Personen gleichen Geschlechtes
sexuelle Beziehungen bestehen, also bei Homosexuellen,
wird natürlich die Flagellation ebenso einen erotischen
■Charakter annehmen wie bei Personen verschiedenen
Geschlechtes.
Moll teilt denn auch Fälle von Flagellation
zwischen Urningen mit.^) Vor allem aber ist die Parallele
interessant, die er zwischen der passiven Flagellation und
der passiven Päderastie zieht, die er beide auf die Begierde
nach einer aussergewöhnlichen Reizung der durch sie
betroffenen Gesässgegend zurückführt. Dieser Zusam¬
menhang ist auch dem Marquis de Sade nicht entgangen.
D. Hansen „Stock und Peitsche“ S. 142.
2) Moll „Konträre Sexualempfindung“ Berlin 1899 S. 280
bis 287.
ibidem 8. 240 — 241.
410
Er behauptet, dass die passive Flagellation auch die
Neigung zur passiven Pädikation her vorrufe und umge¬
kehrt (Juliette VI, 228 Anmerkung). Ebenso konstatirt
Doppet, dass die Züchtigung auf das Gesäss mit
Ruten im Knaben nicht selten die Neigung zur Päde¬
rastie hervorrufe.^)
Ebenso kommt bei den weiblichen Homosexuellen,
den Tribaden, die sexuelle Flagellation häufig vor.
Moll nimmt an, dass die Homosexualität bei Frauen die
Neigung dazu sehr begünstige.^) Schon die Weiber aus
Ungarn, die im 14. Jahrhundert nach Deutschland kamen,
sich öffentlich entkleideten und sich unter Absingung
von allerlei seltsamen Liedern, mit Ruten und scharfen
Geissein schlugen,^) waren möglicherweise z. Th. homo¬
sexuell empfindende Frauen. Im 18. Jahrhundert sind
aus Frankreich und England (über letzteres s. unten)
mehrere derartige tribadische Flagellantinnenklubs bekannt
geworden. Über Paris bemerkt Frusta:^) „Endlich
gab es junge Personen weiblichen Geschlechtes, welche
in Gärten sich mit Rosenzweigen schlugen und milesische
Attitüden aufführten. In Paris wurden während der
französischen Revolution mehrerere dergleichen Asso¬
ciationen entdeckt, zu welchen man angesehene und
tugendhafte Frauenzimmer verlockt hatte. Man verehrte
darin Sappho als die Schutzgöttin; ihr Bildnis zierte den
Altar, in einem Saale, wo alles darauf berechnet war,
die Sinne und die Phantasie einzuschwelgern. Die Fla¬
gellation eröffuete die Orgien ; die schändlichsten Geschlechts-
D 0 p p e t a. a. 0. S. 403.
2) M 0 1 1 a. a. 0. S. 565.
3) F r u s t a a. a. 0. S. 40.
“*) ibidem S. 268.
411
yeriiTUiigen beendigten sie. Tiefer Hass gegen die Männer
war das erste Prinzip, welches ihnen eingeprägt wurde.
„La Galerie des Pemmes“ (von Jouy, Hamburg 1799)
enthält eine belletristische Bearbeitung des in den Haupt¬
zügen wahren Faktums.“')
Nach dieser Darstellung der allgemeinen Ursachen
und der Erscheinungsformen des erotischen Flagellantismus^
die bereits zahlreiche Ausblicke auf englische Verhältnisse
enthielt, betrachten wir nunmehr die spezielle Geschichte
desselben in England.
Zunächst fällt in der Geschichte der englischen
Flagellomanie eine Thatsache auf: die ausserordentliche
grosse Neigung der englischen Frauen zur aktiven
Flagellation.
Die Frage, ob die Grausamkeit häufiger bei Frauen
oder Männern vorkommt, lässt sich sehr schwer entscheiden,,
mit absoluter Sicherheit aber kann man sagen, dass die
Grausamkeit des Weibes eine viel raffinirtere ist als die
des Mannes. „Das Weib“, sagt Virey, „blutgierig und
nicht zu besänftigen in seiner Bache, treibt ebenso seine
Grausamkeit bis zur Wut, wie es auch in der Tugend
den höchsten Gipfel erreicht.““) Auch Mich eiet kon-
statirt einen grossen Unterschied zwischen der Härte eines
Mannes und der Grausamkeit einer Frau. Er fragt: „La
plus fidele incarnation du diable en ce monde, cjuelle
Vergl. auch mein Werk über den „Marquis de Sade‘^
3. Aufi. S. 178—194.
2) J. J. Virey .,Das Weib“ Leipzig 1827 S. 188 — 189.
412
est-elle ä votre avis? . . . Tel inquisiteur, tel jesuite?
Non, c’est une jesuitesse, une grande dame convertie, qui
se croit nee pour le gouvernement, qui, parmi ce troupeau
de femmes tremblantes, trancliant du Bonaparte, use ä
tourmenter des infortunees sans defense la rage des
passions mal gueries“.^) Nach Blocli^) folgt der Mann
bei grausamen Handlungen mehr leidenschaftlichen Impulsen,
während die echte, berechnende, „kalte“ Grausamkeit
besonders dem Weibe eigentümlich ist, welche durch ihre
Verknüpfung mit teuflischer Bosheit mehr Schrecken ein-
flösst als die weniger überlegte Grausamkeit des Mannes.
Niemand hat die Natur und Art der weiblichen Grausamkeit
besser erkannt und geschildert als Leopold von Sacher-
Masoch in seinen Romanen und Novellen, von welch
letzteren nur als neuerdings zum ersten Male veröffentlicht
der Cyklus „Grausame Frauen“ (Dresden 1901, 2 Bände)
genannt sei. Sacher-Masoch, dieser merkwürdige
Apologet der weiblichen Grausamkeit, schildert in allen
seinen litterarischen Erzeugnissen das „Weib mit den
Sphinxaugen, welches grausam durch die Lust und lüstern
durch die Grausamkeit wird“.^)
Es scheint, dass die weibliche Grausamkeit mit Vor¬
liebe sich der Flagellation zu ihrer Befriedigung bedientA)
J. Mich eiet „Le Pretre, la femme et la famille“ Th.
IJ Kap. 5.
-) J. Bloch „Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia
sexualis“ Teil II S. 57.
L. V. Sacher-Masoch „Grausame Frauen“ Dresden
1901 Bd. I S. 5.
4) Doch tritt die weibliche Grausamkeit auch bei anderen
Gelegenheiten in auffälliger Weise hervor. Virey citirt be¬
glaubigte Beispiele dafür. So machen sich bei vielen Wilden
die Frauen meistens das Vergnügen, die Kriegsgefangenen zu
— 413 —
f
Pisaniis Fraxi bemerkt, dass es mehr als genügend:
Beweise dafür giebt, dass die Frauen einen Genuss darin
finden, andere zu züchtigen, dass sie mehr Neigung zur
Flagellation haben als die Männer und unersättlicher
und gef ühlloser dabei sindG) Ähnlich sagt Zimmer mann
in seinem „Taschenbuch der Keisen“: ,,Es ist für das
Studium des Menschen, besonders in psychologischer Hinsicht,
höchst merkwürdig, dass vorzüglich das schöne Geschlecht
sich durch Grausamkeit dieser Art auszeichnet. Viele-
derselben machen es sich zu einem Geschäfte, bei dem
Geissein der Sklaven beiderlei Geschlechts gegenwärtig
zu sein, ja selbst die Ochsenpeitsche zu führen, oder auch
den Bomba eigenhändig zu peitschen, wenn er nicht hart
genug zuhaut. Die Hausneger sind wahre Märtyrer der
weissen Frauenzimmer“.^) Bei der entsetzlichen Flagellation,
welcher Justine am Ende des vierten Bandes von de
Sade’s ,, Justine“ (IV, 337 — 338) unterworfen wird, hat
der Autor in verständnisvoller Weise die beiden einzigen
morden und zu martern (s. Hearne, Voyage T. II p. 32).
Vergl. auch Eulenburg „Sadismus und Masochismus“ S. 72.
— Die römischen Frauen, selbst aus den ersten Ständen, giagen
noch am Anfänge des 19. Jahrhunderts, wie Abbe Richard
in seiner „Description de l’Jtalie“ T. V p. 242 erzählt, bei ihren
nächtlichen Spaziergängen im Sommer zu allen Fleischern, um
die Ochsen töten zu sehen, und ihre noch zuckenden Eingeweide
zu betrachten. Auch sei daran erinnert, dass die altrömischen
Frauen mit einer Bewegung des Daumens das Zeichen zum
Töten der Gladiatoren gaben, und dass in Spanien die Frauen
mit grösserer Leidenschaft an den blutigen Stiergefechten
hängen als die Männer. Vergleiche auch das interessante und
instruktive Kapitel „Weibliche Grausamkeit“ bei E u 1 e n b u r g.
„Sadismus und Masochismus“ S. 68 — 77.
1) P. Fraxi „Centuria“ S. 461.
Frust a a. a. 0. S. 291.
414
Frauen, die sich neben den Männern daran beteiligen,
Nicette und Zulma, als die grausamsten geschildert, die
am meisten die arme Justine peinigen.
Das englische Weib scheint nach allen Schilderungen,
die wir davon besitzen, von der Natur mit noch ein wenig
mehr Herzenskälte und Neigung zur Grausamkeit aus¬
gestattet worden zu sein als seine continentalen Geschlechts¬
genossinnen. Vortrefflich schildert Dickens in ,, Klein
Dorrit“ diesen Typus der kalten englischen Schönheit:
„Von Person war Mrs. General mit Einschluss ihrer Unter¬
röcke eine wundervolle imposante Erscheinung; voll, stolz
einherrauschend, ernst, voluminös und kerzengerade. Man
hätte sie auf die Spitzen der Alpen und in die Tiefe von
Herculanum mitnehmen können, ohne dass eine Falte ihres
Kleides aus der Ordnung geraten wäre, oder eine Steck¬
nadel ihren Platz verlassen hätte. Wenn ihr Antlitz und
Haar ein mehliges Aussehen hatten, so war es mehr, weil
sie zu den Kalkschöpfungen gehörte, als weil sie grau
geworden war. Wenn ihre Augen keinen Ausdruck hesassen,
so war es wahrscheinlich, weil sie nichts auszudrücken
hatte n.‘‘
Diese stolzen und imposanten Figuren^) sind es, welche
die englische Männerwelt von jeher vermittelst der —
Rute unterjocht haben, welche „delight in administering
the birch“. Denn das muss hervorgehoben werden, dass
die englische Flagellantin wesentlich eine aktive ist,
■^) Eine solche ist vortrefflich wiedergegebeu auf dem Bilde
eines englischen Künstlers, welches „Lady Termagant Flaybum“
darstellt, wie sie im Begriffe ist, ihrem Stiefsohn die Rute zu
geben. Reproduktion bei P. Praxi „Centuria“ S. 456 und 457;
darnach bei D. Hansen „Stock und Peitsche“ 2. Auflage
S. 177.
415
von den höchsten bis zu den niedersten Ständen. Ein
Gewährsmann von Pisanus Fraxi, selbst ein passio-
nirter Liebhaber der Kute und genauer Kenner der
einschlägigen Verhältnisse, teilte ihm mit: „Aus meiner
Erfahrung habe ich persönlich mehrere Damen von hohem
Eange gekannt, die eine ausserordentliche Leidenschaft für
die aktive Flagellation hatten und zwar diese mit erbarm¬
ungsloser Grausamkeit ausführten. Ich kenne auch die junge
und hübsche Frau eines Predigers, die die Passion bis zum
Excess trieb. Nur eine einzige Frau habe ich gekannt,
die passive Flagellation liebte, sie war aber von niederer
Herkunft. In angeheitertem Zustand Hess sie sich das
Gesäss so lange geissein, bis die Kute mit Blut getränkt
war, dabei immerzu rufend: Schärfer, schärfer! und
scheltend, wenn die Züchtigung zu milde war.“i) Nur
in England giebt es solche reichen und vornehmen Damen,
die ohne Prostituirte zu sein, die aktive Flagellation als
Sport treiben. Fälle wie derjenige der „Prügel- Wittwe“,
der in den „Flagellationserfahrungen“ mitgeteilt wird, sind
durchaus keine Ausnahmeerscheinungen im englischen
High life. lieber diese „Prügel-Wittwe“ wird an der
erwähnten Stelle Folgendes berichtet:
„Es ist noch nicht sehr lange her, als plötzlich
in der Gesellschaft eine reiche oder anscheinend
reiche Wittwe erschien. Frau W. lebte auf grossem Fuss,
hielt sich Equipagen und besass ein schön eingerichtetes
Haus mit einer Menge wohlgeschulter Diener. Niemand
kannte die Quelle ihres Reichtums, oder woher sie kam,
aber sie wurde schnell in der besten Gesellschaft bekannt
und erwarb sich durch ihr forsches Wesen und ihre
L P. Fraxi „Index“ S. XLVI.
416
Erscheinung eine hervorragende Stellung in der vornehmen'
Welt. Wie viele feinere Damen hegte sie eine geheime
Leidenschaft für die Kute, und sonderbare Geschichten
begannen durch ihre Mädchen über die Art und Weise
in Umlauf zu kommen, in welcher sie dieselbe gegen sich
seihst und gegen die Mädchen benutzte; auch besagte
ein Gerücht, dass sie die Rute gegen ihren verstorbenen
Gatten sehr freigebig anzuwenden pflegte. Nach
seinem Tode ward sie mit einem jungen Studenten
bekannt, welcher sie unter dem Vorwände, ihr Unterricht
zu erteilen, besuchte, in Wirklichkeit aber, um eine
ordentliche Tracht Hiebe aus ihrer Hand zu erhalten.“ 1}
Die Geschichte der Flagellomanie unter den englischen
Frauen lässt sich, wie schon in der Einleitung hervor¬
gehoben wurde, bis in die angelsächsische Epoche verfolgen.
Hier tritt . die Neigung der Frauen um so auffälliger
hervor, als die angelsächsischen Strafgesetze, insofern sie
körperliche Züchtigung betrafen, sehr milde waren. Einer
der besten Kenner dieser Periode, Thomas Wright,.
hebt die Grausamkeit der angelsächsischen Frauen gegen
ihre Untergebenen als eine merkwürdige Erscheinung
hervor. Es kam sogar vor, dass Diener oder Mägde von
ihren Herrinnen zu Tode gepeitscht wurden. Die
Geschicklichkeit, mit welcher angelsächsische Frauen die
Rute handhabten, wird durch zahlreiche Berichte illustrirt.
Auch haben sich bildliche Darstellungen solcher Flagel¬
lationsszenen aus angelsächsischer Zeit erhalten.^)
L „Flagellations-Erfahrungen“ Dresden 1901 S. 80.
2) T h 0 m a s Wright „Domestic Manners“ S. 56 — 57
(Darstellung einer Flagellationsszene Fig. 37 auf S. 57) ; vergl.
auch Wright „History of English Culture“ S. 69 — 70.
417
Aus späterer Zeit ist eines der interessantesten, bisher
noch nirgends veröffentlichten Dokumente für die grosse
Verbreitung der Flagellomanie unter den englischen Frauen
eine Stelle in Samuel Butler’s „Hudibras“, welcher
satirische Dichter überhaupt auf die moralischen Zustände
seiner Zeit (Mitte des 17. Jahrhunderts) sehr grelle Streif¬
lichter fallen lässt. Aus dieser Stelle geht jedenfalls mit noch
grösserer Sicherheit als aus des noch früheren Christopher
Marl owe weiter unten zu erwähnendem Epigramm her¬
vor, wie tief eingewurzelt bereits im 17. Jahr¬
hundert die Neigung zur Flagellation in der
(nota bene) weltlichen Gesellschaft Englands
war. Denn den aktiven Flagellantinnen entsprechen ge¬
wiss ebenso viele passive Flagellanten. Die auch in
Beziehung auf ihre masochistische Tendenz sehr merk¬
würdige Stelle im „Hudibras“ lautet^):
Dass kühne Ritter oft im Sturm
Erlösten Fräulein aus dem Thurm,
AVenn sie geweint in Sklaverei
Durch oder wegen Tyrannei:
Das forderte die Männlichkeit,
Der Orden, Ehr’ und Rittereid;
Denn w^ozu wären Helm und Waffen,
Als Damen Schutz und Hülf’ zu schaffen?
Doch dass ein niemals irrend Weib
Los lasse eines Ritters Leib
Hat noch kein spanischer Roman
Und klassisch Buch je dargethan.
1) Nach der Uebersetzung von Josua Eiselein, Freiburg
1845 S. 101 — 101. — Frau Igetzart spricht hier zu dem im
Zauberschlosse gefesselt liegenden Hudibras, der von ihr
befreit werden will.
27
— 418 —
Zudem ist es auch gar nicht klug,
Wenn ohne Recht und ohne Fug
Ihr diese schöne Regel wollt,
Der alle Welt Hochachtung zollt.
Nur platthin übers Knie abschnellen.
Um Euch auf freien Fuss zu stellen.
Und möcht’ ich’s auch, so dürft’ ich nicht
Denn wer hier angezaubert liegt.
Dem wird das Los, so Ihr begehrt.
Nur mit Formalität gewährt;
Er muss durch mystische Gebärden
Vom Zauber erst erlöset werden.
Denn wie’s io Rom gab kein Exempel
Dass jemand zu der Ehre Tempel
Eingehen könnt’, als durch das Thor
Der Tugend: so muss hie zuvor
Ein jeder sicli durch Gert’ und Ruten
Umbilden ernstlich zu dem Guten,
Wobei die Ritter ringsum stehn
Mit Schli essen an der Hand versehn.
Auf dass sie darin reuig dulden
Und büssen ihrer Lüste Schulden.
Die Tugendmutter Rute straft
Und muntert auf zur Wissenschaft;
Sie kann Naturgebrechen heben
Und faulem Fleische Rührung göben;
Sie legt den Grund zu allem Ruhm
In Poesie und Heldentum.
Nach dieser Zucht und Arzenei
Lässt man die Helden wieder frei;
Giebt ihnen nach Regulativ
So Reisekleid als Creditiv,
Auf dass die Schulzen allerort
Sie ungehindert schaffen fort
Mit Achtung und genauer Schau
Ganz kostenfrei in ihren Gau.
419
AVollt’ Ihr nun prüfen mir zu Ehren,
Wie gut sich Euer Fall lass’ kehren,
Und wollt, wie andern oft geschehn
Die Ruten mit Geduld ausstehn
(Wobei der segne das Gelingen,
Der Anfang giebt und auch Vollbringen!),
So lass ich Eure Ferse los
Und helf’ Euch Yon dem Zauberschloss.
Beschert das Schicksal Strang und Weib,
Warum nicht Ruten für den Leib,
Das für Yerliebte Raserei
Giebt keine bessere Arznei?
Denn Amor ist ein Knabe blind.
Wer Ruten schont, verdirbt das Kind.
Hat Xerxes nicht sogar das Meer
Woraus Amors Mama stammt her
Zerpeitschet? (Daher Rosmarin
Bei Hochzeitsfeiern noch hat Sinn.)
Wie Küfer einen Reif an schlagt
In Lydier und Phrygier Takt;
So kann auch, wer sich wacker stäuj)t
Und es mit Art und Tempo treibt.
Durch seine Haltung und Manieren
Gefühl der Liebe inspirieren.
Dies bringet wahrhaft minder Müh’
Als andre Art Galanterie,
Wer reicht der Rute nicht die Hand
Viel lieber, als zu schlucken Band,
Und Reim und Minnelied zu machen
In Morgenblatt und Almanachen?
Statt Leib und Seele zu verschwören.
Kein Weib durch Liebe zu betören.
Und ewig treu an ihr zu halten
Wie Eichen in der Klüfte Spalten;
Statt Zofen oft mit Geld und Küssen
Die Plaudermäuler stopfen müssen.
Und Eure Nase auf das Spiel
27*
420-
Zu setzen ohne Mass und Ziel'
Bei Dirnen, die ihr Augenlicht
Mit Rosen und Vergissmeinnicht
Euch als ein teuer Angedenken
Und ewig Merkmal willig schenken;
Statt dessen brauchtet Ihr nicht mehr-
Zu thun, als was ich hier begehr’,
Und was schon seit uralten, Tagen
Für ihre Damen Ritter wagen.
Bestand nicht weiland Don Quixot
Für die Toboso derlei Not?
Gab nicht für die Gebieterin
Ein Pascha sich zuin Sklaven hin.
Und liess wie Handschuhleder sich.
Die Haut zergerben ritterlich ?'
Zur Schule sandt’ man Florio
Die Brunst für Biancitiorio
Zu kühlen, und mit Rutenhieben
Ward sie ihm aus dem. Steiss getrieben..
Auch schund’ ja neulich erst bei uns
Noch eine Dame ihrem Duns,
Der Lord doch war im Parlament
Ganz jammevoll sein^Fulciment.
Sie band mit Hilfe ihrer Zofen
An einen Ring ihn bei dem Ofen,
Wo unter Hohn sie weibergell
Zergeisselte sein armes Fell,
Und trug bei nächster Session
Des Rutenhofes Lob davon.
Schwört mir, dies treulich zu vollbringen,.
So lass’ ich aus den; Zauberringen
Euch los und gcb’ Euch freien, Pass»
Der Vorfall, auf den Butler in der letzten Strophe-
anspielt, bezieht sich auf ein wirkliches Ereignis. William,,
Lord Munson, einer der Richter Karls L, hatte das-
Todesurteil nicht mit, unterzeichnet, schien daher die?
421
TPartei des Königs zu ergreifen. Dies kam seiner Frau zu
^Ohren, welche ihn, um ihm ihren Widerwillen an seinem
Verhalten recht deutlich zu machen, mit Hülfe ihrer
^Zofen an einen Bettpfosten band und dermassen mit Ruten
durch bläute, dass er verspracli, sich in Zukunft besser
-aufzuführen und seine Obern um Verzeihung zu bitten.
Das Parlament, erfreut über diese Handlung der Frau,
Üiess ihr seinen Dank dafür bezeugen, und der Vorfall
'wurde in Gassenliedern besungen :
She and her maids gave him the whip etc.^)
Jedenfalls beweist diese Stelle aus der Feder eines
Hannes, der überall in seinem satirischen Gedichte auf
■die sittlichen Schäden seiner Zeit hinweist, dass die
Rutenleidenschaft bereits um die Mitte des 17. Jahr-
.'hunderts in England bedenklich um sich gegriffen hatte.
Auch lassen sich im 18. Jahrhundert bereits
■förmliche Flagelia ntinnenklubs nachweisen, woraus
•der Schluss zu ziehen ist, dass die Zahl der mit dieser
Kieigung behafteten Frauen bedeutend zugenommen hatte.
Schon in dem 1711 erschienen „Spectator“ von Addison
werden eigentümliche Nachrichten über einen „Klub der
Balgerinnen“ mitgeteilt, die den Verdacht nahelegen, dass
•es sich auch bei diesem Klub um Flagellantinnen gehandelt
hat. Diese Schilderung findet sich im 136. Stück des
„Zuschauers“. Es heisst dort:
„Ich will meine Leser heute mit einigen Briefen
meiner Korrespondenten unterhalten. Der erste enthält
■die Beschreibung eines Klubs; ob eV wirklich oder nur
in der Einbildungskraft existirt, wage ich nicht zu bestimmen,
bin aber doch geneigter, zu glauben, dass die Verfasserin
fl Eiselein a. a. 0. S. 104 Anm. 4.
422
diese Art von nächtlichen Orgien nur aus ihrer Phantasie?
gesponnen hat. Dem sey, wie ihm wolle, ihr Brief kann
zur Besserung der Art von Charaktern, die darin vor¬
gestellt sind, und deren es nicht wenige in der Welt
gieht, vielleicht etwas bey tragen.
Mein Herr Zuschauer!
In einigen Ihrer ersten Blätter gaben Sie dem Publikum
eine ungemein unterhaltende Nachricht von verschiednen
Klubs und nächtlichen Zusammenkünften ; die Gesellschaft
aber, von welcher ich ein Mitglied bin, scheint Ihrer
Bemerkung ganz entwischt zu seyn, ich meine einen Klub
von Balgerinnen. Wir nehmen jede eine Mietkutschey
und kommen, einmal die Woche, in einem grossen im
Obern Stockwerk belegen en Zimmer, das wir zu dem Ende
immer auf ein Jahr lang mieten, zusammen. Hier sind
wir desto freyer, da unser Wirt und seine Familie, eine
stille Art von Leuten, es immer so einrichten, dass sie
an unserm Klubabend nicht zu Hause sind. Kaum haben
wir uns versammelt, da wir gleich alle die Sittsamkeit
und Zurückhaltung, womit unser Geschlecht sich leider!
an öffentlichen Oertern verlarven muss, ablegen. Unaus¬
sprechlich ist das Vergnügen, das wir von zehn Uhr
Abends bis vier Uhr Morgens geniessen, da wir eben so
roh und ungezogen sind, als wie Mannspersonen nur irgend
seyn können. Wir treiben das Spiel so arg, dass das
Zimruer den Augenblick mit zerbrochenen Fächern, zer¬
fetzten Unterröcken, Hauben und Kopfzeugen, Schleifen,
Falbeln, Strumpfbändern und Knieschürzen angefüllt ist.
Ich vergass. Ihnen gleich anfangs zu sagen, dass, ausser
den Kutschen, worin wir selbst kommen, noch immer eine
leere Kutsche bereit steht, unsre Todten vom Schlacht¬
felde wegzubringen, denn so nennen wir alle die Trümmer
423
und Fetzen, womit das Zimmer bestreut ist, und die wir
in Bündel zusammenpacken und in diese Kutsche legen.
Den folgenden Abend versammeln wir uns dann bey einer
der Schwestern, und da ist es keine kleine Lust für uns,
aus diesem verworrenen Bündel von Seidenzeugen, Stoffen,
Spitzen und Bändern, was jeder gehört, wieder zusammen¬
zulesen. Was ich Ihnen bisher erzählt habe, gilt bloss
von den Belustigungen in unsern gewöhnlichen Klubnächten;
überdem aber haben wir noch einmal in jedem Monate
ein ausserordentliches Fest, wowireinePrüde demoliren,
das heisst, wir locken irgend ein wunderliches und
pedantisches Geschöpf in unsre Gesellschaft, das wir dann
in einem Augenblick abtakeln. Unsre letzte Prüde hatte
sich mit Fischbein und Zwillich so sehr verschanzt und
versammelt, dass es uns grosse Mühe kostete, ihr anzu¬
kommen; aber Sie würden sich todt gelacht haben, wenn
Sie gesehen hätten, wie das züchtige, tölpische Ding
aussah, als es aus seinen Verschanzungen herausforcirt
war. Kurz, mein Herr, es ist unmöglich. Ihnen einen
wahren Begriff von unserm Spiel zu geben, wenn Sie nicht
einmal selbst eine Nacht unsrer Gesellschaft beywohnen;
und ist es gleiclr den Gesetzen unsers Klubs schnurstracks
entgegen, eine Mannsperson zuzulassen, so setzen wir doch
ein so grosses Vertrauen in Ihr Stillschweigen, dass der
ganze Klub bey unsrer letzten Zusammenkunft einwilligte.
Ihnen, als Zuschauer, auf eine Nacht den Zutritt zu
erlauben“.^)
Es ist sehr wohl möglich, dass Addison mit
dieser etwas verschleierten Darstellung das Treiben gewisser
„Auszug des Englischen Zuschauers“ Berlin 1782 Bd
III S. 337—340.
weiblicher Roues hat geissein wollen, die zum Zwecke
geschlechtlicher Orgien sich im Geheimen vereinigten und
wilde sadistische Ausschweifungen begingen.
Jedenfalls steht es fest, dass thatsächlich im 18. Jahr¬
hundert flagellantistische Weiberklubs in London existirten.
Eine ausführliche Schilderung eines solchen Flagel-
lantinnenklubs, der sich jeden Donnerstag Abend in der
Jermyn Street versammelt, bringt das „Bon Ton Magazine“
vom Dezember 1792:
„Diese weiblichen Genossen sind hauptsächlich ver¬
heiratete Frauen, welche, der Ehe in ihrer gewöhnlichen
Form und der kalten Gleichgültigkeit, welche nach einer
bestimmten Zeit Hymen zu begleiten pflegt, überdrüssig,
beschlossen, durch ;neue Hülfsmittel jene Ekstase wieder
zu erwecken, die sie im Anfänge ihrer Ehe kennen gelernt
hatten ....
Die ehrenwerte Gesellschaft, oder Klub, von dem wir
jetzt sprechen, besteht niemals aus weniger als 12 Mit¬
gliedern. Sechs werden jedesmal von den übrigen sechs
gezüchtigt. Sie losen um die Reihenfolge, und nach einem
jedesmals verlesenen oder ex tempore gesprochenen Vortrage
über die Wirkungen der Flagellation, wie sie seit den
ältesten Zeiten bis zu dem gegenwärtigen Augenblick in
Mönchs- und Nonnenklöstern, Bordellen und Privathäusern
geübt worden ist, nehmen die sechs Patientinnen ihre
Stellungen ein und die sechs Flagellantinnen entblössen —
die nicht nur weniger sichtbaren, sondern auch für Miss¬
handlungweniger empfänglichen, dagegen aber in Beziehung
auf Empfindlichkeit höchst lebhaften Teile und beginnen
die praktische Übung. Die Präsidentin des Klubs händigt
jeder eine grosse Rute ein und beginnt dann zuerst selbst
die Züchtigung mit jeder Abwechselung, die ihr beliebt,
während die Übrigen zuschauen.
425
Bisweilen beginnt nach den Angaben der Präsidentin
die Züchtigung an der Wade und steigt von da zum Gesässe
empor, bis die ganze Gegend, wie Shakespeare sagt,
aus Milchweiss
„Becomes one red ! !“
Nach der Präsidentin kommen die übrigen Flagellantinnen
an die Beihe.
Diese Flagellantinnenklubs sind keineswegs blosse
Produkte der Phantasie, sondern haben allem Anscheine
nach wirklich existirt und scheinen nach vielen Angaben
in der zeitgenössischen englischen Litteratur und Journalistik
heute noch zu florirenJ) Eulen bürg bemerkt zur Er¬
klärung dieser Thatsache: ,, Unter den Frauen fanden sich
zu allen Zeiten hervorragende Liebhaberinnen, wie der
passiven, so auch der activen Flagellation; und bemerkens¬
wert erscheint dabei, dass, wie weibliche Grausamkeit sich
bekanntlich überhaupt dem eigenen Geschlechte gegenüber
mit Vorliebe bethätigt, passionirte Flagellantinnen auch
aus der Flagellation ihrer Geschlechtsgenossinnen sexuell
stimulirende Wirkungen oft mit Vorliebe schöpften
Die berüchtigtste englische Flagellantin des 18. Jahr¬
hunderts war die am 14. September 1767 in Tyburn
hingerichtete Elisabeth Brownrigg, eine offenbare
Sadistin. Sie war die Gattin von James B r o w n r i g g ,
einem Bleigiesser in Fleur-de-luce Court, Fleet Street, in
London, verrichtete die Dienste einer Hebamme im St.
Dunstan- Kirchspiele und nahm auch Lehrmädchen in
Pflege. Nach aussen erschien sie als eine überaus fromme
und gottesfürchtige Frau, während sie sich im Hause
1) Eulenburg a. a. S. 66.
2) Eulenburg a. a. 0. S. 66 — 67.
426
ihren Lehrmädchen gegenüber als eine überaus grausame
Herrin sich entpuppte. Sie „erzog“ dieselben, deren sie
im Jahre 1765 drei hatte, nämlich Mary Mitchell,
Mary Jones und Mary Clifford, vermittelst täglicher
grausamer Auspeitschung. „Sie schlug die Kinder wie
ein trunkener Gemüsehändler seinen Esel zu schlagen
pflegt.“ Mary Jones gelang es zu entfliehen, Mary
Mitchell wurde aber bei einem Fluchtversuch von
dem Sohne der Mrs. Brownrigg zurückgeholt. Am
schlimmsten wurde Mary Clifford misshandelt, sie
erhielt täglich Prügel mit dem Stock, dem Besenstiel oder
der Pferdepeitsche, wurde dabei ebenso wie die Mitchell
oft gänzlich entblösst und in diesem Zustande mehrere
Stunden festgebunden, auch im Keller bei Wasser und
Brot eingesperrt. An einem Tage allein wurde Mary
Clifford fünf mal ausgezogen, festgebunden und ge¬
peitscht, an welchen fürchterlichen Misshandlungen sie
einige Tage darauf im Hospital starb, nachdem die
B r 0 w n r i g g nebst Mann und Sohn verhaftet worden
waren. Letztere kamen mit 6 Monaten Gefängnis davon,
während das grausame Weib am Galgen endete.^) C a n n i n g
verfasste als Parodie auf Kobert South ey's ähnliches
Gedicht auf den Königsmörder Martin eine poetische
Inschrift für die Zelle in Newgate, wo Mrs. Brownrigg
eingesperrt gewesen war.-)
Verg]. über diese Cause celebre Cooper a. a. 0. S»
174 — 175; „Flagfcllations-Erfahrungea“ S. 125 — 128.
2) Sie lautet;
For one long term or ere her trial came,
Here Brownrigg linger’d. Often have these cells
Ectio’d her blasphemies, as with shrill voice
She scream’d for fresh geneva. Not to her
427
Von Interesse und bezeichnend für die tief einge¬
wurzelte Neigung der Engländer zur Flagellation ist die
von Pisanus Fraxi mitgeteilte Thatsache, dass sich ein
litterarischer Verteidiger vo:i Mrs. Brown rigg fand,
der für ihr Verhalten und die Notwendigkeit excessiver
Auspeitschungen bei allen möglichen Gelegenheiten in
einer besonderen Schrift eintrat. i) Pisanus Fraxi
citirt aus dieser ernstlich gemeinten Schrift eine Stelle,,
die für die Verbreitung flagellantistischer Phantasien im
18. Jahrhundert sehr charakteristisch ist. Der Verfasser
gesteht zunächst der B r o w n r i g g durchans das Kecht
zu, ihre Lehrmädchen so viel und so oft zu züchtigen
als sie nur wolle. Denn die guten alten Gebräuche des
Landes hätten jede Art der Züchtigung gestattet, durch
welche Friede und Ordnung aufrecht erhalten werden.
Aber Mrs. Brownrigg war das Opfer ihrer eigenen
Unkenntnis. „Sie hätte ihre Lehrmädchen so oft als sie
wollte, und noch mehr züchtigen können, ohne jemals
Anstoss damit zu erregen, wenn sie dieselben nur gut
gefüttert, bequem logirt und mit Freundlichkeit behandelt
hätte, ausserhalb der Zeit der Züchtigung, und wenn sie nach
Did the blithe fields of Tothill, or tliy Street,
St. Giles, its fair varieties expand ;
Till, at the last, in slow-drawn cart she went
To execiition. Dost thou ask her crime?
She whipp’d two female ’prentices to death
And h i d t h e m in the c o a 1 h o 1 e. For her mind
Shap’d strictest plans of discipline. Sage Scheines!
Such as Lycurgus taugbt.
Vergl. G. Brandes „Die Hauptströmungen der Litteratur
des 19. Jahrhunderts.“ 6, Aufl. Leipzig 1899. Bd. IV S. 101.
„Mrs. Brownrigg’s Gase fairly considered. Addressed
to the Citizens of London“ By One of Themselves London 1767.
428
•derselben ihre Wunden ordentlich zur Heilung gebracht
und für ihre Gesundheit gesorgt hätte. Diese Vernach¬
lässigung der Körperpflege nach der Auspeitschung ist
erstaunlich. Wenn nicht vom Standpunkte der Humanität,
so sollte man doch von demjenigen der Befriedigung des
eigenen Geschmackes annehmen, dass sie es vorgezogen
hätte, reines und frisches Fleisch zu verprügeln statt
zerschundener und eiternder Flächen. Das ist ganz unent¬
schuldbar. In allen gut geleiteten Seminaren werden die
Gesässe ebenso gut verpflegt wie ihre Besitzer. Verbrecher
und Soldaten empfangen nach der körperlichen Züchtigung
ärztlichen Beistand. Ein guter Herr oder Herrin hat stets
Charpie und Salben ebenso zur Hand wie die Buten.“ Das
wird nun an den Beispielen von Mary Clifford und
Mary Jones näher ausgeführt. Dann erzählt der Ver¬
fasser, dass der Sohn der Mrs. Brownrigg, John
Brownrigg, grosses Vergnügen daran gefunden habe,
die Mädchen mit auszupeitschen. „He had several times
flogged Mary Mitchell with great gusto — fying her
up to a staple on one occasion stark naked, for stealing
some chestnuts, and using the horsewhip vigorously; nor
did he pay less attention to Mary Clifford, whipping her,
one day, tili he was quite tired, for not putting up a bed,
and, another time, when his mother’s strength was quite
exhausted, topping up the punishment with twenty cuts.“
Der Verfasser kommt schliesslich zu dem Eesultat, dass
die Brownrigg nicht vvegen der Auspeitschung, die
gerechtfertigt und immer gut angebracht sei, sondern wegen
des Aushungerns und der geringen körperlichen Fürsorge
für ihre Lehrmädchen gehängt worden sei. Die Rute
gehe aus diesem Prozesse vollkommen unangetastet in
ihrer Glorie hervor und bewähre immer ihre wundervolle
Eigenschaft :
429
It bles ses liim that gives and liim tliat takesd)
Nirgends ist die flagellantistische Prosti¬
tution so früh und in solchem Umfange ausgebildet
worden wie in England. Spekulation auf die masoch¬
istischen Neigungen der Männer zur passiven Flagellation.
verhunden mit eigener Vorliebe für die Ausübung der'
aktiven Flagellation führten viele Frauen zu einer raffi-
nirten Ausbildung der Kunst des Geisseins und der Kuten-
applikation und weiterhin zur Errichtung eigener Flagel¬
lat ionsbordeile, die seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts — vorher hatte sich um 1760 eine Mrs.
Jenkins eines grossen Eufes als Flagellantin bei der
Männerwelt erfreut'^) — und durch das ganze 19. Jahr¬
hundert eine charakteristische Erscheinung der Londoner
Prostitution darstellen.
Diese Bordelle, welche seit 1800 immer zahlreicher'
in London auftauchten, waren ausschliesslich der
Flagellation gewidmet, weshalb die Bezeichnung;
„Flagellationsbordelle“ eine zutreffende ist. Sie waren
meist mit grosser Pracht eingerichtet und dienten nicht
nur als Orte, wo die Männerwelt nach Herzenslust sich
der passiven Flagellation unterziehen konnte, sondern
auch als Lehranstalten (sit venia verbo)' für diejenigen
Mädchen und Frauen, die die „Kunst“ der graziösen und
wirksamen Applikation der Kute erlernen wollten.
0 P. Fraxi „Centuria“ S. 464 — 466.,
2) „Etüde sur la Flagellation“ S. 178.
Doch gab es auch schon im 18. Jahrhundert solche
nur der Flagellation geAveihte Institute wie z. B. das „AVhite-
Ilouse“, die „den of Mutter Cummins“, das „Elysium in
Brydges Street“ u, a. m. Vergl. P. Fr axi. „Index“ S. 312.
430
Pisanus Fraxi, der über diese Flagellationsbordelle
absolut zuverlässige Erfahrungen gesammelt hat, die nicht
in das Gebiet der Anekdote zu verweisen sind, giebt an,
dass viele der weiblichen Leiterinnen dieser fragwürdigen
Institute selbst ein grosses Interesse, ja ein leidenschaft¬
liches Vergnügen an ihrem Berufe hattenP) Es waren
nicht bloss Frauen, die nur lucri causa völlig indifferent
dem Verlangen der männlichen Flagellomanen entsprachen,
sondern die auch wirklich die Kute mit Leidenschaft und
Genuss handhabten, und insofern allerdings nicht mit
gewöhnlichen Prostituirten zu vergleichen waren. Ausser¬
dem bildeten sie, wie erwähnt, selbst Schülerinnen in der
Ars tlagellandi aus.
Nach Pisanus Fraxi würde es leicht sein, eine
sehr lange Liste dieser Leiterinnen von Flagellations-
ctablissements aufzustellen. Er beschränkt sich aber
darauf, nur die berühmtesten namhaft zu machen.
Am Anfänge des 19. Jahrhunderts erfreute sich
Mrs. Collett eines so grossen Eufes als raftinirte
Flagellantin, dass sogar Georg IV. sie besucht hat, was
s. Z. eine offenkundige Thatsache war. Sie hatte zuerst
ein Bordell in Tavistock Court, Covent Garden, von wo
sie in die Nachbarschaft von Portland Place übersiedelte
und zuletzt in Bedford Street, Kusseil Square wohnte, wo
sie starb. Sie erzog ihre Nichte zu demselben Berufe,
welche später als Mrs. Mitchell ein sehr einträgliches
Geschäft an verschiedenen Stellen betrieb, u. a. in
Waterloo Eoad No. 22 (später 44) und zuletzt in St.
Mary’s Square, Kennington. Auf sie folgte Mrs. James,
die ursprünglich Dienstmädchen in der Familie des Lord
9 P. Fraxi „Index“ S. XLVI.
431
Clanricarde gewesen war, nnd die später in Carlisle
Street 7, Soho, ein Bordell für Flagellation einriclitete,
welches ihr ein immenses V^ermögen einbrachte, so dass
sie sich später vom „Geschäft“ zurückziehen und in
Notting Hill ein höchst luxuriös ausgestattetes, mit Ge¬
mälden reich geschmücktes Haus beziehen konnte, während
sie selbst mit Juwelen über und über bedeckt sich in der
Öffentlichkeit zeigte.
Weiter verdienen eine Erwähnung die Bordelle von
Emma Lee, alias Richardson in Margaret Street
50, Regent Street, von Mrs. Philipps in Upper
Beigrave Place 11, Pimlico, von Mrs. Shepherd in
Gilbert Street 25. ö
In der Vorrede zur „Venus School-Mistrees“ werden
noch andere berühmte erfahrene Governesses aus dem
ersten Drittel des 19. Jahrhunderts genannt, nämlich
Mrs. Chalmers und Mrs. Noyeau, Mrs. Jones in
Hertford Street und London Street, Fitzroy Square,
Betsy Burgess in York Square, Mrs. Pryce in Burton
Crescent, vor allem aber Mrs. Theresa Berkley, die
„Queen of her Profession“.
Diese Königin des Flagellantismus, welche in Charlotte
Street 28 am Portland Place ihr weltberühmtes Etablisse¬
ment hatte, war eine vollkommene Meisterin ihrer Kunst,
eine vorzügliche Kennerin der verschiednen Liebhabereien
ihrer männlichen Kunden, die sie auf die raffinirteste Weise
zu befriedigen wusste, zugleich eine routinirte Geschäfts¬
frau, die während der Zeit ihrer Thätigkeit ein beträchtliches
Vermögen anhäufte.
0 Pisanus Fraxi „.Index“ S. XLIII — XLIV.
2) „Venus School-Mistress“ S. IX.
432
„Sie besass das erste grosse Erfordernis einer
Coiirtisane, nämlich Unzüchtigkeit. Denn ohne dass sie
wirklich selbst libidinös ist, kann eine Frau nicht lange
die Neigung zu einer solchen Tätigkeit behalten und man-
wird bald merken, dass sie die Hände nur nach dem
Klange der Guineen, Schillinge und Pence in Bewegung
setzt. Sie konnte sehr jovial und humoristisch auftreten,,
auch pflegte sie jede Neigung, jeden Einfall, jede Laune und
jeden Wunsch ihrer Kunden zu erforschen und zu befriedigen,
wenn ihre Geldgier dementsprechend befriedigt wurde.
Ihr Folterinstrumentarium war bedeutend reichhaltiger
als dasjenige anderer „Gouvernanten“. Ihr Vorrat au
Ruten war ausserordentlich gross. Sie wurden stets iu
Wasser aufbewahrt, um grüu uud biegsam zu bleibeu.
Sie hatte iu ein Dutzend Riemen auslaufende Peitschen,,
ein Dutzend neunschwänzige Katzen, die mit Nadelspitzen
besetzt waren, verschiedene Arten dünner biegsamer
Gerten, Lederriemeu so dick wie Wagenstränge, Pferde¬
striegel und zähe durch jahrelangen Gebrauch bei der Fla¬
gellation hart gewordene Ochsenriemen, mit Nägeln besetzt,,
ferner Stechpalmen- und Stechginsterbürsten, solche aus
einem stachligen Immergrün, genannt „butchers bush“.
Während des Sommers waren stets Gläser und chinesische
Vasen vorhanden, die ständig mit grünen Nesseln gefüllt
waren, mit welchen sie oft die Toten wieder zum Leben
erweckte. So konnte in ihrem Etablissement Jeder, der
sich nur ordentlich mit Geld versah, mit Ruten, Geissein,
Peitschen und Riemen geschlagen, mit Nadeln gestochen,
halb stranguliert, mit den verschiedenen scharten Bürsten
gebürstet, mit Nesseln gegeisselt werden, er konnte ge¬
striegelt, phlebotomirt und gemartert werden, bis er genug
hatte.
433
Denjenigen Männern, deren Leidenschaft es war, ein
Weib zu geissein, stellte sie selbst sich bis zu einem gewissen
Grade zur Verfügung. Für Unersättliche in dieser Beziehung
hielt sie Frauen zur Verfügung, die so viele Hiebe aus-
halten konnten, wie es dem Flagellanten beliebte, wenn er
nur dem entsprechend zahlte. Unter diesen befanden sich
Miss Ring, Hann ah Jones, Sally Taylor, die ein¬
äugige Peg, die pikante Poll und ein schwarzes Mädchen,
Namens Ebony Bet.“
Besonderen Ruhm auf ihrem Gebiete erlangte The r e s a
Berkley durch ihre Erfindung des „Berkley Horse“
(B erk 1 ey -Pferd) oder „Chevalet“. Sie erfand diesen
zum Auspeitschen der Männer bestimmten Apparat im
Frühjahr 1828. Im wesentlichen ist es eine verstellbare
Leiter, die bis zu einem beträchtlichen Grade ausgespannt
werden kann und auf welcher der Betreffende festgeschnallt
wurde, indem für Kopf und Genitalien Öffnungen gelassen
wurden.^) In Mrs. Berkley ’s Memoiren befand sich
ein Kupferstich, der das „Pferd“ in Action darstellte. Man
sieht Mrs. Berkley eigenhändig die Posteriora des auf
dem Chevalet befestigten Mannes peitschen, während ein
auf einem Stuhl darunter sitzendes stark dekolletirtes
Eine Abbildung des „Pferdes“ findet sich in der
Ausgabe der „Venus School-Mistress“ von 1836, wonach
Pisanus Fraxi es in seinem „.Index Librorum Prohibitorum“
zu Seite XLIV reproduciren liess. Nach dieser Reproduction
wurde das Bild wiederholt bei Hansen „Stock und Peitsche“
S. 167 und Eulenburg „Sadismus und Masochismus“ S. 61.
— Man findet das Chevalet auch auf modernen Flagellations¬
bildern. In Paris soll es w^älirend der Weltausstellung von
1900 practische Verwendung und viel Anerkennung bei Lebe¬
männern gefunden haben. Vergl. Hansen a. a. 0. S. 171.
28
434
Mädchen ihm Dienste als ,,Frictrix“ leistet. Als solche
Frictrices im Dienste der Berklej werden genannt eine
schwarzhaarige Miss Fisher, eine Blondine Mrs. Willis,
die lustige T h u r 1 o w , die hochbusige G r e n v i 1 1 e , die
Kallipyge Bentinc, die braune Zigeunerin Olive, die
sanfte Miss Palmer und die sowohl als aktive wie als
passive Flagellantin hervorragende Miss Pryce.
Die neue eigenartige Erfindung brachte der Berkley
einen grossen Zulauf und riesige Einnahmen. Als sie im
September 1836 starb, hinterliess sie ein Vermögen von
10000 Pfund, das sie in 8 Jahren erworben hatte. Das
Original des B e r k 1 e y- Pferdes wurde von dem Testa¬
mentsvollstrecker Dr. Vance der „Society of Arts“ in
den Adelphi, London geschenkt. In ihren Memoiren fand
sich auch die bildliche Darstellung einer anderen Specialität
ihres Etablissements, das war ein Flaschenzug in dem
ersten Stockwerk, mit welchem sie einen Mann an den
Händen aufziehen konnte, um ihn dann in dieser Lage
zu flagelliren.
Die lange angekündigten Memoiren der Berkley
wurden durch Dr. Vance zurückgehalten und auch nach
dessen Tode nicht publicirt. Kurz nach dem Tode der
Berkley, kam ihr Bruder, der 30 Jahre Missionar in
Australien gewesen war, zurück, verzichtete aber auf die
Erbschaft, als er deren Ursprung erfuhr, und kehrte sofort
nach Australien zurück. Da Dr. Vance, ihr Arzt und
Testamentsvollstrecker ebenfalls die Annahme verweigerte,
fiel das Vermögen der Krone zu. Die sehr reichhaltige,
mehrere Kisten füllende Correspondenz der Berkley,
welche sehr compromittirende Briefe von männlichen und
weiblichen Personen aus den höchsten Ständen enthielt,
kam in den Besitz des Dr. Vance und ist wahrscheinlich
von diesem vernichtet worden.
435
Die „ Äuto-biography of tlie late Theresa Berkley,
01 Charlotte Street, Portland place, containing Anecdotes
of many of the present Nobility, and others, devoted to
•erotic pleasures, with numerous Plates,“ die am Ende der
„Venus School-Mistress“ (Ausgabe von 1836) als im Druck
befindlich angekündigt wird, scheint nie das Licht erblickt
zu haben.
Eine interessante Charakteristik der Mrs. Berkley
findet sich in dem „Advertisement“ zum dritten Bande
des „Voluptarian Cabinet“ (London 1828) der berüchtigten
Bordellunternehmerin Mary Wilson (vergl. über diese
Bd. I dieses Werkes S. 273 — 279), die ebenfalls zeitweilig
Flagellationsetablissements leitete und eines derselben der
Theresa Berkley im Jahre 1828 übergab. In dieser
„Anzeige,“ datirt ,,Hall Place, St. John’s Wood, 12.
November 1828“ sagt sie: „Denjenigen Gönnern, die mich
als eine „Governess“ aufzusuchen pflegten, erlaube ich
mir, mitzuteilen, dass ich mein Flagellationsinstitut in
Tonbridge-place, New Eoad, Saint Pancrass aufgegeben
und mich zu Gunsten der Mrs. Theresa Berkley, die
ich aufrichtig empfehlen kann, vom Geschäfte zurück¬
gezogen habe. Sie ist eine kluge, angenehme und ver¬
trauenswürdige Frau, in der Blüte des Lebens und voll¬
kommene Meisterin in ihrer Kunst. Sie ist eine ausge¬
zeichnete „Ontologistin“ und daher völlig au fait in der
Behandlung der wunderbaren Aberrationen des mensch¬
lichen Geistes. Ihr Museum von natürlichen und künst¬
lichen Kuriositäten und ihre Collection von Illustrationen
„De arcanis Veneris et amoris“ sind bei weitem die
reichhaltigsten, die man in irgend einem ähnlichen Institute
finden kann.“
Bekanntlich vergalt Theresa Berkley gleiches
mit gleichem und spendete der in Not geratenen Geschäfts-
28*
436
freundin gleiches Lob, worüber bereits in Teil I dieses^
Werkes (S. 278 — 279) ausführlicher berichtet worden ist.
Unter dem Namen der B e r k 1 e y als Verfasserin
geht ein ca. 1880 erschienenes Eroticum „The Favourite
of Venus,“ welches aber nichts mit ihr zu thun hat.i)
Einen sehr interessanten Einblick in das Treiben der
Flagellantinnen, und in die Excentricitäten ihrer männ¬
lichen Klientel gewährt der folgende, in der „Venus School-
Mistress“ zuerst veröffentlichte’^) Brief eines solchen Flagello-
manen an die Berkley:
„Dublin, im Januar 1830
An Madame T. Berkley,
28 Charlotte Street-Portland Place.
Verehrte Frau!
Ich bin ein „ungezogener Junge“ und zwar absolut
unverbesserlich! Die berühmtesten Gouvernanten von
London haben mich bereits unter ihrer Fuchtel gehabt,
ohne dass es ihnen gelungen wäre, meine Widerspenstig¬
keit zu besiegen. Ein Gentleman, bekannt unter dem
Namen de Brunswick, wies mich an eine Madame
Brown, welche eine bedeutende Kraft in den Armen
besitzen soll. Ein anderer empfahl mir Mme. Wilson
in Marylebone, welche noch weniger zart gebaut wäre.
Der alte Hotelier Jaunay vom Leicester Square schlug mir
Mrs. Calmers vor, welche eine grosse Roirtine im Gebrauch
des Stockes besitzen soll. Ich erhielt auch eine Einladung
zum Diner bei dieser Dame. Sie empfing mich in ihrer
9 P- Fraxi „Catena“ S. 146.
2) „Venus School Mistress“ S. VIII-XIV. — Die obige
deiitscbe Übersetzung stammt Yon Hansen in seinem Werke
„Stock und Peitsche“. 2. Aull. S. 168— 171.
437
elegant eingerichteten Wohnung, doch vergebens! Trotz
ihrer inaponirenden Gestalt und der Kraft ihres Annes
konnte sie keinen dauernden Eindruck auf mich hinter¬
lassen! Ein anderer riet mir, es bei Mrs. Jones zu
versuchen. Aber auch sie, wie alle anderen, mühte sich
vergebens ab, meinen Kücken mit Stöcken zu bearbeiten.
Der Kapitän Johnson bestand darauf, dass ich Betsy
Burgess besuchte, welche eine geschickte Gouvernante
sein soll. Der Buchhändler Brookes von der Bond Street
gab mir eine Karte der Mrs. Coli et t und Beverley.
Ich habe wohl gemerkt, dass diese Damen ihr Metier ver¬
standen, aber es gelang ihren vereinten Anstrengungen
nicht, Eindruck auf mich zu machen.
Schliesslich, meine verehrte Dame, habe ich eine
Empfehlung von Ihrem vertrauten Freunde, Graf G . ,
erhalten, über welche ich vor Freude springen möchte,
nachdem man mir von Ihrem famosen Apparat, dem
Chevalet, erzählt hat, welcher dazu dienen soll, uns un
gezogene Jungen abzustrafen.
Ich werde Ihnen zu Anfang des Monats Februar
meinen Besuch machen, wenn ich mit meinem Freunde,
dem Grafen nach London komme, wo uns parlamen¬
tarische Pflichten erwarten; abei’, damit kein Missverständnis
zwischen uns möglich ist, füge ich gleich meine Beding¬
ungen bei:
1. Es ist nötig, dass ich auf dem Chevalet gut be¬
festigt w’^erde mit den Ketten, welche ich selbst
mitbringe,
2. Ein Pfund Sterling für den ersten Blutstropfen.
3. Zwei Pfund Sterling, wenn das Blut bis zu meinen
Fersen rollt.
4. Drei Pfund Sterling, wenn meine Fersen vom
Blute umflossen sind.
438
5. Vier Pfund Sterling, wenn das Blut sich auf dena
Fusshoden verbreitet.
6. Fünf Pfund Sterling, wenn Sie bewirken, dass ich .
das Bewusstsein verliere.
leb bin, verehrte Frau
Ihr vollkommen unverbesserlicher
Frobenius O’Flunkey“»
Auf den ersten Blick erscheint dieser Brief als ein
witziger Scherz, den sich Mr. O’Flunkey mit der
Berk] ey erlaubt hat. Wenn man sich aber an das oben be¬
schriebene Folterinstrumentarium der Berkley erinnert,
dessen consequente Anwendung sehr wohl die hier ge¬
schilderten Folgen hervorrufen konnte, wenn man ferner
bedenkt, dass noch he u tzu tage Masochisten sich in der
schauderhaftesten Weise martern und zerschinden lassen,
wie aus den Schilderungen bei v. Krafft-Ebing, v.
Schlichtegroll, Bloch u. A., sowie aus den maso¬
chistischen Eroticis der neueren Zeit erhellt, so darf
man auch die absonderlichen Wünsche des Herrn Frobeniu&
O’Flunkey vollkommen ernst nehmen.
Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
florirten die Flagellationsetablissements in London. U. a.
erlangte in den 60er Jahren Mrs. Sarah Potter grossen
Euf. Über sie handelt eine besondere kleine Schrift, die
gelegentlich der Verhaftung der Potter im Jahre 1863
(unter der Anschuldigung ein Mädchen wider ihren Willen
geschlagen zu haben) veröffentlicht wurde. Es heisst
•
9 „Mysteries of Fl a g el 1 ati on, or, A History of the-
Secret Ceremonies of the Society of Flagellants. The Saintly
Practice of the Birch! St. Francis wbipped by the Devil! How
to subdue the Passions by the Art of Flogging! With many
curious Aneedotes of the Prevalence of this Peculiar Pastime?
439 —
darin: „Um jene Zeit (Juli 1863) wurde unter den
Auspicien der Gesellschaft für den Schutz weiblicher
Wesen“ die damals berüchtigte „Akademie“ der Sarah
P Otter, alias Stewart in Wardour Street — das ist
falsch, denn die Verhaftung fand in Albion Terrace 3
King’s Road, Chelsea statt, wohin Mrs. Pott er von der
Wardour Street einige Monate vorher verzogen war —
aufgehoben und eine merkwürdige Sammlung von
Flagellations-Apparaten nach dem Westminster-Polizei-
gericht gebracht, wo das grosse Publikum zum ersten
Male erfuhr, dass junge Mädchen in die „Flagellations¬
schule“ der Stewart gelockt wurden, um dort von alten
und jungen Flagellanten mit der Rute gezüchtigt zu
werden, wofür die Stewart Geld empfing. Die kuriose
Einrichtung ihres Geschäftes bestand aus einer zusammen¬
klappbaren Leiter, aus Riemen, Birkenruten, Stechginster¬
besen und geheimen Vorrichtungen für den Gebrauch von
Männern und Weibern.
Sie trieb ihr Geschäft auf die Weise, dass sie jungen
Mädchen Wohnung, Essen und Kleidung gewährte, wofür
dieselben verpflichtet waren, den Lüsten der Klientel des
„Boardinghouse“ dienstbar zu sein. Sie wurden auf
verschiedene Weisen flagellirt. Manchmal wurden sie an
die Leiter gebunden, ein andermal im Zimmer umher¬
in all Nations and Epochs, whether Savage or Civilized.
Printed by C. Brown, 44 Wych Street, Strand. Price 2 d.“
Auf dem Titelblatt ein Holzschnitt, welcher ein sich ent¬
kleidendes Mädchen darstellt, während zu beiden Seiten ein
alter Mann und eine alte Frau stehen, die beide in der Rechten
eine Rute halten, der Mann ausserdem in der Linken ein
Tau; im Hintergründe befindet sich eine Leiter. — Vergl.
Pisanus Fraxi „Jndex“ S. 311.
440
gepeitscht, zuweilen auf das Bett gelegt. Jeder Einfall,
jede Variation, die eine perverse Phantasie nur ersinnen
konnte, wurde ausgeführt, um die Orgien abwechslungs¬
reich zu gestalten, für welche die Hausherrin Summen
von 5 bis zu 15 Pfund Sterling erhielt. Die Einnahmen
aus dieser „Schule“ setzten die Steward in den Stand
sich ein Landhaus zu mieten und einen Geliebten aus¬
zuhalten, zum grossen Ärgernis der Nachbarschaft.“
Pisa n US Fraxi nennt diesen Bericht stark über¬
trieben. Denn kein Mädchen wurde gegen seinen Willen
flagellirt, da es ja selbst gewöhnt war die Gentlem.en zu
geissein und sich freiwillig gegen gute Bezahlung der
Auspeitschung unterwarf. Ausserdem ist es sicher, dass
das Mädchen, wegen dessen Misshandlung die Potter
ins Gefängnis kam, nach der Entlassung der letzteren,
wieder zu ihr zurückkehrte und eine geraume Zeit bei
ihr in Howland Street wohnte.
Mrs. Sarah Potter, alias Stewart, war eine
Kupplerin von Ruf und machte eine Zeit lang gute
Geschäfte. Während ihrer abwechslungsreichen Laufbahn
wechselte sie sehr häufig ihre Wohnung, begann ihr
Geschäft in Castle Street, Leicester Square, wohnte dann
in Wardour Street, später in Albion Terrace, King’s Eoad,
Chelsea, in Howland Street, Tottenham Court Road, wo
sie wegen Verkaufs indecenter Bücher an geklagt wurde
und wieder ins Gefängnis kam, dann in Old Kent Road
und zuletzt in Lavinia Grove, King’s Cross, wo sie
1873 starb.
Die unter ihrer Leitung stattfindenden Flagellationen
wurden hauptsächlich Männern verabreicht, obgleich
natürlich bisweilen auch Mädchen gezüchtigt wurden.
Ihre Spezialität war die Beschaffung sehr junger Mädchen,
— 441 —
mit deren Eltern sie gewölinlich ein Abkommen traf,
um sich vor gerichtlicher Verfolgung zu schützen. Sie
kleidete diese Kinder in phantastische Kostüme und
brachte ihnen allerlei Tricks zur Erheiterung ihrer Be¬
sucher bei.^)
Mehrere in der letzten Zeit existierende Flagellations¬
bordelle werden von Pisanus Fraxi erwähnt, u. a.
eines, wohin ca. 20 junge Mädchen kamen, um alle
Phasen einer „Schoolmistress“ durchzumachen und heltig
die Eute zu geben. Die von ihren „Zöglingen“ schriftlich
eingesandten Wünsche waren oft sehr merkwürdig.
Einige Männer wünschen wie Kinder übers Knie gelegt
zu werden, andere wollen auf dem Kücken einer Dienst¬
magd abgeprügelt, noch andere wollen gefesselt werden.
Ein Artikel von Otto Brandes unter dem Titel
„Die Auspeitscherin“ im „Zeitgeist“ (Beiblatt zum ,, Ber¬
liner Tageblatt“) vom 23. Oktober 1893, und die anno
1900 in der englischen Zeitschrift „Society“ veröffent¬
lichten Briefe beweisen, wie sehr noch immer die Neigung
zur aktiven Flagellation unter den englischen Frauen
verbreitet ist. Während meines Aufenthaltes in London
im Jahre 1901 galt ein inzwischen aufgegebener Hand¬
schuhladen in Great Windmill Street als ein solches
geheimes Flagellationsbordell. Im Allgemeinen aber
haben sich die alten „flogging establishments“ in die
modernen „manicure institutes“ u. dgl. umgewandelt, von
denen man heute sehr elegant eingerichtete besonders in
der Nähe von Bond Street trifft.
0 Pisanus Fraxi „Index“ S. 313.
2) ibidem S. XLIV; S. XLVI.
442
Originell ist folgende Einladungskarte an die „Gent-
lemen Flagellants“, die am Ende der Schrift „Sublime
of Flagellation“ abgedruckt ist.^)
„Eine kurze Zeit nach dem Erscheinen der „fashio-
nablen Vorlesungen“ in Paris wurde die folgende Karte
von den Buchhändlern jedem Käufer des Werkes über¬
mittelt.
Alle Käufer der „Vorlesungen“, die begierig sind,
die Wirkung derselben zu beurteilen, wenn sie gehörig
abgehalten werden, werden an eine Dame von aus¬
gezeichneter körperlicher und geistiger Bildung verwiesen,
die, wenn man ihr ein gehöriges Kompliment macht, jedo
der Vorlesungen mit aller Beredsamkeit und glücklicher
Vereinigung einer energischen leidenschaftlichen Stimme-
und Bewegung halten wird.
Die Dame hat ein eigenes Haus. Ihr „Vorlesungs-
Zimmer“ ist mit Enten, neunschwänzigen Katzen und einigen
der besten Bilder über Flagellation ausgestattet. Die
Dame hat ein starkes Weib bei sich im Hause, die im
Stande ist, einen Mann auf den Kücken zu nehmen, falls
er wie ein Schuljunge behandelt sein will; sie und ihre
Dienerin erbieten sich auch zur passiven Flagellation, wenn
es verlangt wird. Preis der ersten Vorlesung eine Guinea
— jeder weiteren eine halbe Guinee, und dem Mädchen,
wenn es als Pferd gebraucht wird, eine halbe Krone.
N. B. Einzelne Herren, die gerne Schuljungen dar¬
stellen, können auch von der Mistress und ihrer Dienerin
zu jeder Stunde, besonders aber früh Morgens vor dem
Aufstehen besucht werden, wo sie dann diese entzückende
Unterhaltung haben können, aus dem Bette genommen.
ibidem S. 259.
443
aufs „Pfercl‘^ gesetzt und gepeitscht zu werden, was mit
bewunderungswürdiger Kunst ausgeführt werden wird.“
Wie sich schön aus den bisherigen Mitteilungen ergiebt^
haben die männlichen Flagellomanen zwar in weitaus
den meisten Fällen das Bedürfnis selbst flagellirt zu werden,
üben jedoch nicht selten auch die aktive Flagellation aus,,
die sich sowohl auf Mädchen als auch auf Knaben erstreckt.
In der Vorrede zur „Venus School Mistress“^) werden die
männlichen Flagellanten in drei Klassen eingeteilt:
1. Diejenigen, welche es lieben, eine mehr oder minder
strenge Züchtigung von der Hand eines schönen Weibes
zu empfangen, das genügend stark ist, um die Rute mit
Kraft und Wirksamkeit zu handhaben.
2. Diejenigen, welche es lieben, selbst einem weib¬
lichen Wesen die Rute zu geben.
3. Diejenigen, welche weder passive noch active Flagel¬
lanten sind, aber genügende sexuelle Erregung aus dem
blossen Zusehen bei der Flagellation schöpfen.
Hinzufügen kann man auch die Fälle, in welchen
Männer es lieben, sich von Kindern flagelliren zu lassen
oder selbst Kinder zu flagelliren, seien es Mädchen oder
Knaben.
Diese verschiedenen Rubriken begegnen uns in der
Geschichte der männlichen Flagellanten in England.
Einen Vertreter der passiven Flagellation schildert
schon der alte Christopher Marlowe (1564 — 1593).
in dem folgenden charakteristischen Epigramm:
AYhen Francus comes to solace with bis whore,
He sends for rods and strips himself stark naked;
For bis liist sleeps, and will not rise before
G „Venus School Mistress“ S. VIH.
444
By wliippiDg of the wench it be awaked.
J envy liim not, but wish J had the power,
To make his wench but one half hourd)
Dagegen war offenbar jenes Individuum von der
„flagellandi iam dira cupido“ ergriffen, welches gegen das
Ende des 17. Jahrhunderts die Strassen Londons dadurch
unsicher machte, dass es allen ihm begegnenden Frauen
die Kleider aufhob und ihnen einen Klaps oder Schlag
versetzte. Er ging dabei so geschickt zu Werke, dass der
Volksglaube ihn mit übernatürlichen Kräften ausstattete.
Man nannte ihn „Whipping Tom“. Pisanus Fraxis)
erwähnt ein litterarisches Curiosum, welches von diesem
eigenartigen Flagellanten handelt, betitelt: ,, Whipping
Tom Brought to light, and exposed to View: In an
Account of several late Adventures of pretended Whipping
Spirit. London, Printed for Edward Brooks 1681.“
Darin wird Whipping Tom’s Vorgehen folgender-
massen geschildert:
,, Whipping Tom for some weeks past, has lurked
about in Alleys, and Courts in Fleet-street, Chan-
cery-lane, Shoe-lane, Fetter-lane, the Strand,
Holbourn, and other places, and at unawares seazes
upon such as he can conveniently light on, and
turning them up as nimble as an Eel (sic), makes their
Butt ends ery Spanko; and then (according to the Report
of those who have feit the weight of his Paws) vanished;
for you must know, that having left the Country, he has
not the advantage of getting Rods, and therefore is obliged
to use his hands instead thereof: His first Adventure, as
1) „The Works of C h r i s t o p h e r M a r 1 o w e“ London
1826 Bd. III S. 454.
2) P. Fraxi „Centuria“ S. 469.
445
near as we caii learn, was on a Servant Maid in New
Street, who being sent out to look her Master (sic), as
she was turning a Corner, perceived a Tall black Man
Standing up against the wall, as if lie had been making
water, but she had not passed for, buth with great speed
and violence seized her and in a trice, laying her cross
Ins knee, took up her Linnen, and lay’d so hard upon
her Backside, as made her cry out most pitiously for help,
the which he no sooner perceiving to approach (as she
declares) but he vanished; and although diligent search
was made, no person could be found.“
Schon um diese Zeit, wo die Geschichte des „Whipping
Tom “ spielte, hatte sich der A usdru ck „ f 1 o g g i n g c u 1 1 i e s “ ^
für die männlichen Flagellomanen gebildet, die also schon
damals in verhältnismässig grosser Zahl vorhanden sein
mussten. Denn Ne d Ward, der berühmte Verfasser des
„Londoner Spions“ giebt uns bereits 1704 eine ausführ¬
liche Nachricht von dem Treiben dieser Liebhaber der
Rute.^)
Als er eines Abends mit einem Freunde in dem
Bordell „Widows Coffee-House“ (der Name erinnert an die
bekannten Berliner ,,Wittwenbälle“) sich im Gespräch mit
den ,, lustigen Damen‘* des Etablissements befand, kam
ein etwa öOjähriger Mann in Mantel nnd Pelerine stöhnend
y „Cu 11“ oder „Cully“’ bedeutet entweder Zuhälter oder
häufiger den Kunden eines Bordells, der für „geheime, süsse
und kostbare Gunstb “Zeugungen“ Geld bezahlt. Poll
Ellis (eine Dirne) trug ein grosses Netz, um, wie sie ironisch
sagte, besser die „culls“ darin zu fangen. Vergl. John Bee
„Sportman’s Slang etc.“ S. 61.
2) Edward Ward ,,The London Spy compleat“ second
Edition, London 1704 S. 32 - 33.
446
und ächzend die Treppe herauf, worauf die Bordellmutter
billig zu Friss (einer Dirne) ging und sie fragte, ob
Ruten im Hause seien. „Da ich ganz nahe dabei sass,
hörte ich die Frage. Die Dirne antwortete: ,, Jawohl,
Ihr wisst ganz gut, dass ich gestern für 6 Pence welche
geholt habe.“ Beim Eintritt dieses würdigen Lüstlings
entfernten sich die Damen aus unserer Gesellschaft und
begaben sich als sittsame Jungfrauen in ihr geheimes
Arbeitszimmer der Sünde, und Hessen den alten Sünder
in dem ,, Winter seiner Wollust“ seine grauen Haare mit
einem Tropfen stärkenden Labsals wärmen, während wir
unsere Rechnung bezahlten, man uns hinab leuchtete, und
wir den wollüstigen Satyr, eine Schande seines Alters, den
zwei Hexen als Beute überliessen. Er befand sich, glaube
ich, in einer schlimmeren Lage als ein Mensch zwischen
zwei Stühlen oder als Lot in Sodom zwischen den Reizen
seiner losen Töchter. . . . Als später der alte Sünder in
das Kaffee-Zimmer kam, fragte ich einen der Anwesenden,
was es zu bedeuten hätte, dass Mutter Beelzebub die Dirne
gefragt habe, ob Ruten im Hause seien. Er lächelte bei
meiner Frage und bemerkte, dass er glaube, mir von
einem neuen Laster berichten zu können, von dem ich
kaum etwas gehört hätte. „Dieser heuchlerische. Heilige,“
sagte er, „gehört zu denjenigen aus der schwarzen Schule
von Sodom, die die in der Wissenschaft der Unzucht
erfahrenen Leute „flogging c ullies“ nennen. Dieses
unnatürliche Tier bezahlt jenen Dirnen, die Ihr gesehen
habt, Geld, worauf sie ihm die Hosen herunterziehen und
seine geheimen Teile peitschen, bis seine Brunst befrie¬
digt ist. Während der ganzen Zeit fleht er sie um Er¬
barmen an, wie ein Verbrecher am Pranger und bittet
sie um Verzeihung. Aber je mehr er dies thut, um so
447
kräftiger sind sie angewiesen, ilm zu geissein, bis er in
tierische Ekstase gerät, worauf sie mit der Flagellation
auf hören.
Wie erwähnt bilden die „flogging cullies‘^ d. h. die
Liebhaber der passiven Flagellation entschieden die Mehr¬
zahl der männlichen Flagellomanen. Dennoch kommen
auch aktive Flagellanten unter diesen vor und relativ
häufig verknüpft sich mit der Neigung zur passiven die¬
jenige zur aktiven Flagellation.
Das Treiben solcher männlichen Flagellanten wird
anscheinend nach wirklichen Thatsachen sehr anschaulich
geschildert in einem exquisit sadistischen Werke „The
Experimental Lecture of Colonel Spanker“ (London 1879)^).
Fs handelt sich um eine Gesellschaft aristokratischer
Flagellanten, die unter der Leitung des Oberst Spanker
ein Haus im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair am
Hyde Park gemietet hat, welches sie der Obhut einer
ehemaligen Kupplerin anvertrauen, die ihnen bei den hier
veranstalteten flagellantistischen Orgien Dienste leisten
und ihnen die auszupeitschenden jungen Mädchen be¬
schaffen musste. Anfangs wurden arme Mädchen von der
Strasse (Blumenverkäuferinnen u. a.) engagiert, die sich
gegen gute Bezahlung herbeiliessen, ihren Körper der
Flagellation darzubieten. Aber „der Mangel an allem
Gefühl und aller Schamhaftigkeit bei einem Mädchen von
so schlechter Erziehung bot eine ernste Unannehmlichkeit
dar. Der Ceremonienmeister war bei jeder Gelegenheit
gezwungen, seinen Zuhörern auseinanderzusetzen, inwie-
1) Derselbe Bericht findet sich fast gleichlautend in dem
„Midnight Spy“ S, 124.
Vergl. darüber P. Fraxi „Catena‘‘ S. 246 — 251;
Hansen „Stock und Peitsche“ S. 196—206.
448
fern die jungen Mädchen aus guter Familie die einzigen
seien, die die Schmach zu würdigen wüssten, blossgestellt
und gedemütigt zu werden, und zwar unter den Augen
von Personen ihres eigenen Geschlechtes, noch viel mehr
aber, wenn das in Gegenwart männlicher Personen ge¬
schehe. ‘‘
Demgemäss richtet sich die Begierde des Flagellanten¬
klubs auf die Beschaffung zarter, feingebildeter und vor¬
nehmer Mädchen, die womöglich niemals die Rute kennen
gelernt haben. Ein solches wird in der Person der Miss
Julia Ponsonby, einer jungen Arichokratin, durch die
Schliche der Kupplerin in das Haus in Mayfair gelockt,
in dessen „Lecture Hall“ umgeben von blühenden
Pflanzen, Fontänen, und anderem luxuriösem Zierrate ein
Apparat aus Mahagoni, der wie eine Leiter aussieht,
steht, an welchen die Opfer vor der Züchtigung angebunden
Averden. Hier empfängt Julia von dem Obersten die erste
Züchtigung und andere ,,dreadful liberties“. Am nächsten
Morgen wohnt er mit der Rute in der Hand ihrer
Toilette bei, die er aber nach einigen Rutenhieben nur
halb vollenden lässt, um sie unter weiteren Schlägen eine
Leiter besteigen zu lassen. Dann wird sie in einem
eleganten Ballkostüm der Gesellschaft der Flagellanten,
zu der sich auch einige maskirte Damen gesellt haben, vorge¬
stellt. Hierauf beginnt der Oberst seine Vorlesung, die er nur
ab und zu durch einige Hiebe, die er der unglücklichen
Julia verabreicht, unterbricht; er entwickelt seine Theorien
und erklärt die Geheimnisse der Flagellation, die dann
praktisch von der ganzen Gesellschaft an dem von ihnen
ausgekleideten Mädchen erprobt werden, wobei auch
Kneifen und Stechen mit Nadeln zu Hülfe genommen wird.
Dann muss Julia selbst die aufs „Pferd“ gebundene Miss
449
Debrette flagelliren. Nach weiteren indecenten Mani¬
pulationen beginnt erst die „flagellation in earnest“.
Julia wird wieder an die Leiter gefesselt und, während die
Gesellschaft sich mit schauderhaften Martergeschichten
unterhält, grausam gefoltert, indem sie nach einander mit
Brennesseln, Ochsenziemern, mit mit scharfen Stahlspitzen
besetzten ledernen Riemen, Reitpeitschen u. s. w. flagellirt
wird. Zuletzt wird sie brutal vergewaltigt.
„This book“ sagt ein englischer Bibliophile, „which
we can fairly assert is the most coldly cruel and unblush-
ingly indecent of any we have ever read, Stands entire-
ly alone in the English language. It seems to be the
wild dream, or rather nigthmare, of some vicious, nsed-up,
old rake, who, positively worn out, and his hide tanned
and whipped to insensibility by diurnal Üogging, has
gone mad on the subject of beastly flagellation. ‘‘
Männliche Flagellanten, die die active Flagellation
bevorzugen, werden in ähnlicher Weise wie in der
„Lecture of Colonel Spanker“ in einer anderen Schrift
geschildert: „The Convent School, or Early Experiences
of a young Flagellant“ By Rosa Belinda Coote (London
1876), in der ebenfalls eine Frau von zwei Männern auf
die grausamste Weise flagellirt und gemartert wird.
Die sexuelle Flagellation und die brünstige Leiden¬
schaft für die Rute sind in England nicht bloss auf die
Bordellpraxis beschränkt, sondern treten in allen gesell¬
schaftlichen Verhältnissen hervor, wo sie eine bedeutend
grössere Rolle spielen oder gespielt haben als in andern
Ländern.
Vor allem kommen hier für die englischen
Schulen in Betracht. Zahlreich sind die Männer,
die uns Erinnerungen an ihre „school-miseries“ hinter-
29
450
lassen haben und die ihnen von ihren Lehrern zu Teil
gewordenen Züchtigungen zum Teil so anschaulich schildern,
dass wir daraus entnehmen können, dass sie selbst wie
ihre Zuchtmeister Vergnügen dabei empfunden haben.
So werden diese Flagellationen in der Schule erwähnt
von S.T.Coleridge (in den „Specimens of Table Talk“
Mai 27, 1830), von Charles Lamb (in den „Essays
of Elia,“ und den „Recollections of Christ’s HospitaT‘),
von Alexander Somerville (,,Autobiography of a
Working Man“ London 1848), Capel Loft (Seif For¬
mation, or the History of an Individual Mind“ London
1837), Oberst Whitethorn („Memoirs of a Cape
Rifleman“), Leigh Hunt u. a. m.
Weiteres reichliches Material für die Geschichte
der Flagellation in den englischen Schulen liefern viele
Romane, Erzählungen und andere Erzeugnisse der belle¬
tristischen Litteratur, die doch auch auf Erfahrung und
Beobachtung beruhen, wie z. B. Richard Head’s
„Englisch Rogue“, Fielding’s ,,Tom Jones“, Smollett’s
„Roderick Random,“ Kapitän Marryat’s „Rattlin the
Reefer,“ Charles Dickens’ „Nicholas Nickleby,“
Kingsley’s „Westward Ho.“ Eine sehr drastische
Schilderung von körperlicher Züchtigung in den Schulen
enthalten die Schriften „Settiers and Convicts“ (London
1847) und „Twelve Years a Slave“ (London 1853.) Frusta
bemerkt : „In England, dem klassischen Lande der Freiheit,
war das Peitschen, Geisseln und Prügeln von altersher
sehr im Schwange und ist es zur Stunde noch, trotzdem
dass es hier keine Jesuiten giebt. Die Hauserziehung
wird mit ungemeiner Strenge getrieben und die Flagel¬
lation bei beiden Geschlechtern angewendet. Am längsten
dauert sie bei dem männlichen Geschlechte. In den
351
■grossen Colleges standen vor noch nicht langer Zeit selbst
18 bis 21jährige junge Leute noch unter der Kute. — Die
Memoiren Trelawney’s, des berühmten Freundes von
Byron, liefern von dem Innern der englischen Schul¬
zucht in manchen Anstalten ein überraschendes Gemälde
und entheben jeder ferneren Ausführung.“^)
Lehrer wie Dr. Gill (Anfang des 17. Jahrhunderts)^)
-und Dr. Colet von der St. Paul’s Schule, Dr. Drury
und Dr. Vaughan in Harrow, Dr. Busby, Dr. Keate,
Major Edgeworth von Eton, der Rev. James Bowyer^)
von Christ’s Hospital sind, sprüchwörtlich geworden. Sie
scheinen es nämlich in Beziehung auf die Handhabung
•der Ruthe mit Edgar Allen Poe gehalten zu haben,
der da sagt: „Kinder sind zum Prügeln niemals zu weich.
Sie werden wie zähe Beefsteaks um so weicher, je mehr
sie geschlagen werden,“ oder mit Lord Byron, der in
„Don Juan“ (Canto H, Stanza I) die Schulmeister ermahnt:
Frusta a. a. 0. S. 254. — Vergl. auch Delolme a.
a. 0. S. 69 — 70 mit Citaten aus den Werken der Dichter
F i e 1 d i n g und Gay und den Versen :
The School-boy’s desire is a play-day,
The Schoolmastes joy is to flog.
2) Vergl. „Gill upon Gill, or Gill’s Ass uncased,
nnstript, unbound“ London 1608; ferner Davenant „On
Doctor Gill, Master of Paul’s School“.
3) Als der Dichter Coleridge von dem Tode seines
alten Lehrer Bowyer hörte, bemerkte er, dass es ein Glück
wäre, dass die Cherubim, die ihn zum Himmel geleiteten, nur
aus Kopf und Flügeln beständen. Denn sonst würde er sie
unlehlbar bei Seite geprügelt haben. Vergl. W. H. Blanch
„The -Blue Coat Boys“ London 1877 S. 90 (mit einem Bilde,
welches die verschiedenen Grössen und Gewichte der in Eton
und in Christ’s Hospital gebrauchten Ruten zeigt). Hierin
auch Anekdoten von Lamb und Leigh Hunt. Die obige Ge-
jschichte hat man auch von Dr. Busby erzählt.
29*
Oll ye, wlio teacli tlie ingenuous youth of nations;.
Holland, France, England, Germany, or Spain,
I pray ye flog them upon all occasions.
It mends there morals, never mind the pain.
Die Westminster Schule war seit alter Zeit herüchtigk
NachCooper^) wurde dort nicht eine Birkenruthe gebraucht,,
sondern eine solche aus Apfelbaumzweigen, die in einem,
hölzernen Griffe steckte. Zwei Junioren bekleiden das-
Amt der „Ruthenmacher“ und müssen die Schule mih
Ruthen versorgen. Der Erfinder der Westminsterruthe-
soll Dr. Bacher gewesen sein, der von 1454 — 1487 an¬
der Schule thätig war. Bei der Züchtigung musste der*
Deliquent auf einem Blocke niederknieen,. das Gesäss-
wurde entblösst, und der Lehrer zog ihm vier Streiche-
über, den sogenannten „Schrubber“, oder auch sechs-
Streiche, den „Biblischen.“
Die beiden bekanntesten Schulflagellanten der West¬
minster Schule waren Dr. Busby und Dr. Vincent..
Busby’s Rute war das ,,Sieb, das den Weizen der
Gelehrsamkeit von der Spreu trennt“^) Vincent’s Zeit
war fast so schlimm wie Busby’s ,, Schreckensherrschaft“. .
Cooper berichtet: „Er begnügte sich nicht mit dem
vorgeschriebenen Strafen, sondern ohrfeigte die Knaben
und kniff sie. Golem an lehnte sich dagegen auf und-
sagte, dass ein Pädagoge das Recht hätte, seinen Schüler
an der passenden Stelle rot zu färben, dass er aber kein
Recht habe, ihn mit den Fingern braun und blau zm
kneifen. Unter Vincents Vorsteherschaft gründete die^
Schule eine Zeitschrift, die der „Flagellant“ genannt.
1) Cooper a. a. 0, S. 137.
2) ibidem S.. 136.
453
^wurde und dk seinen Zorn so reizte, dass er gerichtlich
:gegen den Verleger einschreiten wollte. Da trat Southey,
•der ihn auch in einem Artikel lächerlich gemacht hatte,
auf und bekannte sich als Urheber, so dass Vincent
den Schülern nichts anhaben konnte.
Ein eigentümlicher Flagellant von Westminster School
•war Dr. Parr. Sein Rutenlieferant war ein Mann, den
man vom Galgen abgeschnitten und ins Leben zurück-
;gerufen hatte. Von diesem nahm Parr die Ruten stets
>mit einem „wohlgefälligen Lächeln“ in Empfang.^)
Gewiss hat die Züchtigungspraxis von Westminster
-School zahlreiche Flagellomanen gezüchtigt. Schon ein
Dichter des 17. Jahrhunderts, Thomas Shadwell spielt
in seiner Komödie „The Virtuose“ (Act 4) darauf an.
'Der alte Lebemann Snarl, der ins Bordell kommt, um
-sich flagelliren zu lassen, wird von dem Mädchen gefragt:
„Ich wundere mich darüber, dass Euch etwas so viel Ver¬
gnügen macht, was mir sehr wenig gefällt?“ Darauf
antwortet er; „Ich wurde in Westmin ster School
so daran gewöhnt, dass ich seitdem nicht mehr davon
(lassen konnte“.
Hiermit dürfte auch die grenzenlose Sittenlosigkeit
und geschlechtliche Freiheit Zusammenhängen, die nach
Hüttner^) im 18. Jahrhundert in Westminster School
-und in Eton herrschten.
In letzterer Schule wurde bezeichnender Weise jedem
Knaben eine halbe Guinee für Ruten in Rechnung gestellt.
Hier waltete seit 1809 der berühmte Dr. Keate mit uner-
1) ibidem S. 137.
2) ibidem.
3) Hütt n e r „Sittengemäide von London“ S. 188 — 189; S. 192.
454
bittlicher Strenge ein Vierteljahrhundert lang seines Amtes^
über dessen ins Masslose gehende Leidenschaft für das
Prügeln zahlreiche Geschichten in der zeitgenössischen und
späteren Litteratur zu finden sind. Er kannte, wie es in
einer Anekdote heisst, die Posteriora seiner Zöglinge besser
als ihre Gesichter.^)
Sogar an den Universitäten war bis zum 18. Jahr¬
hundert die körperliche Züchtigung der Studenten üblich..
Mil ton und Johnson sollen beide coram publico auf
diese Weise bestraft worden sein.^)
Der „Prügelbock‘‘ und das „Prügelpferd“ spielten bei
diesen Züchtigungen eine grosse Kolle. T h a c k e r a y ^):
berichtet über die Züchtigungen, die der Dichter Steele
in der alten Charter School bei Smithfield erdulden musste ;
,,Er war sehr faul. Er bekam Verdientermassen sehr
häufige Schläge. Obgleich er selbst recht gute Anlagen
besass, liess er doch durch Andere seine Aufgaben anfertigen
und gab sich gerade nur so viel Mühe als für ihn hinreichte,,
um sich durch seine Uebungen durchzuschleichen und mit
Hülfe des Glücks dem Prügelbock zu entgehen. Hundert
und fünfzig Jahre später habe ich selbst, jedoch nur als
Liebhaber, jenes noch bestehende und gelegentlich in
Gebrauch gesetzte Instrument einer gerichtlichen Tortur
in einem abgelegenen Privatzimmer der alten Charterhaus¬
schule besichtigt und zweifle nicht, dass es die genaue
Nachbildung, wenn nicht gar die interessante Maschine¬
seiber war, auf welcher der arme Dick Steele sich seineni
Quälern unterwarf.“
Vergl. C 0 0 p e r a. a. 0. S. 138.
2) ibidem S. 139 — 140.
3) W. M. Tliackeray „Englands- Humoristen“. Hamburg
1854 S. 116—117.
455
Nicht weniger als in den Knabenschulen wütete die
Kute inden Mädchenschulen, den sogenannten „Boarding
Schools“ und in den Mädchenpensionaten.
Diese ,, Ladies’ boarding schools“ existiren in England
seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, scheinen aber schon
damals einen schlechten Ruf in Hinsicht der Erziehungs¬
methode genossen zu haben. Schriftsteller jener Periode
greifen bereits die dort übliche Züchtigung der jungen
Mädchen auf das blosse Gesäss und die notwendig daraus
entspringenden lasterhaften Gewohnheiten auf das Schärfste
an.^) Wiliam Alexander klagt über die frivole Er¬
ziehung der Mädchen in diesen Kostschulen. Die Vor¬
steherinnen dieser überaus zahlreichen „Academies for
young Ladies“ hatten in den meisten Fällen ein unbedingtes
Verfügungsrecht über Geist und Körper der ihnen von
dem Adel und den reichen Bürgern anvertrauten Mädchen
und nutzten dies weidlich und in skrupelloser Weise aus.
Wie es in den englischen Mädchenschulen im 18. Jahr¬
hundert zuging, erfahren wir aus mehreren interessanten
Berichten bei Cooper. So heisst es in dem Tagebuche
der Lady Frances Pennoyer von Bullingham Court in
Herfordshire unter dem 2. Januar 1766: „Ging zur Schule,
wie ich mir vorgenommen, und traf Dr. Aubrey unter-
wegs. Fand die Schulmädchen alle versammelt, und die
Lehrerin sah ängstlich aus. Ist ein junges hübsches
Mädchen, aber ich glaube, zu hübsch für solche Stellung.
Dr. Aubrey ging mit hinein, versicherte mich, er hätte
in höheren Töchterschulen manche Rutenstrafe mit erlebt
und freute sich, als die Mädchen rot wurden. „Das wäre
L Malcolm „Anecdotes of the Manners aad Customs
of London“ London 1810 Bd. I S. 328.
2) W. Alexander „Ilistory of Women“ Bd. I. S. 48.
456
eine wohlanständige Bescheidenheit“, sagte er. Die beiden
Mädchen, die Schläge bekommen sollten, waren von der
Lehrerin vorbereitet. Sie knieten nieder und baten um
Verzeihung. Freute mich, wie artig sie die Strafe hin-
nahmen, die ich selbst ausführte, um der Lehrerin zu
zeigen, wie man die Kute am besten führt.“ i)
Cooper teilt ferner den Brief einer englischen Dame
über ihre Erziehung in einem Mädchenpensionat am Ende
des 18. Jahrhunderts mit. Die Briefschreiberin erzählt
u. a. : „Damals nahm das viele Schlagen in den Mädchen¬
schulen schon ab, aber Miss P o m er oj glaubte noch fest
daran und übte es reichlich aus. Wenn eine von uns
sich ein Vergehen hatte zu schulden kommen lassen (und
Du würdest Dich wundern, was für Kleinigkeiten damals
schon als Vergehen angesehen wurden !) und war würdig
erachtet, Schläge zu bekommen, so musste sie an das
Pult der Lehrerin treten und nach einer tiefen Verbeugung
um die Erlaubnis bitten, die Rute holen zu dürfen. Die
Erlaubnis wurde erteilt, mit vielen Ceremonien, und sie
ging fort und kam wieder ohne Handschuhe und trug
die Rute auf einem Kissen. Dann kniete sie nieder und
präsentierte die Rute, die die Lehrerin nahm und ihr
einige Streiche damit auf ihre nackten Arme und Hals
versetzte. Es gab zwei Arten von Ruten : eine aus
Birkenzweigen und eine aus feinen Fischbeinstangen ge¬
macht und mit gewichstem Faden bewickelt. Beide
gaben schmerzhafte Streiche, aber die von Fischbein, die
wir unter uns „Soko‘^ nannten, wurde am meisten ge¬
fürchtet. Die Striemen waren wie von der neunschwänzigen
Katze und gingen tief in unser Fleisch. „Soko“ wurde
1) Cooper a. a. 0. S. 125 — 126.
457
für ernste Vergehen aufbewahrt, nanaentlich für jeden
Mangel an Respekt gegen die beiden Vorsteherinnen. Es
war eine besonders feine Schule, in der wir dreissig junge
Mädchen aufgenommen wurden und diese aus den ersten
Familien. Es war damals nichts Ungewöhnliches, dass die
jungen Mädchen bis zum achtzehnten oder neunzehnten
Jahre in der Schule blieben, bis sich eine gute Heirat
für sie gefunden hatte, oder bis eine ältere Schwester
heiratete und ihr den Platz frei machte, dass sie auch in
die Welt eingeführt werden konnte. Aber jung oder
alt, keine konnte der Rute entgehen, wenn Miss
Pomeroy sie ihr zugedacht hatte. Es gab so viel
Züchtigungen in Regent House, dass auch die eifrigsten
Anhänger des Sprüch Wortes : „Die Rute schonen heisst
das Kind verwöhnen“ damit zufrieden gewesen wären. —
Es gab zwei oder drei Grade von ernster Züchtigung.
Der erste war in Miss Pomeroys Zimmer, wo nur sie
und das Dienstmädchen dabei waren. Der zweite war
die öffentliche Vorbereitung für die Strafe, vor der ganzen
Schule, der dann aber die Verzeihung folgte, und der
dritte war die öffentliche Vollziehung der Strafe. An das
einzige Mal, als ich Schläge in Miss Pomeroys Zimmer
bekam, erinnere ich mich noch, als ob es gestern gewesen
wäre, solche alte Frau, wie ich doch jetzt schon bin!
Mir wurde feierlich befohlen, die Rute in ein Zimmer
zu tragen, das die Vorsteherinnen ihr Studierzimmer
nannten. Dort fand ich die beiden Damen und kniete
vor ihnen mit der Rute nieder, die die ältere Dame mir
abnahm und — wie mir schien — ordentlich zärtlich
durch ihre Finger gleiten Hess. Dann klingelte sie und
befahl dem Dienstmädchen, mich vorzubereiten. Dies ge¬
schah, indem sie ganz einfach meine Kleider in die Höhe
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zog und meine Hände festhielt. Ich erschrak fürchterlich,
denn ich hatte nie in meinem Leben Schläge bekommen,
und die Scham über dies Verfahren überwältigte mich
so, dass ein heftiger hysterischer Anfall d